Cthulhu Archive – Dennis Schmolk https://dennisschmolk.de/tag/cthulhu/ Kontakt: dennis@dennisschmolk.de Mon, 03 Jun 2024 09:28:26 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.2 https://dennisschmolk.de/wp-content/uploads/2023/08/cropped-oKajK5kXZmHLTZso5N5C-1-2mlpj-32x32.png Cthulhu Archive – Dennis Schmolk https://dennisschmolk.de/tag/cthulhu/ 32 32 Der Ortsname „Arkham“ und Studienendlektüren https://dennisschmolk.de/2024/04/30/der-ortsname-arkham-und-studienendlektueren/ https://dennisschmolk.de/2024/04/30/der-ortsname-arkham-und-studienendlektueren/#comments Tue, 30 Apr 2024 13:28:03 +0000 https://dennisschmolk.de/?p=6131 Mit rasenden Schritten nähert sich das Sabbatical, und damit auch diese Blog-Kategorie, seinem Ende. Das Prüfungsamt hat inzwischen den vollständigen und erfolgreichen Eingang meiner Masterarbeit quittiert, sodass ich jetzt Däumchen drehen könnte. Das fällt mir aber unfassbar schwer, zumal ich schon jetzt dem Sabbatical, dem Studium und den Studienlektüren nachtrauere. Dem Sabbatical voran ging ja eine umfangreichere „Lovecraft Studies“-Recherche über Mythos-Musik, und damit geht es jetzt ein bisschen weiter. Ich ... Mehr

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Mit rasenden Schritten nähert sich das Sabbatical, und damit auch diese Blog-Kategorie, seinem Ende. Das Prüfungsamt hat inzwischen den vollständigen und erfolgreichen Eingang meiner Masterarbeit quittiert, sodass ich jetzt Däumchen drehen könnte. Das fällt mir aber unfassbar schwer, zumal ich schon jetzt dem Sabbatical, dem Studium und den Studienlektüren nachtrauere.

Dem Sabbatical voran ging ja eine umfangreichere „Lovecraft Studies“-Recherche über Mythos-Musik, und damit geht es jetzt ein bisschen weiter. Ich habe nämlich endlich den neuen „Arkham Horror LCG“-Band „Welcome to Arkham: An Illustrated Guide for Visitors“ geliefert bekommen. Das warf bei mir die Frage auf, was denn der Ortsname von Arkham eigentlich „bedeutet“. Und auch ansonsten waren die letzten Tage stark lektüregeprägt, abgesehen von einer sehr schönen Aufführung von „Lucia die Lammermoor“ in der Leipziger Oper. Ich füge ein paar Lektürenotizen an (das ist übrigens auch recht praktisch, wenn man später mal nachgucken will, wann man was gelesen hat).

Passend zur Walpurgisnacht fangen wir natürlich mit dem Thema Arkham an.

Das Oikonym „Arkham“ – der Ortsname und mögliche Etymologien

Arkham ist einhelliger Forschungsmeinung zu Folge Lovecrafts fiktionalisierte Fassung von Salem (etwa im Eintrag in Schultz/Joshis Enzyklopädie). Bei Dan Harms (Cthulhu Mythos Encyclopedia) finden wir:

Its name might derive from that of the Arkham family, who numbered among the town’s first inhabitants.

Wie aber kam Lovecraft auf den Namen „Arkham“? Das ist offenbar nicht überliefert. Aber man kann ja etwas graben und spekulieren.

Was meint das „Ark-„?

Die Endung „-ham“, wie in „Nottingham“, lässt sich eindeutig als „-heim“ übersetzen. „Ark“ ist etwas komplizierter. Hier bieten sich folgende Ansätze an:

  • von lat. arcus: Bogen. Allerdings findet sich bei Lovecraft nach meiner Erinnerung keine besondere Häufung von (architektonischen) Bögen in Arkham — Bögen erinnern mich eher an die Häuser in der Rue d’Auseil.
    • über das Dänische: (ein Bogen) Papier. Dann wäre tatsächlich „Bogenheim“ oder „Papierheim“ vor allem der Hort der mysteriösen Orne Library der Miskatonic University; allerdings ist diese Bibliothek deutlich jünger als Arkham.
  • arch-, von lat. archi.: das Erste, Beste, Vorderste, Älteste. „Ältestenheim“ klingt nicht besonders überzeugend, daher vielleicht „Heim des oder der Ältesten“?
  • von altengl. earg bzw. germanisch arg: böse, feige. Wir wären also im „Heim des oder der Bösen“ — das scheint mir etwas zu platt. (via reddit)
  • von altnordisch erg, von gälisch airigh: Bergwiese, Alm. Das ergibt für mich aber keinen Sinn — auch wenn Lovecraft schrieb, Arkham sei „more hilly“ als Salem. (via reddit bzw. einem Paper von Geoffrey Leech der Lancaster University folgend)
  • von lat. arca: eine Lade, Kiste, Truhe (Bundeslade = ark of the covenant), übertragen dann auch die „Arche Noah“ (Kasten, als Übersetzung von hebr. tēvāh = Kasten). Ich halte es aber für eher unwahrscheinlich, dass Lovecraft hier tatsächlich einen Zusammenhang mit der Bundeslade andeuten wollte – dazu war er den abrahamitischen Religionen zu fern. Natürlich könnte hier aber auch eine übertragene Bedeutung im Sinne „Die Stadt, die ein Mysterium birgt“ liegen.

Bei Schultz/Joshi lesen wir weiter:

Fictitious city in Massachusetts invented by HPL. […] Will Murray has conjectured that Arkham was at first situated in central Massachusetts and that its name and possibly its location were derived from the tiny hamlet Oakham. Research by Robert D. Marten makes this theory extremely unlikely. Marten maintains that Arkham was always located on the North Shore and (as HPL repeatedly declares) was a fictional analogue of Salem. […] Marten conjectures that the name Arkham was based upon Arkwright, a town in R.I. now consolidated into the community of Fiskville.

Vielleicht klingt’s einfach gut …

Bei der von Murray vorgeschlagenen Ableitung von Oakham in Worcester County wäre dann die Frage, wieso Lovecraft die phonetische Annäherung mit dem eher ungebräuchlichen englischen Buchstaben „k“ wählte – vielleicht als Antikisierung? Oder weil er das „k“ aus „Oak-“ übernehmen wollte? Dafür spräche, dass er dieses „k“ auch im Namen des Flusses einführt, der Arkham durchfließt, aber mit fiktiven indianischen Wurzeln: „Lovecraft described the word ‚Miskatonic‘ in a letter as ’simply a jumble of Algonquin roots‘ that he had invented.“ Bezüglich Marten: Da sich der Name von Arkwright, RI von einer Firma namens Arkwright ableitet, was wiederum „Kisten-Hersteller“ bedeutet, würde das für die Herleitung von arca sprechen (was HPL möglicherweise gar nicht wichtig oder bewusst war).

Ich neige nach dieser Sichtung dazu, anzunehmen, dass Lovecraft einfach einen altertümlich klingenden, griffigen Namen gewählt und nicht weiter über die Etymologie des Präfix „Ark-“ nachgedacht hat. Die Herleitung von „arca“ scheint mir aber am stimmigsten, wenn man denn versucht ist, den Namen zu deuten.

Welcome to Arkham: An Illustrated Guide for Visitors

Mit vollem Titel heißt der aufwendig gestaltete Band „Welcome to Arkham: An Illustrated Guide for Visitors to the Historic Town of Arkham, Massachusetts, and Environs Including Dunwich, Innsmouth and Kingsport“. Es geht also um die wesentlichen neuenglischen Schauplätze der Mythos-Geschichten und damit auch vieler AHLCG-Szenarien. Eins vorweg: Dieses Buch ist ganz klar Teil des Arkham-Horror-Files-Universums (AH) und trägt zu dessen Worldbuilding bei; wer eher nach Supplements fürs Rollenspiel sucht, wird hier fündig:

  • CoC (Chaosium): Arkham-Band oder das ältere „Arkham Unveiled“
  • Cthulhu (Pegasus): „Arkham – Hexenstadt am Miskatonic“ (vergriffen)

Interessanterwese fehlt dem Buch (bzw. seinen Kapiteln zu Arkham, der Miskatonic University, Dunwich, Kingsport und Innsmouth) übrigens etwas, was jeder Rollenspiel-Quellenband (und jeder „echte“ Reiseführer) ganz an den Anfang gerückt hätte: Stadtpläne. Es kommt tatsächlich keine Karte im ganzen Buch vor. Das finde ich bemerkenswert – es ergibt aber Sinn, weil man fürs AH-Kartenspiel keine Karte braucht und beim AH-Brettspiel ja das Spielbrett die Karte ist. Aber kommen wir zum Inhalt.

Inhalt

Das 176 Seiten starke Buch versucht mehrere Sachen parallel. Einerseits ist es ein Stadtführer, herausgegeben von der Historical Society (die schon bei Lovecraft auftaucht, aber dann bei CoC und später AH ausgebaut wurde). In diesem „Basis-Text“ finden sich Fakten zur Region, zu Organisationen, Lokalen, mysteriösen Stätten. Dieser „Basis-Text“ ist gut zu lesen, unterhaltsam, spannend und bietet ein paar neue Details und Mysterien für die AH-Welt.

„Über“ diesem Text liegt die Anreicherung durch eine Geschichte: Eine Miss Todd sucht ihren Onkel, Reginald Peabody (der Name Peabody, auch als Pabodie, spielt eine Rolle bei Lovecraft, u.a. in „At the Mountains of Madness“). Dieser ist verschwunden, wie wir ins Buch „eingehefteten“ Briefen, Notizen, Vermerken entnehmen können. Auf ihrer Suche stößt sie u.a. immer wieder in verschiedenem Umfang auf AH-Charaktere – und zwar auf ziemlich viele. Das haben die Herausgeber genutzt, bei einigen Charakteren auf schmerzlich vermisste Hintergrundgeschichten einzugehen. In unserem aktuellen Marsch durch die „The Feast of Hemlock Vale“-Kampagne spiele ich z.B. Kōhaku Narukami, der erst mit dieser Kampagne ins AH-Universum eingeführt wurde. Auf ca. 10 Seiten des „Illustrated Guide“ wird auf dessen vergleichende Folkloreforschung eingegangen, sodass ich ihm nun endlich ein bisschen näher kommen kann.

Abgerundet wird das Ganze durch Pseudo-Handouts wie Theaterkarten, Poster, Fotografien, die allesamt sehr stimmungsvoll geraten sind. Auch Querverweise auf Kampagnen und Einzelszenarios fehlen nicht. Das physische Buch ist besser gearbeitet als der Band „The Investigators of Arkham Horror“ (2016) – letzteres hatte sich bei meiner initialen Lektüre schneller den Rücken gebrochen als Batman. Dafür fehlt dem „Illustrated Guide“ leider ein Index. Naja.

Fazit

Für Arkham-Horror-Files-Enthusiasten eine unverzichtbare Lektüre.

Der König in Gelb (Levin Handschuh)

Von meiner geliebten Lovecraft Gesellschaft mitherausgegebenes „Theaterstück für daheim“. Eigentlich hatte ich 2020 die Aufführung der Studiobühne Erlangen angucken wollen; das verhinderte dann aber eine damals noch apokalyptisch anmutende Pandemie. Schade. Nun gibt es das (?) Theaterstück als Buch, mittels dessen man das berühmteste wahnsinnig machende Drama der Weltgeschichte ganz privat bei sich zu Hause inszenieren kann. Aus der Pressemitteilung:

Der König in Gelb ist ein von der Deutschen Lovecraft Gesellschaft herausgegebenes interaktives Buch, bei dem der:die Leser:in selbst zur Hauptfigur wird: Das Drama, das sich um Prinz Aldones von Alar, seine Verlobte Cassilda und den Fremden in der fahlen Maske in einer von den Wassermassen eines uralten Gottes verschlungenen Stadt entfaltet, ist nur der Anfang einer Reise in seltsame Welten, durch die zahlreiche Pfade führen. Dieses Buch verlangt ,anders gelesen zu werden. Welchen Weg wird die Handlung einschlagen, wenn man für die Figuren eine Entscheidung trifft? Welche seltsamen Geschehnisse lassen sich aus den Notizen eines wahnsinnig gewordenen Regisseurs zusammensetzen? Was für unheimliche Botschaften verstecken sich in den Illustrationen und Skizzen? Welche geheimnisvolle Musik ertönt beim Anstimmen der absurden Choräle? Und was passiert, wenn man das Buch völlig auseinandernimmt und etwas Neues daraus erschafft? Jede:r Leser:in findet einen anderen Weg durch das Buch – und es wird nie derselbe sein!

Und genau das erwartet einen dann auch: Ein Drama mit Regieanmerkungen und hermetischen Fußnoten; Anweisungen, wie man das Buch be- und misshandeln kann; eine Hintergrundgeschichte, wie Autor Levin Handschuh an das Manuskript kam und was ihm bei den Recherchen widerfuhr; Exkurse zur weeeeeeeeiiiit unterschätzten Bedeutung des Haïta-Kults für unsere Kulturgeschichte; jede Menge Partitur; und, und, und. Ich bin noch nicht fertig mit der nonlinearen Lektüre, aber es ist ein Spaß, auch wenn ich z.B. der partiellen Strukturierung des Buches anhand des kabbalistischen Baums des Lebens nicht so viel abgewinnen kann — das wirkt mir zu bemüht nach Shea/Wilson (Illuminatus!) bzw. Eco (Das Foucault’sche Pendel). Oder steckt da ein Code drin …?

Man kann und sollte das als Bundle (neudeutsch: „Bündel“) mit zwei Büchern und 3 Tarot-Karten kaufen.

Kleinere Lektüren: Agota Kristof, Ingolfur Blühdorn usw.

Ansonsten ein paar kurze Lektürehinweise:

Ágota Kristóf: „Das große Heft“

Ein harscher Kontrast von lakonischer Darstellung und brutalem Dargestelltem. Empfehlung von Gesa Lindemann in einem Soziopolis-Interview. Ich habe die Folgebände nun auf Halde liegen, der zweite fängt vielversprechend an – andere Perspektive, aber vergleichbarer Tonfall.

Unhaltbarkeit von Ingolfur Blühdorn

Ebenfalls durch Empfehlung von Soziopolis.

Der Grundgedanke ist schnell skizziert und findet sich eigentlich schon im Klappentext: Nicht unsere Lebensweise ist unhaltbar, sondern die aufklärerische und ökologisch-emanzipatorische Wertebasis, auf deren Grundlage wir diese Lebensweise kritisieren. Leider ist dieser Grundgedanke, den man in 80 Seiten umfassend ausdeuten könnte, auf 360 Seiten ausgewalzt. Und das führt zu erheblichen Redundanzen, auch wenn Blühdorn Kapitel 7.1. mit der Feststellung einleitet, man solle „unnötige Wiederholungen“ vermeiden. Alle paar Seiten bekommt man das Gefühl, einer nur unwesentlich paraphrasierten Fassung des Kerngedankens zu lauschen. Schlimmer aber ist, dass ich immer wieder das Gefühl habe, hier tänzelt die Wiederholung nur um einen heißen Brei, weil etwas Wesentliches eben noch nicht gesagt ist.

Das soll nicht schmälern, dass das Buch eine umfassende Kritik an Ulrich Becks Modernisierungstheorie liefert und auch ansonsten mit vielem ins Schwarze trifft. Aber: Was bedeutet das nun? Wenn es kein Abgesang auf die „haltlosen“ bzw. „unhaltbaren“ Werte sein soll (die ich einfach mal als „humanistische“ Werte bezeichnen würde, da sie Gleichheit, Menschenwürde und Co. expliziert mitführen) — was dann? Leider gibt es auch keine Kritik am Konzept von Werten an sich, sodass ich nach der Lektüre das Bedürfnis habe, dazu nochmal mehr zu lesen. Blühdorn scheint einige soziologische Erkenntnisse zu ignorieren; etwa, dass an (moralischen) Werten auch kontrafaktisch festgehalten wird. Genau das zeichnet sie ja aus. Und auch empirisch ist das alles angreifbar (ob etwa junge Leute, wie auf S. 338 erwähnt, optimistisch sind, muss offen bleiben — andere Studien finden das Gegenteil heraus).

Fazit: Man kann das Wesentliche aus diesem Youtube-Vortrag mitnehmen und sich die Lektüre sparen.

Johan Idema: How to visit an art museum

Schon vor Jahren geschenkt bekommen (Danke, S.!) und schon öfter durchgeblättert, aber erst jetzt wiederentdeckt und front to back gelesen. Das Buch wird Museumsmuffel nicht zu Dauerbesuchys machen (dafür müsste man sie vermutlich an die Hand nehmen), aber für Museums-Fans stecken ein paar nette Ideen drin — und vor allem viel Bestätigung für die Sachen, die man selber schon immer an Museen gern verändert hätte. Sollte eine Pflichtlektüre für Museumspersonal werden!

Ted Gioia: The History of Jazz

Das steht als nächstes auf der Lektüreliste, d.h., ich bin für ein paar Monate beschäftigt. Over and out.

PS: Es gibt übrigens eine Playlist mit allen (?) Songs im Buch.

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Rezension: The Sinking City (Videospiel) https://dennisschmolk.de/2024/01/31/rezension-the-sinking-city-videospiel/ https://dennisschmolk.de/2024/01/31/rezension-the-sinking-city-videospiel/#comments Wed, 31 Jan 2024 11:27:04 +0000 https://dennisschmolk.de/?p=5651 The Sinking City (TSC) ist ein cthuloides Open-World-Ermittlungsspiel in einer überfluteten Stadt. Der Titel befindet sich schon seit vielen Monaten in meiner Steam-Library, aber ich hatte zu viel anderes um die Ohren. Zum Glück, denn gerade wird das Spiel wohl umfassend gepatcht — und die bisherigen Spielstände sind nur noch einige Monate nutzbar: We are happy to announce that the latest version of the Sinking City is out now on ... Mehr

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The Sinking City (TSC) ist ein cthuloides Open-World-Ermittlungsspiel in einer überfluteten Stadt. Der Titel befindet sich schon seit vielen Monaten in meiner Steam-Library, aber ich hatte zu viel anderes um die Ohren. Zum Glück, denn gerade wird das Spiel wohl umfassend gepatcht — und die bisherigen Spielstände sind nur noch einige Monate nutzbar:

We are happy to announce that the latest version of the Sinking City is out now on Steam, free for all existing owners. Please keep in mind that your old saves aren’t compatible with this version, but you can keep playing the old one until Feb 28, 2024.

Das ist an sich natürlich ein Unding und macht mal wieder klar, dass man Medieninhalte heute nicht mehr kauft, sondern nur lizenziert, und dass einem all die schönen Spielsachen mit einem DRM-Streich jederzeit wieder genommen werden können. Für mich generell ein Grund, keine Inhalte zum vollen Preis zu erwerben, sondern stets auf einen 90%-Deal zu warten …

Außerdem gab es rund um das Spiel erhebliche Differenzen zwischen Entwickler und Vertrieb; die Gamestar (gibt’s noch!) hat das nachgezeichnet. Irgendwie auch unglaublich, dass in den 2020ern so ein Business-Streit auf dem Rücken der Spielerinnen ausgetragen wird. So, Rant beendet.

Hintergrund

Ob Jesus uns hilft …?

Der Protagonist reist nach Oakmont, Mass., um seinen seit dem Krieg immer schlimmer werdenden Halluzinationen beizukommen — Laudanum reicht nicht mehr, wie das Nachtkästchen seines Hotelzimmers beweist. Oakmont ist überflutet und von der Außenwelt abgeschnitten, und hier schwelen endlose Konflikte: vor allem zwischen

  • den seit „Ewigkeiten“ Angestammten (also Nachfahren europäischer Einwanderer, inklusive Affenmenschen, religiöser Kulte und einem KKK-Ableger),
  • den vor einiger Zeit nach dem „Raid“ des FBI auf Innsmouth angesiedelten „Innsmouthers“ (klassische Hybride in verschiedenen Stadien),
  • „Newcomern“ (wie uns) und
  • Übernatürlichem, am häufigsten präsent als „Wylebeasts“, teils humanoide Half-Life-Monster.
Soziale Spannungen äußern sich auch in Karikaturen.

Die Stadt hat auch einen eigenen Dialekt: „kay“ ist Gott, „ve’ra“ bedeutet so viel wie „sicherlich, okay“, „droch“ ist „drek“ oder Mist, „mair“ ist das Meer usw. Der Dialekt beschränkt sich aber auf wenige Begriffe, die man auch aus dem Kontext erschließen kann — ich hatte den Eindruck, hier wäre mehr drin gewesen.

Atmosphäre

Vieles ist nett gemacht.

Ich würde die Atmosphäre mit der von „Stygian“ vergleichen, nur nicht ganz so post-apokalyptisch. Es existiert noch so etwas wie Gesellschaft, aber echte „Zivilisation“ ist nahezu unerreichbar weit weg. Geld ist nichts mehr wert, man tauscht Naturalien (v.a. Alkohol und Patronen). Auch der herrschenden Klasse geht es nicht gut, aber deutlich besser als den Fischern, Bettlern und Kultisten von nebenan. Das ergibt eine von natürlichen und übernatürlichen Gefahren geprägte Wild-West-Stimmung, und das unterscheidet schon die ersten Spielminuten von „Call of Cthulhu“ (2018) und den „Darkness Within“-Teilen. Dort ist alles (zunächst) deutlich zivilisierter. (Weitere Parallele: Darkness Within lässt einen genau wie TSC regelmäßig im eigenen Hotelzimmer aufwachen …)

An einigen Stellen war mir nicht klar, ob die Entwickelnden den Mythos ernst genug nehmen …

So richtig nach „Open World“ fühlt sich das Spiel im Übrigen nicht an, dazu ist alles etwas zu klar und linear. Man kann Side-Quests folgen und die Stadt angucken, aber „erkunden“ ist fast zu viel gesagt. Denn die meisten Häuser sind nur Kulisse. Das liegt vielleicht an der Technik:

As the scope of this made handcrafting the entire town unfeasible, Frogwares turned to Unreal Engine 4 and followed the example of city generation techniques pioneered in Assassin’s Creed to create entire blocks of Oakmont at once through procedural generation. (Wikipedia)

Gameplay

Das Ermittlungs-System funktioniert ein bisschen wie in „Darkness Within“, nur dass es hier funktioniert: Man kombiniert in einem separaten Menü (Case-Book und Mind Palace) Hinweise, zieht Schlüsse und kommt dann zu Ergebnissen, die einen auf neue Orte hinweisen. Manchmal muss man Ote besuchen oder in verschiedenen Archiven stöbern, um ein weiteres „Mind Palace“-Schnipselchen zu bekommen. Ich fand das weitgehend überzeugend gelöst; ich habe aber auch auf einem niedrigen Schwierigkeitsgrad gespielt, weil es mir mehr um Atmosphäre und die Geschichte geht als um eine Gaming-Herausforderung.

Die Mechanik (Hinweis finden, passendes Archiv aufsuchen, Ermitteln, nächsten Hinweis jagen) nutzt sich ein bisschen ab. Aber dafür entschädigen die teils skurrilen, teils spannenden Fälle.

Sanity baut sich nach einiger Zeit wieder auf, Gesundheit (die man durch Stürze, aber vor allem durch Kampf verliert) nicht — dafür braucht man First Aid Kits. Den meisten Kämpfen kann man allerdings aus dem Weg gehen oder notfalls entfliehen. Denn alle Monster, auch die schwächsten, bleiben eine gewisse Bedrohung. Das passt sehr gut zur Atmosphäre, auch wenn es ein bisschen mehr Varianz hätte sein dürfen.

Die Skills sind eher Nice-To-Haves; vor allem dienen sie dazu, dass man mehr Material und Munition herumschleppen kann, manches auch erhöhtem Schaden. Aber ich habe oft schlicht vergessen, „Knowledge Points“ auszugeben, was das System etwas sinnlos macht. Meine Reihenfolge:

  • beide XP-Booster (Mind-Tree)
  • Schaufel-Booster (Vigor)
  • alle Crafting-Booster (Mind)
  • einige Munitions-Upgrades (Vigor)
  • Waffen-Upgrades (Combat)

Reisen und Speichern

Es gibt mehrere Wege, zu reisen. Das meiste erledigt man per pedes. Dabei fällt auf, dass die Animationen irgendwie nicht fertig geworden sind; z.B. kann man dabei mehrere Gewehre und Pistolen, eine Schaufel und Materialien fürs Craften herumtragen, obwohl man nur Hemd und Hose trägt. Das ist genauso unrealistisch dargestellt wie die Taschenlampe, die einfach die Umgebung erhellt, ohne, dass man sie jemals in der Hand hat. Naja.

Woher kommt der Taschenlampen-Strahl?

Da die Stadt überflutet ist, muss man ab und an von den Füßen auf Boote umsteigen — diese Wasserreisen machen Spaß, zumal man dabei ein permanentes Gefühl der Verwundbarkeit hat, aber einem objektiv im Boot nichts etwas tut. Viele Ziele liegen an Mini-Häfen mitten in überfluteten Straßen. Das erhöht das Gefühl, ausgeliefert zu sein.

Bootfahren ist kostenlos dabei!

In jedem Stadtteil kann man zudem Telefonzellen entdecken, die als „Fast Travel“-Spots dienen; von jeder anderen Telefonzelle kommt man auf einen Sprung dorthin direkt zurück. Praktisch, ohne, dass man das Gefühl hat, dadurch Sightseeing-Value einzubüßen. Wichtig ist auch, dass man sich selber Marker auf der Karte setzt — etwa blockierte Durchgänge, interessante Häuser, für deren gefährliche Erkundung gerade keine Zeit ist etc.

Savegames sind etwas tricky: Man landet beim Laden nicht genau da, wo man gespeichert hat … sondern an einem passenden Wegpunkt in der Nähe. Eventuelle Ermittlungsergebnisse werden aber gespeichert … wenn man also einen Bösewicht stellt und zum Kampf fordert, dann aber im Kampf gegen ihn stirbt, landet man an der nächsten Telefonzelle. Betritt man seinen Unterschlupf wieder, bricht der Kampf erneut aus. Man kann sich dann nicht mehr entscheiden, einen „friedlicheren“ Weg zu suchen, die Situation zu lösen. Das ist insgesamt etwas hakelig (und ich glaube, auch buggy). Seid gewarnt!

Umgang mit Gleichheit, Rassismus, Moral

Diese Suffragette spielt aber nur eine kleine Nebenrolle – als Geisel …

Ein Teil des HPL-Horrors entstammt ja auch der repressiven Vorstellungen der damaligen (oder jeweiligen) Zeit. Wenn in AHLCG oder einem Spiel wie TSC dann plötzlich Race, Gender, sexuelle Orientierung, Atheismus kein Problem mehr sind, sondern auch (zumindest die guten) NSCs positiv darauf reagieren, ist das nicht nur a-historisch und anachronistisch, sondern verspielt auch einen Teil des Schreckens. Andererseits verstehe ich gut, dass man seine Freizeit nicht in einem homophoben, misogynen, christlich-frömmelnden, autoritären Universum verbringen will … ein Balanceakt.

Am Anfang warnt das Spiel, dass es mal Diskriminierung gab.

TSC baut gerade im Konflikt mit den „Innsmouthers“, aber auch z.B. mit Suffragetten-Postern diese Themenkomplexe ein, aber eher am Rande. Dadurch wird das nie störend, aber auch nicht besonders effektiv. Im Spiel tauchen wenige Frauen auf, die wesentliche Geschichte ist Männersache. Es gibt eine Reporterin, Passantinnen, Bibliothekarin, eine Geisel, eine Untote … und natürlich ist der Protagonist männlich. Naja.

Women work – women vote. Geht klar!
Auch in Sachen Lektüre wurde an die Frauen gedacht.

Kurz: Der Umgang mit Gleichheitsthemen wirkte eher als Ausschmückung, genauso wie viele der moralischen Entscheidungen, die man trifft. An manchen Stellen hat man auch gar keine Wahl, ein rassistischer Hard-Ass zu sein. Mit dem KKK kann man nicht verhandeln. Ist aber vermutlich auch gut so.

Weird.

Fazit

Coole Stories, wenn auch mythosseitig etwas überladen (Yellow King, Innsmouthers, Dagon, Shub-Niggurath, Hirnzylinder, H. West, …). Viele Entscheidungen fühlen sich nicht sonderlich wichtig an, man muss das eher ein bisschen wie einen narrativen Walking-Simulator sehen. Die Entscheidungen im Spiel trifft man für sich, und man kann tatsächlich mit einem Savegame alle 3 möglichen Enden angucken (muss dann aber jeweils die Credits ertragen).

Musste man den King in Yellow auch noch einbauen …?

Mechanisch ist das Spiel etwas redundant, aber für die Dauer des Spiels (knapp 25h mit einigen Nebenquests) kann man damit leben. Die Atmosphäre ist Geschmackssache, hat mir aber gut gefallen. Für Mythos-Fans auf jeden Fall einen Versuch wert, aber bitte nicht zum Vollpreis. Wer eine lebendige Welt erkunden will, greife nach wie vor einfach zu Morrowind.

4/5 Tentakeln.

Links

Easter Egg

In anderen Spielen sucht man die kleine Cthulhu-Statue, mit der sich das Team vor Lovecraft verneigt; hier verneigt man sich vor einer Badeente des Grauens:


Alle Bilder: Screenshots aus dem Spiel.

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Gender*in Games und Hausdrachen https://dennisschmolk.de/2023/07/05/genderin-games-und-hausdrachen/ https://dennisschmolk.de/2023/07/05/genderin-games-und-hausdrachen/#comments Wed, 05 Jul 2023 17:34:33 +0000 https://dennisschmolk.de/?p=4823 Da der dieswöchige Post zum Studium sonst zu lang wird, lagere ich diese kurzen Notizen zu Monstern einfach aus. Gender*in Games Im Nürnberger Pellerhaus findet noch bis 17.9. eine kleine Ausstellung zu „Gender*in Games“ statt. Zusammen mit 3 Spielys und einem Nicht-Spiely musste ich mir das natürlich mal angucken, um meinen Spiele-Schwerpunkt der Vorwoche fortzusetzen. Die Ausstellung liefert einen ganz hübschen Überblick über Thematisierungen von Geschlecht in Spielen, sowohl in ... Mehr

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Da der dieswöchige Post zum Studium sonst zu lang wird, lagere ich diese kurzen Notizen zu Monstern einfach aus.

Gender*in Games

Im Nürnberger Pellerhaus findet noch bis 17.9. eine kleine Ausstellung zu „Gender*in Games“ statt. Zusammen mit 3 Spielys und einem Nicht-Spiely musste ich mir das natürlich mal angucken, um meinen Spiele-Schwerpunkt der Vorwoche fortzusetzen.

Die Ausstellung liefert einen ganz hübschen Überblick über Thematisierungen von Geschlecht in Spielen, sowohl in Computer- als auch in Brett-, Karten- und Rollenspielen. Das Spektrum reicht von „Damsel in Distress“-Erzählungen im Computerspiel (Prince of Persia) über Rollenzuschreibungen (female soldiers, anywhere?) bis hin zur Sexualisierung von weiblichen Charakteren (Lara Croft). Auch mono- und heteronormative Standardbiographien („Spiel des Lebens“!!!) und vergeschlechtlichte Monster-Sterotypen werden angesprochen und durch Exponate veranschaulicht.

Weibliche Monster — und zu wenige Infos

Zu letzterem: U.a. wird Shub-Niggurath erwähnt, die dunkle Ziege mit den Tausend Jungen, in ihrer hermaphroditischen, aber als „Mutter“ und Fruchtbarkeitsgöttin eben doch weiblichen Gestalt. Die These: Weibliche Monsterdarstellungen neigen eher zum Ekel- und Körper-Horror, gerade in Bezug auf Gebären, Menstruation, Sexualität etc. Über den Aspekt hatte ich noch recht wenig nachgedacht (und Shub-Niggurath auch nie als besonders „weiblichen“ Great Old One wahrgenommen). Darüber muss ich also noch weiter nachdenken. Vielleicht ergibt sich daraus ein Thema für … irgendwas. Über „Cosmic Horror und Resonanz“ habe ich ja schon mal eine Kleinigkeit geschrieben.

Zu diesem und auch den meisten anderen Bereichen hätte ich mir insgesamt viel mehr Infos gewünscht. Z.B. wird die These aufgeworfen, dass die Farbzuordnung „Rosa gleich Mädchen, Blau gleich Junge“ eine recht junge Erfindung sei. Leider wird auch dieser Bereich nur angerissen. (Ich hätte das auf die Anfänge der Werbung und der „Freizeitindustrie“ geschoben, bin da aber nicht sicher.)

Stable Diffusion ist offenbar eher der Ansicht, Shub-Niggurath sei weiblich. Prompt: „Shub-Niggurath sinister“

Eine soziodemographische Grafik, gleich am Eingang platziert, erschloss sich mir auch nicht. Dort wurde die Zielgruppe (?) der „Spielerinnen und Spieler“ als geschlechtlich weitgehend paritätisch und als in der Altersstruktur „durchschnittlich 37“ dargestellt. Da fragt man sich: Was hilft das Durchschnittsalter …? (Außer, dass man weiß, dass es um einige Jahre gegenüber dem deutschen Durchschnitt von 44 Jahren nach unten abweicht.) Und noch wichtiger: Wie genau wird „Spiely“ gemessen? Fällt jemand darunter, der täglich Handy-Games zockt? Zwei Mal im Monat Skat? Drei Mal im Jahr Monopoly mit der Familie? Und kann man diese Leute über einen Kamm scheren?

Ein kleines Fazit

Wie gesagt findet ich, dass einiges fehlt (Stichwort Gamergate) und das wenigste ausreichend in die Tiefge geht. Insgesamt frage ich mich auch, ob sich viele Leute diese Ausstellung angucken, die noch nichts mit dem Thema zu tun hatten — ob die Ausstellung also bei der Sensibilisierung hilft. Ich kann es mir eigentlich kaum vorstellen — ich vermute, die meisten Besuchys werden eher Gamerinnen und Gamer sein, die sich schon mit Sex, Gender und Co. auseinandergesetzt haben. Und für die hält die kleine Sammlung nicht besonders viel Neues parat. Aber wer sich ein paar nostalgische Exponate angucken will, dem sei die (kostenlose) Ausstellung empfohlen!

Hausdrachen und soziale Ungleichheit

Weiter geht’s mit Monstern. Aus einem Buch über Thüringer Sagen:

„Die Hausdrachen trugen heimlich Getreide, Butter, Eier, aber auch Geld und andere Wertgegenstände aus den Nachbarhäusern fort, um sie bestimmten Familien zuzuschanzen. So lieferte dieser Volksglaube eine plausible Erklärung dafür, warum es mit manchen Baunerhöfen im Dorf wirtschaftliche bergab ging, andere hingegen überraschend zu Wohlstand kamen.“ (Gespenstisches aus der Thüringer Sagenwelt, Rainer Hohberg, S. 11-14)

Das war zwar eine Erklärung, aber keineswegs eine Legitimation der Ungleichheit, denn der Vorwurf, der erfolgreiche Hof habe einen Drachen, war „alles andere als ein Kompliment“. Diese „Drachenhöfe“ wurden geächtet und ausgegrenzt.

Drachen und Geschlecht könnte man sich auch mal angucken – ich erinnere mich noch an verschiedene mögliche Drachen-Gegner in Baldur’s Gate 2. Der einzige weibliche Drache, der mir einfällt, war aber m.E. ein sehr gutmütiges Wesen, wo der Ruf der Gruppe sank, wenn man es seines Blutes wegen tötete. Die „bösen“ Drachen waren allesamt männlich. (Und der Endgegner war auch männlich, seine „rechte Hand“ war eine weibliche Vampirin … so viele Stereotype!)

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Interview with Gary Hill („The Strange Sound of Cthulhu“) https://dennisschmolk.de/2023/06/05/interview-with-gary-hill-the-strange-sound-of-cthulhu/ https://dennisschmolk.de/2023/06/05/interview-with-gary-hill-the-strange-sound-of-cthulhu/#comments Mon, 05 Jun 2023 09:55:51 +0000 https://dennisschmolk.de/?p=4585 (Dies ist die englische Originalfassung des Interviews. Eine deutsche Übersetzung von Thorsten Panknin findet sich bei der Deutschen Lovecraft Gesellschaft. Weitere cthuloide und musikalische Themen finden sich unter dem Tag Cthulhu.) In 2006, Gary Hill published “The Strange Sound of Cthulhu” (Review in German, playlist) – the most comprehensive book on cthuloid and Lovecraft-inspired music to date. Other projects of his are the “Music Street Journal”, the publishing house “Tale ... Mehr

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(Dies ist die englische Originalfassung des Interviews. Eine deutsche Übersetzung von Thorsten Panknin findet sich bei der Deutschen Lovecraft Gesellschaft. Weitere cthuloide und musikalische Themen finden sich unter dem Tag Cthulhu.)

In 2006, Gary Hill published “The Strange Sound of Cthulhu” (Review in German, playlist) – the most comprehensive book on cthuloid and Lovecraft-inspired music to date. Other projects of his are the “Music Street Journal”, the publishing house “Tale of Wonder and Dread Publishing” and writing fiction. We asked Gary about (horror) music, new publishing projects and what he listens to for fun. Enjoy!

Interview

You wrote an entire book about music inspired by Lovecraft and the Cthulhu mythos: „The Strange Sound of Cthulhu“. Where did you get the idea for that project?

Gary Hill.

I had been doing Music Street Journal for quite a few years at that point. Additionally I had written for places like All Music Guide and others. I thought that I should try to write a book. It seemed like the next logical step for me.

The only problem was, I didn’t know what kind of book I wanted to do. I thought about the band Yes because that is (and was at the time) my favorite band. There were already several books out about them, though. I didn’t really see what I could bring to it that hadn’t already been done.

So, I started thinking about my other interests. I was a big fan of Lovecraft by that point, and I had noticed that there was a decent amount of music related to Lovecraft’s works. Since there wasn’t a book like that already out there, it seemed a great fit for me, given that I had already established myself as a music journalist.

15 years after: Plans for a second edition

More than 15 years have passed since the publishing of „The Strange Sound of Cthulhu“. I heard there will be a new, revised edition some time in the near future. Can you tell us about it?

I’m planning to release the new edition on the 20th anniversary of the publication of the first edition. So, that will mean on Lovecraft’s birthday (August 20th) in 2026. I have been thinking about it for a long time. Within a month after I published the first edition, one of the artists I had sent questions to a year or two earlier sent me his answers. So, almost as soon as it was published, it was outdated.

Since that version was published the world of Lovecraftian music has exploded. I also managed to ask some questions to some other people I hadn’t been able to reach first time around. So, it is really due for an updating.

Every time I looked at it, though, it looked like such a chore. It becomes pretty consuming when you get into doing all the research. I was never ready to commit to it. So, I’ve been taking it more slowly this time. I think I have about 30 or so pages added so far. I’m planning to get more heavily involved in the new edition later this year so I make sure it’s ready to go by the deadline and that it’s as complete as I can get it.

I’m not getting any younger, so I can’t see myself updating it again 20 years after that, so it will likely be the final edition ever. I want to get it as close to perfect as I can. I gave up on the idea of ever achieving perfection a long time ago. You get something to the point where you can live with it, and let it go. If you wait for perfection, you’d never get anything out in the world.

What else to expect in v 2.0?

How long did it take to write the first edition – including research, correspondence, interviews etc.?

I think it took three or four years. So much of that was research, tracking down music, tracking down musicians. I wrote it in small pieces and then worked on assembling it all into something cohesive.

It seems, the first edition mainly focused on Hard and Heavy music. I guess that’s because there wasn’t too much orchestral or electronic cthuloid music back in the day. Will you include the vast landscape of ambient, electronic, orchestral artists in the second edition?

I don’t know if I would characterize the first edition that way. Yes, there was a chapter on punk rock, and two on heavy metal. There was also progressive rock, psychedelia and a lot of other stuff, too. Metal certainly has more Lovecraftian music than other genres do. There is even a sub-genre called „Lovecraftian metal“ now. I tried to work everything that’s Lovecraft based in, if I can. Last time I made a conscious effort to not include filk, though. I’ve thought about it, and might include that this time. On the other hand, that might warrant a separate book because there is so much.

Cthuloid music exploration

How do you do your research and how do you explore the world of cthuloid music?

I did a lot of Google searches looking for lists of music said to be Lovecraft based. I joined groups devoted to Lovecraft and asked for suggestions.

Once I had my list of items (which kept growing as the project went along), I started digging around trying to make contact with the artists. Having done Music Street Journal for long enough by that point, I knew how to do that, and how to approach people. Still, I wasn’t able to reach everyone I wanted to get in touch with.

I also tried to find all the music so that I could listen to it. That involved borrowing music from friends, getting sources to hear it from artists, and anything else I could think of. These days that will probably be easier because more stuff is available online.

What was the biggest surprise to you while working on „The Strange Sound of Cthulhu“?

There were a few. One was when I discovered that there is actually a group of people who think Lovecraft’s mythos is real. I wound up bouncing emails with a guy for months who was the leader of one such group. They believe that on his death bed Lovecraft confessed that all of it was true.

I think the one that was the biggest takeaway for me, though, was how that Lovecraft fandom was almost tribal, for lack of a better term. Pretty much everyone I managed to get in touch with was so enthusiastic and interested in the project. I stayed in email contact with quite a few of them over the years, and got to know them as long-distance friends. It was really the passion for Lovecraft’s work that was a binding force, creating an instant connection.

Music just for fun

What music do listen to in your spare time (if you still can listen to music just for fun)?

I listen to music a lot. During the week, if I’m not listening to music to write about it, I generally have my 300 disc CD changer on shuffle, and on the weekends it’s vinyl. I have pretty eclectic tastes. My three favorite bands are Yes, Black Sabbath and Hawkwind. Beyond that, though, I love everything from The Residents to Tori Amos, Judas Priest, The Rolling Stones, Pink Floyd, Rush, Motörhead, a lot of punk rock, jazz and even classical. My favorite jazz album of all time is John Coltrane’s My Favorite Things. Sibelius‘ Finlandia is my favorite classical work.

My CD changer has stuff in it ranging from a lot of the artists I already mentioned to Kiss, Metallica, Iron Maiden, The Dead Boys, The Doors, Dream Theater, Scorpions, Queen, Jefferson Airplane, Rainbow, The Beatles, Spock’s Beard, The Grateful Dead, The B-52s, Devo and more. It is tough to pin me down on any one type of music.

Is there anything else you’d like to tell our readers?

Well, I guess that while The Strange Sound of Cthulhu was my first book, it was definitely not my last. I’ve written and published quite a few books since. The next one was a book containing interviews with musicians about the music that inspired them to start creating their own music. Since then I’ve published all the Music Street Journal articles in book form, launched a publishing imprint focused on science fiction and horror and released a number of other books.

Under the Tales of Wonder and Dread imprint I published three short novels or novellas of my own (Wizard Song – science fiction/space opera, The Homestead – home invasion horror and It Ends in the Graveyard – creature feature horror) along with compilation books, the first two novels of a trilogy of dark urban horror leaning fantasy from Elizabeth Lynn Blackson and more. I also run something called „Spooky Ventures“ that is based around YouTube videos of the Spooky variety including interviews, reviews and lots more. All my projects can be accessed via GaryHillAuthor.com. You can find Music Street Journal at musicstreetjournal.com. Spooky Ventures is at SpookyVentures.com.


Photo: Horatio Nicoara, garyhillauthor.com mit freundlicher Genehmigung.
Featured image: Photo by Master Wen on Unsplash

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Weird Harmonies (4): Literatur und Anhänge https://dennisschmolk.de/2022/10/06/weird-harmonies-4-literatur-und-anhaenge/ https://dennisschmolk.de/2022/10/06/weird-harmonies-4-literatur-und-anhaenge/#comments Thu, 06 Oct 2022 08:03:44 +0000 https://dennisschmolk.de/?p=3228 After (1) the declaration of indescribability, and (2) the description, comes (3) the unvisualisable. For all their detail, […] Lovecraft’s descriptions do not allow the reader to synthesize the […] adjectives into a mental image. Mark Fisher: The Weird and the Eerie, 2016 Wir haben in den vorhergehenden Teilen einige Mythos-Musik-Geschichten näher betrachtet: „The Music of Erich Zann“ im ersten und „The Music of the Stars“ sowie „Mud“ im zweiten ... Mehr

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After (1) the declaration of indescribability, and (2) the description, comes (3) the unvisualisable. For all their detail, […] Lovecraft’s descriptions do not allow the reader to synthesize the […] adjectives into a mental image.
Mark Fisher: The Weird and the Eerie, 2016

Wir haben in den vorhergehenden Teilen einige Mythos-Musik-Geschichten näher betrachtet: „The Music of Erich Zann“ im ersten und „The Music of the Stars“ sowie „Mud“ im zweiten Teil. Im dritten wurden dann diverse weitere Mythos-Musik-Geschichten in unterschiedlichem Detailgrad besprochen, um einen Thesenkatalog zu belegen und zu erweitern, der Beschaffenheit und Funktion von Musik in Mythos-Geschichten beleuchtet.

Abschließend möchte ich noch einige Anmerkungen zu den verwendeten Quellen und weiteren Geschichten anfügen. Die erste Frage, der wir uns zuwenden, ist: Wie lässt sich überhaupt entscheiden, ob eine „Mythos-Musik-Story“ vorliegt?

Mythos-Musik-„Kanon“

Aufgrund der unterschiedlichen Beschaffenheit und Ausgestaltung der verschiedenen Geschichten ist ein „Kanon“ schwer zu erstellen. Zudem erscheinen zunehmend immer mehr Texte mit Bezug auf den Cthulhu-Mythos, sodass die Quellenlage immer unübersichtlicher wird. Und schließlich müsste man relativ rasch auch andere Verbreitungsmedien als literarische Texte betrachten: Was passiert in cthuloid inspirierten Computerspielen mit dem Motiv Musik? Wie gehen Filme, die sich mit Mythos-Musik befassen, damit um, dass diese prinzipiell nicht hör- und darstellbar ist?

Literatur, die ich von der Analyse (und damit aus meinem „Kanon“) ausgeschlossen habe

Trotzdem sind mir im Zuge meiner Recherchen einige wenige Beispiele untergekommen, die ich für mich von der Analyse ausgeschlossen habe – ein untrügliches Zeichen für einen zumindest subjektiven Kanon. Dazu zählt „The Dirge of Reason“ (Graeme Davis), eine Arkham-Horror-LCG-Novelle. Der Mythos-Bezug ist nur gegeben, da es sich um ein Supplement für ein Mythos-Kartenspiel handelt und ansonsten recht dünn. Ein Musikbezug ist allerdings durchaus gegeben, es geht schließlich um ein magisches Klagelied und einen verrückten Dirigenten. Graeme Davis ist laut ISFDB ein recht produktiver Autor von Horror und Fantasy.

Insgesamt schien mir die Novelle eher ein Spiele-Produkt als eine literarische Geschichte. Davis schreibt u.a. auch für die „World of Darkness“ und „Dungeons and Dragons“, und ich werde den Eindruck nicht los, dass es sich hier eher um Marketing-Beiprodukte für eine Spielereihe als um literarische Schöpfungen handelt. (Vielleicht liegt das auch daran, dass mir die Geschichte mit ihrem pulpigen „Wirf Dynamit auf das Mythos-Monster!“-Ende nicht gefallen hat.) Alle Arkham-Horror-Romane und -Novellen, die ich bislang gelesen habe, waren für mich als Spieler des Kartenspiels zwar amüsant zu lesen, aber ich habe sie nicht als „ernsthafte“ Beiträge zum Cthulhu-Mythos oder als „Weird Fiction“ lesen und werten können. Mir ist aber klar, dass dieses Argument sehr angreifbar ist.

Zudem nicht in die Kandidatenliste für meine Analysen aufgenommen habe ich Rollenspielprodukte. Zwar findet sich in „Arcana Cthulhiana“, dem Zauber-Quellenband zu „Cthulhu“ von Pegasus, eine ganze Reihe von musikbezogenen Zaubern; und es gibt auch Musik-Abenteuer (z.B. „The Music of the Spheres„). Für mich lag der Fokus in dieser Analyse aber auf Literatur und nicht nur auf Text.

Auch „The Legacy of Erich Zann“ von Brian Stableford fand ich unterhaltsam, aber schwierig als „ernsthafte Mythos-Fiction“ zu interpretieren. Vielmehr scheint es eine Häufung aus Motiven der Musik- und der Philosophiegeschichte, des Cthulhu-Mythos, der abendländischen Mystik; alles zusammengehalten durch Auguste Dupin und einen eher kriminalistischen Plot. Die Geschichte wurde mehrfach erwähnt, weil sie Anschlüsse für Elemente der Lovecraft-Geschichte zu Erich Zann bietet. Aber ich würde keine der Setzungen, die die Geschichte macht, in meine künftige Lovecraft-Lektüre übernehmen.

Drei Kriterien

Wenn man etwas ausschließen will, braucht man eine Definition mit ein paar Kriterien. Ich habe daher in meinen Recherchen immer mit dem folgenden Kurzkatalog gearbeitet:

  1. Die Geschichte muss klar dem Erzähluniversum des Cthulhu-Mythos zuzuordnen sein, z.B. den Kriterien Joshis folgend. Deshalb kamen „Threnody“ und Co. von Stephen Mark Rainey nicht in die zentrale Auswahl: Der Mythos-Bezug ist relativ dünn, eigentlich handelt es sich hier eher um Geistergeschichten, in denen eben auch noch ein Angehöriger der Zann-Familie erwähnt wird. (Laut Vorwort zu „Song of Cthulhu“ übrigens wohl ein Geschwister Erichs. Wieso ein deutscher Komponist einen Bruder mit Namen Maurice haben sollte, sei dahingestellt.)
  2. Die Geschichte muss ein tatsächlicher Beitrag zur Mythos-Literatur sein. Dieses Kriterium ist etwas schwammig, das ist mir bewusst, und benötigt selbst wiederum Kriterien. Eine Veröffentlichung in einer Mythos-Anthologie wie „Song of Cthulhu“, die Autorschaft durch etablierte Schreibende des Mythos (Rimel) sind auf jeden Fall hinreichende Kriterien. Das Erscheinen in einer Produktlinie eines mythos-bezogenen Spiels wie „Arkham Horror“ nicht. (Tatsächlich fällt mir dabei auf, dass ich das Spiel zwar liebe, Setzungen des Spiels alleine aufgrund der mangelnden Historizität aber nicht als Setzungen für literarische Geschichten akzeptieren würde – Stichwort „Darstellung der Geschlechterverhältnisse“: Hierbei setzt Arkham Horror immer wieder selbst heutzutage utopische Verhältnisse als Normalität der Zwanziger. Das verschenkt u.a. Entfremdungs- und damit Horror-Potenzial.)
  3. Die Geschichte muss sich zentral mit Musik auseinandersetzen. Musik darf nicht nur ein Epiphänomen, Nebenprodukt oder Atmosphäre-Tool sein. Sie muss ein zentrales Motiv oder Mythos-Artefakt sein.

Wie nennen wir das Kind?

„Mythos-Musik-Geschichte“ ist ein eher sperriger Begriff. Ich hatte überlegt, einen Begriff wie „Cthuloid Harmonies“ o.ä. einzuführen, aber der wäre zu erklärungsbedürftig – und weiterhin sperrig. „Der Zann-Zyklus“ oder „Zann Cycle“, wie Stephen Marc Rainey die Mythos-Musik-Geschichten im Vorwort zu „Song of Cthulhu“ nennt, scheint mir zu kurz zu greifen. Die ISFDB listet neben Lovecrafts Geschichte nur Fred Chappells „In the Rue d’Auseil“, Thomas Ligottis Essay „The Dark Beauty of Unheard Horrors“ sowie ein Gedicht. („The Legacy of Erich Zann“ fehlt hier.)

Ich bin daher, der Sperrigkeit zum Trotz, erst einmal weiter bei „Mythos-Musik-Geschichten“ geblieben. Einen kleinen Catch hat die Bezeichnung im Deutschen noch, denn natürlich meinen „Geschichten“ hier „stories“, nicht „histories“. Insbesondere im Singular kann das etwas verwirren.

Anhang: Liste musikbezogener Mythos-Geschichten

Kommen wir nun aber zum Korpus dessen, was ich als meinem „Kanon“ zugehörig verstehen würde. Und zwar beginne ich mit meiner „Top Ten“ der Geschichten, die mir begegnet sind. Dabei spielt der Unterhaltungswert eine größere Rolle als die Kanon-Nähe, wie man an „Threnody“ sehen kann.

Top Ten der Mythos-Musik-Geschichten

  1. Brian McNaughton / Mud  (1997)
  2. H.P. Lovecraft / Music of Erich Zann (1922)
  3. Robert Weinberg / Chant (1997)
  4. Duane Rimel / Music of the Stars (1943)
  5. E.A. Lustig / The Enchanting of Lila Woods (1997)
  6. Gregory Nicoll / How Nyarlathotep Rocked Our World (1997)
  7. Stephen Mark Rainey / Threnody (1987)
  8. Tom Piccirilli / Water Music for the Tillers of Soil (1999)
  9. Ramsey Campbell / The Plain of Sound (1964)
  10. Rob Suggs / The Next Big Thing (1997)

Alle Geschichten

Diese Geschichten wurden teilweise in den ersten drei Artikeln erwähnt, teilweise nicht:

Author Title Year
Lovecraft, H.P. The Music of Erich Zann 1922
Kuttner, Henry The Bells of Horror 1939
Rimel, Duane Music of the Stars 1943
Campbell, Ramsey The Plain of Sound 1964
Rainey, Stephen Mark Threnody 1987
Rainey, Stephen Mark The Spheres Beyond Sound 1988
Rainey, Stephen Mark The Last Show at Verdi’s Supper Club 1992
Rainey, Stephen Mark Fugue Devil 1992
Rainey, Stephen Mark The Devil’s Eye 1996
McNaughton, Brian Mud
Suggs, Rob The Next Big Thing 1997
Weinberg, Robert Chant 1997
Lustig, E.A. The Enchanting of Lila Woods 1997
Nicoll, Gregory How Nyarlathotep Rocked Our World 1997
Kiernan, Caitlín R. Paedomorphosis 1998
Piccirilli, Tom Water Music for the Tillers of Soil 1999
Cave, Hugh B. Intruders 2001
Smith, James Robert Listen 2001
Chappell, Fred In the Rue d’Auseil 2001
Monteleone, Thomas F. Yog-Sothoth, Superstar 2001
Berglund, Edward P. The Flautists 2001
Trotter, William R. Drums 2001
Meikle, Willian Dark Melodies (Anthology) 2012
Stableford, Brian The Legacy of Erich Zann 2012
Langan, John Outside The House, Watching For The Crows 2016
Besson, Aaron The Black Metal of Derek Zann (in: Urban Temples of Cthulhu) 2016
David, Grame The Dirge of Reason 2018

Sehr viele dieser Geschichten sind in der oft erwähnten Anthologie „Song of Cthulhu“ erschienen.

Anhang: Bücher, Essays und Aufsätze zum Thema

  • Thomas Ligotti / The Dark Beauty of Unheard Horrors (1992)
  • Duane W. Rimel & Emil Petaja / Weird Music (1936)
  • Isabella van Elferen / Hyper-cacophony: Lovecraft, speculative realism, and unheard materialism (2016?)
  • Gary Hill / The Strange Sound of Cthulhu (Rezension und Playlist)

Anhang: Mythos-Autorinnen und -Autoren mit Musik-Bezug

Bei einigen Autorinnen und Autoren sind mir Musikbezüge aufgefallen, die ich hier nicht unterschlagen möchte:

  • S.T. Joshi, der große Lovecraft-Biograph, ist auch als Komponist tätig. Beispiele: Songs from Lovecraft and Others
  • Stephen Mark Rainey hat im College Gitarre gespielt. Er hat zudem wohl auch in anderen Werken wie „Symphonia Maledictus“ Musikbezüge eingewoben (hier handelt es sich aber wohl nicht um eine Mythos-Geschichte).
  • Thomas Ligotti hat mit „Current 93“ einige Stücke aufgenommen, u.a. als Gitarrist (Wikipedia).
  • Gregory Nicoll ist auch als Musikkritiker tätig.
  • Caitlín R. Kiernan war als Sängerin aktiv.
  • William R. Trotter hat eine Biographie des Komponisten Dmitri Mitropoulos verfasst und gilt als „classical music expert and collector, owning one of the largest collections of vinyl and CD recordings in the Southeast“ (Wikipedia).
  • Ramsey Campbell gilt als Liebhaber klassischer Musik (Wikipedia).

Mit diesem Teil endet die Artikelreihe rund um Musik im Cthulhu-Mythos. Hier geht’s zum Inhaltsverzeichnis aller Artikel der Reihe.


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Weird Harmonies (3): Eine Typologie übernatürlicher Musik im Cthulhu-Mythos https://dennisschmolk.de/2022/10/06/weird-harmonies-3-eine-typologie-uebernatuerlicher-musik-im-cthulhu-mythos/ https://dennisschmolk.de/2022/10/06/weird-harmonies-3-eine-typologie-uebernatuerlicher-musik-im-cthulhu-mythos/#comments Thu, 06 Oct 2022 08:02:46 +0000 https://dennisschmolk.de/?p=3213 They danced insanely to the high, thin whining Of a cracked flute clutched in a monstrous paw, Whence flow the aimless waves whose chance combining Gives each frail cosmos its eternal law. H.P. Lovecraft: Fungi From Yuggoth (1929/30) In den vergangenen beiden Artikeln haben wir drei Stories analysiert: Lovecrafts „The Music of Erich Zann“ (Teil 1), Duane Rimels „Music of the Stars“ und Brian McNaughtons „Mud“ (beide in Teil 2). ... Mehr

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They danced insanely to the high, thin whining
Of a cracked flute clutched in a monstrous paw,
Whence flow the aimless waves whose chance combining
Gives each frail cosmos its eternal law.
H.P. Lovecraft: Fungi From Yuggoth (1929/30)

In den vergangenen beiden Artikeln haben wir drei Stories analysiert: Lovecrafts „The Music of Erich Zann“ (Teil 1), Duane Rimels „Music of the Stars“ und Brian McNaughtons „Mud“ (beide in Teil 2). Damit haben wir genug Material gesammelt, um uns unseren Themenfragen zu widmen: Was macht die Musik als Element von Mythos-Stories aus? Wie lässt sich Mythos-Musik typologisieren? Was ist der Idealtypus einer Mythos-Musik?

Mythos-Musik: Eine Typologie in 14 Thesen

Das Folgende ist ein loser Katalog von Thesen und Erkenntnissen über Mythos-Musik. Eine tiefergehende Exploration und Anwendung auf konkrete Geschichten schließe ich unten an. Die folgenden Punkte sind quasi auch das tl;dr der gesamten Artikelreihe.

  1. Die Musik im Mythos ist schwierig oder gar nicht beschreibbar.
  2. Sie hat trotz oder gerade wegen ihrer Unbeschreibbarkeit verschiedene Wirkungen in der Welt, vor allem eine psychologische und eine magische.
  3. Wenn eine Beschreibung der Musik vorkommt, umfasst sie meistens Parameter wie Tonhöhe, Timbre, „unerhörte“ Harmonien, seltsame Rhythmen. Die primäre Wirkung der Beschreibung ist ein Gefühl der Entfremdung bei Lesenden.
  4. Mythos-Musik wird häufig von einem Instrument hervorgebracht, das von einem Menschen gespielt wird.
  5. Die Musik ist ein akustischer Reiz, wird aber oft begleitet von visuellen, seltener olfaktorischen Sinnesreizen und multisensorischen Trübungen.
  6. Die Mythos-Musik hat auf ihre Schöpferinnen, Interpreten und Zuhörenden auch eine soziale Wirkung der Isolation, Absonderung und des „Ausstiegs aus der Gesellschaft“. Das eint sie einerseits mit anderen Wirkungen des Mythos, aber auch andererseits mit stereotypen Wirkungen des Kunstschaffens.
  7. Häufig sind die reinen „Kompositionen“ (also die erdachte/notierte Musik) gar nicht an sich wirksam. Erst im Zusammenspiel von Instrument(en), Komposition und eventuell Übernatürlichem, also in der Aufführung, entsteht die eigentlich „wirksame“ Mythos-Musik.
  8. Wie alle Musik ist Mythos-Musik flüchtig, im Wesentlichen nur im Moment der Aufführung erfahrbar.
  9. Ob die Mythos-Musik zu vervielfältigen ist (auf Tonträgern, in Netzwerken etc.), variiert von Geschichte zu Geschichte. Generell ist hier vor allem der technische Stand der Realität zum historischen Setting der Geschichte entscheidend.
  10. Musik im Mythos ist nicht gegen andere Artefakte oder Entitäten austauschbar, so wenig ein Gott gegen ein Buch oder ein Kult gegen ein Monster ausgetauscht werden kann.
  11. Es geht selten um „apollinische“ Musik, also nicht um strenge Form und Kompositionsschemata; allermeistens geht es um dionysische Musik.
  12. Mythos-Komponistinnen und -Komponisten sind ein Pendant zu Forschenden – ein bisschen Archäologin, ein bisschen Chemiker. Sie sind gleichzeitig natürlich Kunstschaffende.
  13. Durch die Darstellung eines körperlich-sinnlichen Eindrucks, der aber aus geistig-kompositorischer Betätigung rührt, werden alle Wahrnehmungsebenen des Menschen angesprochen: von den Trieben über die Emotio bis zur Ratio. Sie weist symbolisch aber darüber hinaus auf Unnennbares und Unerfahrbares.
  14. Mythos-Musik muss musikalisch genug sein, als Musik durchzugehen, aber fremdartig und „unmusikalisch“ genug, um Faszination, Verwirrung und vielleicht auch Repulsion zu erzeugen.

Detailanalysen

Im Folgenden gehe ich auf diverse „Sub-Thesen“ des obigen Katalogs ein und diskutiere die Thesen noch etwas weiter, teils mit Bezug zu weiteren Stories. Im vierten Teil der Reihe versuche ich mich noch an einem Überblick über die verschiedenen Geschichten, die mir als Quelle gedient haben.

Unsagbarkeit

  • Die Musik im Mythos ist schwer oder nicht beschreibbar.
    • Das liegt auch, aber nicht nur am musikalischen Unverständnis der (meisten) Protagonisten.
    • Es liegt vor allem an ihrer prinzipiellen Unverständlichkeit für den „normalen“ menschlichen Geist.
    • Daran schließt ein Unsagbarkeitstopos an. Explizit oder implizit sagen uns die erzählenden Charaktere, dass sie uns etwas nicht sagen können, und verweisen dabei immer auf das Unnennbare, the Unnamable oder Unknown, oder mindestens ein Versagen der Sprache. (Man vergleiche das mit dem Topos in anderen Ausprägungen der romantischen Traditionslinie. Wagner etwa meinte, dass Musik da anfange, wo die Möglichkeiten der Sprache enden. Bei Erzählungen über Musik entsteht also eine doppelte Unsagbarkeit: Die Sprache versagt, die Musik setzt ein; in diesem Fall aber nur sprachlich vermittelt – und damit doppelt scheiternd.)
    • Die Musik ist vermutlich auch innerhalb der Fiktion nicht wirklich hörbar, oder nicht hörbar, ohne davon wahnsinnig zu werden. Wer sie gehört hat, kann also nicht mehr als „zuverlässige“ Erzählfigur bestehen; wer sie nicht gehört hat, kann nichts über sie sagen, nur über ihre Wirkung auf andere.

Der Erzähler in „The Music of Erich Zann“ betont seine musikalische Unbildung; auch der Erzähler von „The Music of the Stars“ stellt seine musikalischen Fähigkeiten zumindest als deutlich schwächer dar als die seines Freundes Baldwyn. Dieses Motiv zieht sich durch viele weitere Mythos-Stories rund um Musik: Der Erzähler von S. M. Raineys „Threnody“ (s.u.) sagt, er sei „not well versed in musical theory“. In „The Legacy of Erich Zann“ von Brian Stableford gibt der amerikanische Dupin-Sidekick (ein Alter Ego E.A. Poes?) zu, dass er bedeutend weniger von Musik versteht als Dupin (und natürlich auch von allem anderen).

Da, wo Protagonistinnen und Protagonisten etwas von Akustik oder Musiktheorie verstehen, hilft ihnen dies meist nicht weiter: Sogar der Erzähler von „Mud“ kämpft damit, die Musik zu fassen. Obwohl er musikalisch gebildet ist, kann er nicht genauer bestimmen, was das Vogellied von „La Folia“ unterscheidet. (Zugegeben: Das mag auch an der musikalischen Bildung McNaughtons liegen.) Lila Woods in E.A. Lustigs „The Enchanting of Lila Woods“ (in „Song of Cthulhu“) kennt sich zwar mit (Computer-) Akustik aus, kann aber dennoch die Wirkungen verschiedener Musiken in der Geschichte nicht einordnen.

Die größte Musikkompetenz, die ich in den Geschichten feststellen konnte, lag beim Erzähler von Tom Piccirillis „Water Music for the Tillers of Soil“ (1999, ebenfalls in „Song of Cthulhu“). In dieser postapokalyptischen Horrorgeschichte komponiert und dirigiert besagter Erzähler eine Sinfonie für den endgültigen Weltuntergang und bootet dabei sogar seine Dirigenten-Konkurrenz aus. Seine Meisterschaft über die Harmonien des Mythos verschiebt ihn aber eigentlich vom „Ersatzbeobachter“ hin zu einem Mythos-Wesen oder Kultisten. In Rollenspielterminologie: Er ist kein Spielercharakter mehr, sondern ein NSC.

Wirkungen der Mythos-Musik

  • Sie hat trotz oder gerade wegen der Unbeschreibbarkeit verschiedene Wirkungen in der Welt, vor allem eine psychologische und eine magische.
    • Sie hat psychische und psychologische Wirkungen.
      • Vor allem entwickelt sie oft eine starke Sogwirkung auf die Erzählenden (die „surrogate observer“), durch deren Ohren wir die Geschichten erleben. Sie kann hypnotisieren und sirenengleich becircen.
      • Gleichzeitig hat sie eine beunruhigende Wirkung auf die menschliche Psyche, wirkt fremdartig und verstörend.
      • Diese beiden Wirkungen stehen in einem Spannungs- und Wechselverhältnis. Es geht sozusagen immer um die beiden Grund-Triebfedern des Handelns: Lust und Angst, Eros und Thanatos usw.
    • Die Mythos-Musik hat zudem eine übernatürliche, magische Wirkung.
      • Diese beruht nicht immer und nicht nur darauf, dass das verwendete Instrument ein magisches Artefakt oder der Interpret ein Zauberer ist. Das Geheimnis liegt meist (auch) in den „Frequenzen“, den „Noten“ oder den „Harmonien“ – ist also ein musikalisches.
      • Die Wirkung umfasst Schadenszauberei, Kommunikation mit übernatürlichen Wesenheiten, deren Beschwörung oder auch deren Bannung.
      • Vielfach sind die Wirkungen auch nicht klar zuzuordnen.
    • Durch evozierte Emotionen, vor allem Entfremdungsgefühle, hat die Mythos-Musik daher auch Auswirkungen auf die Lesenden.

Zu den teils anziehenden, teils abstoßenden Wirkungen auf Protagonisten der Geschichten wurde bereits in den Analysen das Meiste gesagt. Aber noch einmal zusammengefasst: Die Musik, gerade auch die dissonante, zieht die Erzählenden der Geschichten magisch an, verstört sie gleichzeitig und stößt sie ab. Das ist recht leicht mit den Emotionen der Lesenden zu parallelisieren: Horrorgeschichten scheinen Lust und Angst, Begierde und Furcht, Faszination und Ekel so zu kombinieren, dass ein (mindestens für Fans des Genres) eher resonantes als repulsives Geschehen entsteht. (Vgl. dazu auch Resonanz und Horror.)

Magische Wirkungen

Die wichtigsten magischen Wirkungen der Musik sind ähnliche wie bei anderen Ritualen und Zaubern des Mythos. Allen voran stehen Beschwörungen (Evokationen, Invokationen, Kommunikationen) auf dem Programm, häufig von Großen Alten wie Shub-Niggurath, Nyarlathothep oder Anbetungen Azathoths.

Ebenfalls recht häufig kommt Schadenszauberei zum Einsatz – meist mit gravierenden Folgen für die Zuhörenden. In „The Last Show at Verdi’s Supper Club“ (1992, Stephen Mark Rainey, enthalten in der Anthologie „Song of Cthulhu“) ist der Protagonist offenbar von einer Mythos-Wesenheit besessen, die ihn alle paar Jahre oder Jahrzehnte zwingt, in einem grausigen musikalischen Ritual seine „Freunde“ zu opfern. Der Mythos-Bezug rührt hier vor allem aus der Zugehörigkeit zu besagter Mythos-Anthologie.

Bannzauberei bzw. Exorzismen kennen wir bereits von Erich Zann: Er mag das Wesen, das hinter seinen Fensterläden lauert, beschworen haben, aber seine Musik dient vor allem dessen Beruhigung. Auch in der Geschichte „The Enchanting of Lila Woods“ weckt Musik einen Avatar Shub-Niguraths auf, dient aber auch zu dessen Besänftigung.

Wo wir gerade bei Shub-Niggurath sind: Pervertierte orgiastische Fruchtbarkeitsriten oder schlichte Orgien der Zerstörung spielen immer wieder eine Rolle, zum Beispiel in „The Next Big Thing“ (2000, Rob Suggs, in „Song of Cthulhu“) in Form eines Musikfestivals. Dieses endet in einer Art Bürgerkrieg in Arkham, im Zuge dessen es zu Mord, Kannibalismus, Vergewaltigung kommt. Siehe hierzu auch die These zur dionysischen Musik.

Eine weitere Wirkung, die sporadisch zum Einsatz kommt, ist psychologische Kriegsführung, vor allem durch Trommeln. In der passend „Drums“ genannten Geschichte von William R. Trotter (2001, ebenfalls in „Song of Cthulhu“ enthalten) setzt ein Tcho-Tcho-Stamm einer Militäreinheit mit Trommeln zu. Das Trommeln dient letztlich auch der Beschwörung von Dholen und einem Avatar Chaugnar Faugns (?), aber die vorherige Primärwirkung ist Zerrüttung und Angst.

Beschreibung der Mythos-Musik

  • Die Beschreibung der Musik umfasst meistens Tonhöhe, Timbre, „unerhörte“ Harmonien, seltsame Rhythmen, um ein Gefühl der Entfremdung zu erzeugen.

Das Vokabular zur Beschreibung von Mythos-Musik ist generell sehr farbig, aber meist auf die Schilderung von Fremdartigem, Dissonantem, Repulsivem fokussiert. Insbesondere sehr tiefe und sehr hohe Lagen werden betont, also die Stimmlagen, in denen menschliche Sprache nicht operiert. Tiefe Töne werden oft als Brummen beschrieben und wirken weniger hör- als  vielmehr fühlbar. Hohe Töne, etwa das Pfeifen der Flötisten Azathoths, wird oft als schrill beschrieben.

Ein schönes Beispiel stammt aus „The Plain of Sound“ von Ramsey Campbell (1964, auch in „Song of Cthulhu“). Campbell, großer Freund und Sammler klassischer und romantischer Musik, schildert darin einen Wanderausflug dreier Studenten. Diese langen an ein großes, freies Feld mit einer einsamen Hütte an und hören dort grauenhafte Musik,

incessantly fluctuating through three notes. Behind it were other sounds; a faint bass humming […] and others – whistlings and high pitched twangs[.]

Timbre

Das Timbre, die Klangfarbe der Töne, ist oft unwirklich oder unmenschlich (ätherisch, synthetisch, animalisch). Mythos-Kompositionen greifen auf ungewohnte oder unmögliche Klangfarben zurück. Wo es Vergleiche mit realer Musik gibt, werden oft neue und wilde Klangzusammenstellungen beschrieben, so etwa wiederum in „The Next Big Thing“ von Rob Suggs. Der Autor erfindet hier eine neue Musikrichtung, „Rant“ (to rant = schimpfen, toben, poltern):

Rant bands usually have two lead singers, one who is called a chanter, kind of descended from the rapper. […] The other singer, the wailer, serves as an extra musical instrument. [The] voice can be bluesy, ethereal, maybe even melodic – but more often eerie and disturbing. The singers are accompanied by bands of various combinations, but percussion is by far the most important element.P rimal, thundering rhythms are key.

In der Aufführung klingt das dann u.a. so:

The drums and percussion were now pounding furious counter-rhythms. Guitars and sythesizers soared to acoustic clashes.

Mikrotonalität und „ungewöhnliche“ Stimmungen

Wie die letzte These des o.g. Katalogs betont, muss aber auch immer ein harmonisch fassbares Gegengewicht vorliegen, das die Dissonanzen und das Ungewohnte überhaupt erst zur Geltung bringt. Die Auguste-Dupin-Geschichte „The Legacy of Erich Zann“ von Brian Stebleford behilft sich hier mit dem Trick, dass die Geige, ein Erbstück von Erich Zann, mitten im Spiel selbstständig ihre Stimmung ändert, also ein spontanes, selbstständiges Scordatura durchführt.

Tonale Verschiebungen spielen auch im Asberry-Zyklus von Stephen Mark Rainey eine Rolle. Den Geschichten liegt ein neues Mythos-Buch zugrunde, „The Spheres Beyond Sound“ von einem Maurice Zann, dessen Verbindung mit Erich Zann niemals ausgesprochen, aber vorausgesetzt wird. Der Zyklus umfasst die Geschichten „Threnody“ (1987), „The Spheres Beyond Sound“ (1988), „Fugue Devil“ (1992) und „The Devil’s Eye“ (1996), wobei nur die beiden erstgenannten sich explizit und zentral mit Musik auseinandersetzen.

Im erwähnten Mythos-Buch findet sich eine Anleitung, wie man eine Gitarre passend „verstimmt“: auf Des, Ais, E, His, C, Es. (Das ergibt natürlich keinen Sinn, wenn wir von unserer modernen gleichstufigen Stimmung ausgehen – die vierte und fünfte Saite wären beide auf C gestimmt; vielleicht ist das ein Lapsus des Autors, ein Witz oder es ist bedeutungstragend im Sinne einer fremdartigen Stimmung. Da S. M. Rainey in Collegetagen Gitarre gespielt hat, vermute ich letzteres.)

Die Frage, welche Harmonien und Timbres als fremdartig und ungewohnt erscheinen, ändert sich naturgemäß auch mit den Hörgewohnheiten. Daher sind die Beschreibungen und Vergleiche in „The Music of the Stars“ andere als bei späteren Mythos-Musik-Geschichten. In unserer heutigen Musikwelt, in der es ganze Playlists mit mikrotonaler Musik auf Spotify gibt und die merkwürdigsten Mikro-Rhythmen sogar im Pop akzeptiert werden, muss man sich naturgemäß weiter aus dem Fenster lehnen. Von den möglichen Klangfarben dank verschiedenster Synthesewege (modular, additiv, subtraktiv, frequenzmodulierend, ringmodulierend, …) gar nicht zu reden: Uns kommt kaum noch etwas fremd und unerhört vor.

Form und Genre

Wir haben uns hier noch nicht mit musikalischer Form auseinandergesetzt. Meistens fällt diese aber auch relativ schnell in sich zusammen: Es gibt nahezu kein Mythos-Musikstück, das bis zum Ende (falls es ein solches überhaupt gibt) gespielt wird. Im Asberry-Zyklus wird das dämonenbeschwörende Stück „Fugue“, also Fuge genannt, und auch, was Erich Zann dem Erzähler vorspielt, nennt dieser eine Fuge. Im letzteren Fall handelt es sich aber ja gerade nicht um die Mythos-Musik. Zum Fugen-Begriff äußert sich Stephen Mark Rainey in einem Interview:

A few of my stories either directly or indirectly relate to each other, and “Fugue Devil” — a novelette I wrote in 1991 — shares its history with several other of my tales in which music plays a distinctive, supernatural role. A fugue struck me as the perfect musical means of “summoning” the particular entity at the center of the novelette. So “Fugue Devil” it became.

Was sich vielleicht festhalten lässt, ist dass die Stücke nahezu alle eben keine klassische musikalische Form (Song, Sonate, Tanz) abbilden, sondern durch Länge, Wiederholung, dauerhafte Improvisation oder ein Ende mit Schrecken alle hergebrachte Form sprengen.

In den wenigsten Geschichten haben wir eine klare Genrezuordnung, sieht man vom fiktiven Genre „Rant“ in „The Next Big Thing“ ab. Einige Musik in neueren Geschichten ist grob dem Rock („Last Show at Verdi’s Supper Club“, S.M. Rainey; „How Nyarlathotep rocked our World“, Greg Nicoll), Metal oder Industrial zuzuordnen, ab und an auch dem Gothic („Paedomorphosis“ von Caitlin Kiernan). Das meiste lässt sich aber eher der Orchester- oder Kammermusik zuordnen, vielleicht auch der experimentellen elektronischen Musik. (Ich warte noch darauf, dass jemand einen modularen Synthesizer als Mythos-Artefakt beschreibt. Die passenden Module gibt es bereits zu kaufen.)

… not „pleasant, soothing, or even vaguely harmonic“

Die Musikwissenschaftlerin Isabella van Elferen fasst zusammen:

H. P. Lovecraft’s stories contain many allusions to and descriptions of sound, but none are pleasant, soothing, or even vaguely harmonic.

Durch derartige Beschreibungen hat die Mythos-Musik letztlich auch eine verstörende Wirkung auf die Lesenden.

Klingt Mythos-Musik anders als andere Horror-Musik?

Eine der m.E. besten modernen Horror-Kurzgeschichten rund um Musik ist Thomas Ligottis „Music of the Moon“ (1987). Sie handelt von einem Insomniegeplagten, der nachts durch die Stadt streift und dabei fast einem unerhörten Konzert lauscht. Fast, weil er sich aus Angst dazu entschließt, es nur durch eine Tür anzuhören, statt sich ins Publikum zu setzen. Die Musik wird hier so beschrieben:

At first there seemed to be only a single note wavering alone in a universe of darkness and silence, coaxing its hearers to an understanding of its subtle voice, to sense its secrets and perhaps to hear the unheard. The single note then burst into a shower of tones, proliferating harmonies, and at that exact moment a second note began to follow the same course; then another note, and another. There was now more music than could possibly be contained by that earlier silence, expansive as it may have seemed. Soon there was no space remaining for silence, or perhaps music and silence became confused, indistinguishable from each other, as colors may merge into whiteness.

Diese Musik hat keine dissonanten, unangenehmen oder repulsiven Wirkungen; sie ist nur fremdartig und allumfassend. Eine spannende Anschlussfrage für weitere Forschung ist daher, ob es eine Tendenz gibt, dass Mythos-Musik einheitlicher als verstörend oder entfremdet dargestellt wird als Musik in anderen Horror-Geschichten.

Einen weiteren Themenkomplex möchte ich hier nur anreißen: Beispielsweise in den Sagen des klassischen Altertums und in romantischen Erzählungen kommt immer wieder ein Motiv vor, das ich stellvertretend als Sirenenmotiv bezeichne. Magisch anziehende Musik (oft von weiblichen Wesenheiten hervorgebracht) reißt die Zuhörenden (klassisch: Männer) in ihr Unglück (Sirenen, Loreley etc.). Oft ist das Verhängnis schlicht die See oder das Wasser. Tiefe und elementare Gewalten, die ja auch klassisch weiblich assoziiert werden, lassen hier (ähnlich beim unheimlichen, düsteren Keller) recht einfach psychologische oder psychoanalytisch Deutungen zu.

Randnotiz: Eine ungemein fesselnde (im doppelten Sinn!) Interpretation des Sirenenmotivs gibt es im Finale der dritten Staffel von „Love, Death and Robots“ (Serien-Rezension), Jibaro. Das Motiv wird dadurch innovativ uminterpretiert, als der Protagonist gehörlos ist – und damit für den Sirenengesang unempfänglich. Das spielt sicherlich auch in eine männlich-rationale vs. weiblich-sinnliche Symbolik, die zudem durch Gold gegen Eisen, Wasser gegen Land ergänzt wird. 15 Minuten, die sich lohnen!

Instrumentierung

  • Mythos-Musik wird häufig von einem Instrument hervorgebracht, das von einem Menschen gespielt wird.
    • Dennoch klingt sie oft polyphon oder orchestral, als wäre sie von einem ganzen Ensemble hervorgebracht.
    • Es gibt auch zahlreiche Beispiele für Bands, Ensembles oder Orchester. Solo-Interpretierende sind aber der (schwache) Regelfall, in jedem Fall aber ein eigenes Motiv, das eng mit dem Genie-Gedanken verwoben sein dürfte.
    • Musik, die ohne menschliche Beteiligung (z.B. von Mythos-Wesen) erzeugt wird, kommt vor, ist aber eher die Ausnahme.
    • Die Musikinstrumente werden teilweise, aber nicht immer als (magische) Artefakte verstanden.

In der Wahl der Mythos-Musik-Instrumente sind viele Autoren eher traditionell geprägt: Flöten, Geigen, Gamben, Gitarren; aber eben auch die experimentelle „Lunachord“ aus „The Music of the Stars“. Was sich aus heutiger Sicht als Instrument geradezu aufdrängt, ist der Synthesizer. Moderne Synthesizer können nahezu beliebige Änderungen der Klangfarbe in beliebigen zeitlichen Verläufen realisieren. Ihre Stimmung ist auf Hertz oder Cent genau einstellbar. Sie lassen sich als Rhythmus-, Melodie- und Akkordinstrument benutzen. Und sie sind während des Spiels manipulierbar. Damit sind sie einzigartig geeignet, verfremdende Effekte und ungewohnte Klänge zu produzieren. Zusammen mit Effektgeräten (um nur ein paar zu nennen: Reverb, Delay, Stretching, Detune, Fuzz) ist die Palette von „mythosähnlicher Klangerzeugung“ unendlich. Nimmt man noch Sampling und Sample-Manipulation hinzu, ist die Vorstellungskraft der einzig limitierende Faktor.

Was die Instrumente auszeichnet, ist, dass sie oft etwas spielen, was Zuhörende nicht erwartet haben. Zanns Gambe ist weder manipuliert noch kaputt, aber spielt Töne, die ein solches Instrument nie hervorbringen könnte; Tristan Zaba interpretiert dies als Zusammenbruch der Raumzeit und der davon abhängigen Obertonreihe:

When the viol starts “emitting sounds [that no] viol could emit”, we are hearing the breakdown and reestablishment of a new harmonic series, which would completely change the timbre of the instrument and render traditional tonality (and the piece) nonsensical. (Zaba, “Pieces of Reality: Lovecraft’s Innovative Depiction of Music and Relativity”, S. 196)

Menschliche Stimme

Die menschliche Stimme spielt sporadisch eine Rolle, z.B. in „The Next Big Thing“ (s.o.): Chanter und Wailer dienen als wesentliche Instrumente der Gruppe. Auch als „gregorianisch“ beschriebene Gesänge tauchen in verschiedenen Geschichten auf, etwa in „Chant“ von Rob Weinberg (2001, in „Song of Cthulhu“). Hier lesen wir:

A chant is merely another name for an invocation[.]
In „The Enchanting of Lila Woods“ spielen mehrere, teils durch Computerakustik verstärkte, Gesänge eine zentrale Rolle. Meist sind diese Beschreibungen weniger dissonant als bei anderen Instrumenten, vielleicht, weil die menschliche Stimme ohnehin einen starken emotionalen Effekt hat, der bei anderer Instrumentierung erst durch Verstimmung und ungewohnte Eigenschaften erzeugt werden muss.

Instrumente als Artefakte

Einige Instrumente der Mythos-Musik sind klar als Artefakte erkennbar, so die Flöte in „Mud“ als Unheiligtum Shub-Nigguraths. In anderen Fällen, wie der Lunachord Baldwyns in „The Music of the Stars“, ist nicht ganz klar, ob es sich um ein Artefakt oder eine brillante Ingenieursleistung handelt. Über Erich Zanns Gambe wissen wir zu wenig, um eine Entscheidung zu treffen. Brian Stableford wird in „The Legacy of Erich Zann“ zwar suggerieren, dass es sich um eine magische, verlorene Stradivari handelt, aber dieser Setzung würde ich nicht unbedingt folgen. Gerade bei Erich Zann scheint die Mythos-Wirkung eher aus dem verschrobenen Genie Zanns zu entstammen – es ist ein kompositorisches Geheimnis, keine Artefaktmagie.

Beschriebene Sinnesreize

  • Die Musik ist ein akustischer Reiz, wird aber oft begleitet von visuellen, seltener olfaktorischen Sinnesreizen und multisensorischen Trübungen.
    • Beliebt sind ein aus dem Nichts geschaffener Nebel oder visuelle Halluzinationen.
    • Die Musik muss auch nicht aus dem Instrument erklingen, sondern nimmt oft den gesamten Raum ein oder ist delokalisiert.

Die genannten Phänomene sind z.B. in „Mud“ alle vorhanden. Der Erzähler von „The Music of Erich Zann“ erleidet ebenfalls visuelle Halluzinationen. In „The Plain of Sound“ wird (leider) die akustische Ebene durch eine Visuelle ergänzt – vielleicht, weil Ramsey Campbell ansonsten das gruselige Material ausgegangen wäre? Oder weil die reine Schilderung eines „Akustik-Kriegs“ schwer zu fabrizieren gewesen wäre?

Eine Randnotiz zu anderen Sinnen sei an dieser Stelle eingeschoben. Einige Protagonistinnen und Protagonisten verlieren spätestens im Finale ihren Sehsinn: Erich Zann genauso wie der Mönch Yergler und in folge dessen Baldwyn in „The Music of the Stars“; aber auch das Publikum in der Nicht-Mythos-Geschichte „Music of the Moon“ von Thomas Ligotti. (Letztere hat ein sehr durchgängiges Augen-Motiv.) Erich Zann ist zudem bereits zu Beginn der Geschichte stumm.

Wie das zu interpretieren ist, ist sicherlich von der jeweiligen Geschichte abhängig: Hat der Sehsinn gegenüber der Musik seine Bedeutung verloren und wird nicht mehr gebraucht? Haben wir hier ein ödipales Motiv vorliegen? Steht der Sehsinn für Rationalität, einen analytisch-trennenden Verstand, der verloren geht? Braucht Zann keine Stimme, weil er das, was er sagen wollte, ohnehin nicht mit menschlicher Sprache ausdrücken kann? Oder hat ihm der Schrecken des Mythos wörtlich die Sprache verschlagen?

Soziale Wirkung: Isolation

  • Die Mythos-Musik hat auf ihre Schöpferinnen, Interpreten und Zuhörenden auch eine soziale Wirkung der Isolation, Absonderung und des „Ausstiegs aus der Gesellschaft“. Das eint sie einerseits mit anderen Wirkungen des Mythos, aber auch andererseits mit stereotypen Wirkungen des Kunstschaffens.

Dieser Punkt hängt eng zusammen mit der These, dass sich in den Komponistinnen und Komponisten des Mythos auch die Traditionslinie des Genie-Kults fortsetzt: Das Genie ist letztlich immer einsam, ein Topos, der ja auch für Lovecrafts eigene Lebensgestaltung zentral war. Das Genie ist gleichzeitig auch verschroben und gar nicht richtig sozialisierbar.

Zur anti-sozialen Auswirkung der Musik, nämlich dem Zusammenbruch der sozialen Ordnung in reine Anomie, siehe die These zu den Wirkungen, insbesondere zu den dionysisch-orgiastischen.

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile: Zusammenspiel in der Aufführung

  • Häufig sind die reinen „Kompositionen“ (also die erdachte/notierte Musik) gar nicht an sich wirksam. Erst im Zusammenspiel von Instrument(en), Komposition, Zuhörenden und eventuell Übernatürlichem, also durch Aufführung, entsteht die eigentlich „wirksame“ Mythos-Musik.
    • Eine beliebte Interpretation der Ersatz-Beobachter, also der Erzähler, sind Obertöne, die die eigentlich „weirde“ Wirkung ausmachen.
    • Ob es sich dabei nur um den Versuch der Erzählenden handelt, dem Beobachteten einen Sinn zu geben, oder ob tatsächlich „mystische Frequenzen“ als Obertöne entstehen, ist nicht immer klar.
    • Teilweise entsteht die Mythos-Musik auch erst im Zusammenspiel eines lokal erzeugten Tons und einer „Antwort“ aus fremden Welten oder Dimensionen.

Musik ist nahezu immer eine Sache, die erlebt, gehört werden muss. Das ist uns als Lesenden der Mythos-Musik-Geschichten freilich (zum Glück!) nicht vergönnt – wohl aber den „surrogate observers“, den Erzählenden. Und bei fast allen Schilderungen wird klar, dass erst die Aufführung als Zusammenspiel von Komposition und Interpretation die Mythos-Wirkung erzeugt. Selbst notierte Musik (s. die nächste These) entfaltet ihre Wirkung erst, wenn sie interpretiert wird.

Der Erzähler von „Threnody“ hört sich eine Aufzeichnung an, die sein Großvater einst nach dem Buch „Music of the Spheres“ von Maurice Zann angefertigt hat. Zunächst scheint es sich eher um eine Sammlung von auf Instrumenten erzeugten Geräuschen zu handeln, nicht um Musik. Im Laufe der Zeit schälen sich aber „strains of some unearthly harmony“ heraus:

The harmonic overtones of the mandolin, guitar, and dulcimer were producing sounds unlike any I had ever heard, even in the most radical of electronic fusion.

Nur das Zusammenspiel, die Sym-Phonie, ermöglicht hier eine Mythos-Wirkung. Auch die „Music of the Stars“ ist nur durch das Zusammenspiel von Lunachord und den Rhythmen aus der „Chronike von Nath“ möglich, angereichert durch Melodien und Harmonien Baldwyns. Bei Erich Zann haben wir vermutlich keine notierte Musik, hier handelt es sich um eine Improvisation, aber auch sie entsteht erst durch Zann, sein Instrument und die Entität hinter dem Fensterladen, die ja auch antwortet („a shriller, steadier note that was not from the viol“).

Bei Stablefords „The Legacy of Erich Zann“ kommt noch hinzu, dass die Musik nur wirkt, wenn Zuhörende schlafen oder in Trance sind:

When we sleep, our defenses are eroded, but we have countered that erosion by the strategic forgetfulness that dispels our dreams. There are, however, states intermediate between waking and sleep, in which that physiological strategy is far less effective. We enter one such state when we listen to, and respond to, music[.]

In diesem Fall sind Zuhörende natürlich auch Teil des Mysteriums der Aufführung.

Flüchtigkeit, Notation und Vervielfältigung

  • Wie alle Musik ist Mythos-Musik flüchtig, im Wesentlichen nur im Moment der Aufführung erfahrbar.
    • Das heißt: Wir sind in der Literatur nie – im Gegensatz zu den Charakteren der Stories – mit dem „Sound-Objekt“ konfrontiert, sondern nur mit einer sprachlichen Repräsentation, einer Beschreibung. Man könnte sagen: Mit einem Rezept, um den Klang nachzubilden oder zu imaginieren; oft aber nur mit einer Beschreibung ihrer Wirkung. Das teilt sie, naturgemäß, mit allen anderen übernatürlichen Elementen des Mythos wie Büchern, Artefakten und Wesenheiten.
    • Mythos-Musik ist prinzipiell durch Notation tradierbar, aber vermutlich nicht auf herkömmliche Art und Weise. Das passt ausgesprochen gut zu moderner und spätmoderner Notationstechnik.
  • Ob die Mythos-Musik zu vervielfältigen ist (auf Tonträgern, in Netzwerken etc.), variiert von Geschichte zu Geschichte. Generell ist hier vor allem der technische Stand der Realität zum historischen Setting der Geschichte entscheidend.

Eine wichtige Ausnahme zur Flüchtigkeit sehen wir in „Mud“: Hier wabert, „droned“ die Musik endlos weiter, sogar bis in den nächsten Krieg. Vielleicht war sie auch niemals weg …

Notation?

Bei „Threnody“ wissen wir, dass in „The Music of the Spheres“ Musiknoten enthalten sind, wie auch spezifische Anleitungen zur Aufführung.

In „How Nyarlathotep rocked our World“ von Greg Nicoll (2001, in „Song of Cthulhu“) verteilt ein Avatar des kriechenden Chaos die todbringende Partitur – und lehrt den musikalisch unbeleckten Bassisten rasch noch das Notenlesen. Es scheint sich zwar um Pergament („parchment“), ansonsten aber um eine Partitur in gewohnter Notation zu handeln. (Warum es kein Papyrus ist, wissen die Äußeren Götter.)

Eine derartige Partitur gibt es aber in den wenigsten Geschichten. Erich Zann improvisiert, Baldwyn hat seine Musik vermutlich komponiert und einstudiert, der Erzähler von „Mud“ spielt aus dem Gedächtnis bzw. nach Gehör.

Algorithmen, Generative Music, Avant Garde

In „The Enchanting of Lila Woods“ scheint es eine Art Algorithmus oder Rezept zu geben, nach dem die Frauen eines Frauenhauses ihre Gesänge aufbauen. Dieses erinnert an ein Experiment, das Brian Eno in „A Year with Swollen Appendices“ in einem Essay über „The Great Learning“ von Cornelius Cardew schildert:

Cardew’s score is very simple. It is written for any group of performers (it does not require trained singers). There is a piece of text (from Confucius) which is divided into 24 separate short phrases, each of one to three words in length. Beside each phrase is a number, which specifies the number of repetitions for that line, and then another number telling you how many times that line should be sung loudly. […] The singer then moves on to the next line, choosing a new note. The choice of this note is the important thing. The score says: ‘Choose a note that you can hear being sung by a colleague. If there is no note, or only the note you have just been singing, or only notes that you are unable to sing, choose your note for the next line freely. Do not sing the same note on two consecutive lines. Each singer progresses through the text at his own speed.’

Diese Selbstorganisation funktioniert – im von Eno geschilderten Experiment genauso wie in der Geschichte. In „The Enchanting …“ wird diese Musik einen Avatar Shub-Nigguraths aufwecken, der dann erst durch eine Art Wiegenlied wieder in seinen ewigen Schlaf unter Arkham gebannt werden wird. Die Regel, nach der die Frauen singen, scheint den interkulturellen Experimenten der Betreiberin des Frauenhauses zu entstammen.

Mich hat verwundert, wie absent moderne Avant-Garde-Notation in den Geschichten ist. Wenn man sich einige Beispiele bei John Cage, Brian Eno oder Cornelius Cardew ansieht, liegt die Nähe zu Sigillenmagie und Mythos-Büchern ja direkt auf der Hand …

Bildersuche nach Enos Notation für „Music for Airports“

Vervielfältigung

Auch die Frage der technischen Vervielfältigung ist in den Geschichten unterschiedlich gelöst. In „Chant“ ist die ganze Idee der Geschichte, dass eine Gesangsaufnahme die Hitlisten stürmt, um R’lyeh aus den Fluten zu heben. Auch in „Threnody“ ist eine Aufnahme wirkmächtig: Die Original-Aufführung war zu leise gewesen und hatte nichts beschworen; als der Erzähler aber die Aufnahme so laut abspielt, dass die Anlage übersteuert, erreicht er die Lautstärke, die im Mythos-Text gefordert war. Und der „Fugue Devil“ ist aus dem Sack.

In „Paedomorphosis“ von Caitlin Kiernan (1997, in „Song of Cthulhu“) spielen auch Sound-Samples eine wichtige Rolle. Die Musik selbst scheint keine besondere Mythos-Wirkung zu haben, aber die Art und Weise, wie eine junge Musikerin an die Sound-Samples gelangt, hat durchaus Mythos-Bezug.

Bei der meisten Mythos-Musik ist aber durchaus zu bezweifeln, dass sie auch aus der Retorte wirkt. Bei „How Nyarlathotep rocked our World“ ist (wie bei Thomas Ligottis „Music of the Moon“) das Konzert das eigentliche Ritual, um das Publikum in andere Dimensionen zu entführen. Es ist fraglich, ob eine Aufzeichnung überhaupt eine Wirkung. Das Ritual in „How Nyarlathotep …“ ist zudem zeitlich an die Mondphasen gebunden, sodass es vielleicht sogar einen Unterschied machen würde, wann eine Aufnahme abgehört wird.

Der Fantasie zukünftiger Mythos-Schriftstellerinnen ist aber natürlich keine Grenze gesetzt, was Streaming-Mythos-Rituale anbelangt. Die Geschichten zeigen klar, dass neue technische Machbarkeiten auch neue Ideen gebären, wie man den Mythos in musikalische Horror-Geschichten bringen kann.

Eigentümlichkeit von Musik als Motiv

  • Musik im Mythos ist nicht gegen andere Artefakte oder Entitäten austauschbar, so wenig ein Gott gegen ein Buch oder ein Kult gegen ein Monster ausgetauscht werden kann.
    • Musik bringt eigene Erwartungen und Prägungen mit sich, musikalische Symbole reihen sich in einen eigenen Kanon ein.
    • Die Musikgeschichte dient immer wieder als Anknüpfungspunkt für mythos-musikalische Erzählungen.
    • Ein wichtiges Moment ist hierbei die Aufführung: Wäre eine Partitur bereits magisch wirksam, handelte es sich um ein Mythos-Buch. Die in den Geschichten beschriebene Musik ist aber erst durch die Aufführung als (privates) Konzert, Musical, Festival etc. verheerend.

Kompositionen als „Mythos Tomes“

Als ich den DLG-Wiki-Eintrag „Musik im Mythos“ angelegt habe, war ich mir nicht ganz sicher, wie ich ihn kategorisieren soll. Die Kategorie „Musik“ bezieht sich auf reale, hörbare Musik; hier kann das literarische Motiv (als das ich „Musik im Mythos“ vorerst begreifen will) also nicht untergebracht werden. Daher landete er dann in der Rubrik „Artefakte“ – das schien mir dem, wie ich Musik als Mythos-Motiv verstehe, am nächsten zu kommen.

Musik ist in ihrer Abstraktheit, darin, dass sie sich letztlich der Beschreibung entzieht, nicht beliebig gegen Bücher oder andere Artefakte austauschbar. Ein leuchtender Trapezoeder mag visuell schwer beschreibbar sein, erst Recht die „Farbe aus dem All“. Aber letztlich lassen sich ihre Eigenschaften dennoch besser darstellen als diejenige einer erklingenden Mythos-Musik. (Die unbeschreibliche Schwärze vor Erich Zanns Fenster ist nur deshalb ein gutes Motiv in der Geschichte, weil die Musik als Gegenpart existiert. Sonst wäre sie einfach nur abstrakt.)

Schwieriger ist die Abgrenzung zu Mythos „Tomes“, und zumindest bei notierter Musik kann diese durchaus als doppelt wirksames Buch verstanden werden. Sie ist einerseits ein Mythos-Buch, das z.B. bei der Lektüre wahnsinnig machen kann. Andererseits ist sie wie ein Mythos-Buch, das erst durch laute Rezitation, also Aufführung, ihre übernatürliche Wirkung entfaltet. Das erinnert sicher nicht zufällig an den „King in Yellow“, das Wahnsinn verbreitende Theaterstück Robert W. Chambers.

Auch der Inhalt des Necronomicon ist nur durch seine verderbende Wirkung beschreibbar.  Am Versuch, einen Auszug aus dem Necronomicon als Mythos-Geschichte zu verkaufen, scheitern in meinen Augen auch literarische Größen wie Robert M. Price mit „Ghoul’s Tale“: Der Inhalt muss unnennbar bleiben. Aber das Necronomicon als Objekt kann ich mir besser vorstellen als das Sound-Objekt der Musik des Erich Zann.

Musikgeschichte als Anknüpfungspunkt

Einen Ansatz alternativer Musikhistorie haben wir bereits in „Music of the Stars“ gesehen. In „The Next Big Thing“ von Rob Suggs finden wir zudem eine Musikgeschichte, die den Einfluss Nyarlathoteps (?) darstellt: Während die sehr frühe Musik reines Chaos war, die Zivilisation dann aber Ordnung in der Musik erschuf (Platon lässt grüßen), sorgt die Seele der Äußeren Götter im Laufe der Jahrtausende für zunehmende Eskalation, Disharmonie, Dissonanz und letztlich eine Rückkehr zum reinen Chaos (das in einer bürgerkriegsähnlichen Katastrophe endet).

Dionysische Musik

  • Es geht selten um „apollinische“ Musik, also nicht um strenge Form und Kompositionsschemata; allermeistens geht es um dionysische Musik.
    • Diese begründet eine Nähe zu Shub-Niggurath und Fruchtbarkeitskulten.
    • Selbst rational komponierte Mythos-Musik zeitigt eigentlich immer einen schrecklichen Zusammenbruch der apollinischen Struktur und Ordnung.
    • Schon im vielleicht bekanntesten musikbezogenen Bild des Mythos, dem Trommler- und Flötisten-Hofstaat Azathoths, erkennen wir ja die um Dionysos tanzenden Satyrn. Flöten und Trommeln weisen auf antike, rituelle Bezüge. (vgl. Salonia, „Cosmic Maenads and the Music of Madness“)
    • Dazu gehört die Feststellung, dass Rhythmus (und Perkussionsinstrumente) eine prominente Rolle spielen: Es handelt sich oft um Ritualmusik (die realweltlich wie auch im Mythos ja u.a. dazu dient, Trancezustände zu befördern).
    • Mit der rituellen Sphäre der Musik eröffnet sich ein ganz eigener Symbolkanon: Wir denken an Hexenzirkel, den Sabbat, die Dionysien und Bacchanalien, an orientalisch-arabische oder afrikanische Musik, Schamanismus, Stammesriten.
    • Dadurch werden Begierden wachgerufen, nach Orgien, Ausschweifungen, Drogen, Rausch.
    • Diese Symbole verweisen gleichzeitig auf eine Ur-Angst des Menschen vor der enthemmten Horde. Anomie, Massenhysterie, Bürgerkrieg, der Zusammenbruch zivilisatorischer Ordnung wird aufgerufen.

Wir haben uns über einige der dionysischen Implikationen bereits bei den Wirkungen weiter oben Gedanken gemacht. Viel mehr ist dazu auch nicht zu sagen: Es geht bei der Mythos-Musik nicht um die Ordnung und Struktur eines geordneten Kosmos, sondern um deren Störung durch das Chaos. Es führt hier philosophisch vermutlich zu weit, den Mythos abzuklopfen, ob er eher eine monistische oder eine dualistische Philosophie begünstigt. Das könnte aber ein fruchtbarer Ansatz für weitere Artikel sein: Ist das Chaos der dualistische Gegenpol zum Kosmos, oder sind die beiden in einem verwoben und die jeweilige Betonung z.B. nur eine Frage der Beobachtung?

In jedem Fall werden wir hier mit etwas konfrontiert, was man in Anlehnung an den Theologen Rudolf Otto das „mysterium tremendum“, also das Erschütternd-Göttliche, nennen kann. Dieses Göttliche steht im Widerstreit mit dem Göttlich-Faszinierenden: Wir haben hier wieder eine gleichsam anziehende und abstoßende Dualität oder Polarität. Zur weiteren Exploration dieses Gedankens empfehle ich das erste Kapitel von Eric Wilsons „The Republic of Cthulhu“ (2016, Open Access) mit dem Titel „Gods and Monsters“. Wilson schreibt hier:

As Lovecraft’s greatest critic Maurice Levy points out, the overriding aesthetic impulse of the Lovecraftian text is to induce within the post-theistic reader a sense of that primordial dread that was the hallmark of primitive religious experience, the violent and unmediated  encounter with the Wholly Other.

Der „violent encounter with the Wholly Other“ wird in frühen, „primitiven“ Religionen ganz direkt in Form von Kannibalismus, Menschenopfer usw. repräsentiert.

Die Musikschaffenden in den Geschichten

  • Mythos-Musikschaffende sind ein Pendant zu Forschenden – ein bisschen Archäologe, ein bisschen Chemikerin. Sie sind gleichzeitig natürlich Kunstschaffende.
    • Sie entdecken oder entwerfen Neues, das ungeahnte Folgen haben kann.
    • Ihre Motivation ist meistens künstlerisch, explorativ oder unklar. Neugier und Kreativität sind häufige Beweggründe. Aber auch eine direkte Mythos-Wirkung kommt als Ziel vor, ob bannend oder schadend.
    • Der realweltliche, moralische Bezug könnte lauten: Gebt acht, was ihr komponiert, und achtet die Hörenden, auf deren Gefühls-Klaviatur ihr spielt! In einer latent amoralischen, „kosmischen“ Philosophie spielt eine derartige Erwägung natürlich nur eine untergeordnete Rolle.
    • Sowohl Komponierende als auch Interpretierende werden häufig, wohl der romantischen Tradition folgend, als Genies dargestellt (Marotten und Exzentrik inklusive).
    • Unabhängig davon, wie brillant die dargestellten Musikschaffenden sind, sind es letztlich aber eher die Mächte des Mythos, die auf ihnen spielen, als umgekehrt.

Die meisten Mythos-Musik-Geschichten dürften S.T. Joshi gefallen, der schreibt:

What has been happening in weird fiction since Lovecraft is a vast reorientation of focus: ordinary people are somehow regarded as intrinsically important, and the weird phenomena are, very broadly, seen as threats to their middle-class stability. […] I do not think that weird fiction should be about ordinary people. (Joshi, „The Advance of the Weird Tale“)

Gewöhnliche Menschen sind die meisten Protagonisten der Mythos-Musik-Geschichten nicht. Viele zeigen klare Genie-Eigenschaften, mindestens aber charakterliche Absonderlichkeiten. Die Ausnahme unserer drei Hauptgeschichten ist der Cellist und Soldat in „Mud“: Er stolpert in die Geschichte hinein und muss sich dann der Mythos-Kräfte erwehren. Darüber, ob er ein Virtuose oder genialer Musiker ist, erfahren wir nichts. Die Eigenheit, als Musiker in eine Mythos-Musik-Geschichte zu stolpern, hebt ihn aber dennoch über den durchschnittlichen „ordinary middle class“ Protagonisten.

Ganzheitliche Sinnlichkeit und Symbol des Unerfahrbaren

  • Durch die Darstellung eines körperlich-sinnlichen Eindrucks, der aber aus geistig-kompositorischer Betätigung rührt, werden alle Wahrnehmungsebenen des Menschen angesprochen: von den Trieben über die Emotio bis zur Ratio. Sie weist symbolisch aber darüber hinaus auf Unnennbares und Unerfahrbares
    • Dissonanzen und Verstörungen kommen auf allen Ebenen vor: Die Entfremdung durch den Mythos ist umfassend und vollständig, vom Konkreten bis ins Ephemere.
    • Die Musik dient damit als Symbol, das auf das Unbeschreibbare (s.o. These 1) verweist, dabei aber eine „Zwischenstufe“ der Abstraktion betritt. Im Gegensatz zu einer reinen mystischen Erfahrung ist sie in Ansätzen beschreibbar, entzieht sich dann aber doch.
    • Das Unbeschreibbare ist kosmischen Ursprungs (im Sinne einer kosmischen oder kosmizistischen Philosophie).
    • Die Musik ist damit eine latent, aber nicht vollständig abstrahierte, als Sound-Objekt beschriebene Verkörperung der an sich unbeschreibbaren kosmischen Angst.

Funktion von Musik als Thema/Topos/Motiv

Musik erfüllt eine wichtige Funktion zwischen dem „unsagbaren“ Schrecken, der abstraktesten Angst (vor der Leere, vor der Angst selbst), und dem konkreten, monströsen, abgründigen, aber dennoch greifbaren Schrecken. Musik funktioniert als ein Symbol, die die abstrakteste „kosmische“ Angst in ein (flüchtiges) Erleben übersetzt.

Die vielleicht direkteste Umsetzung finden wir bereits bei „The Music of Erich Zann“: Während die krumme und schiefe Rue d’Auseil auf die krumme Statur und die schiefe Psyche Zanns verweist, verweist seine Musik auf die Dunkelheit hinter den Fensterläden. Diese Dunkelheit ist nicht direkt erfahrbar – der Erzähler versucht gar nicht erst, sie zu beschreiben („no semblance of anything on earth“). Aber durch die Zwischenebene der Musik können wir ein bisschen mehr von ihr erfühlen. (Siehe hierzu auch den Essay „The Dark Beauty of Unheard Horrors“ von Thomas Ligotti.)

Eine interessante philosophische Frage tut sich auf: Kann man eine Entität wie Azathoth als ein Ereignis interpretieren – als ein „Ritual“ oder eine Aufführung, die nicht nur von Musik begleitet ist, sondern die tatsächlich aus Musik besteht? Sphärenschwingungen wie bei Pythagoras? Die Zeile aus „Fungi from Yuggoth“ (Lovecraft 1929/30), nach der die Azathoth umgebende Flötenmusik „Gives each frail cosmos its eternal law“, deutet darauf hin. Azathoth wird hier weniger als Subjekt oder mit Bewusstsein ausgestattetes (Lebe-) Wesen, sondern eher als Automat oder „Naturkraft“ dargestellt. (Die Frage nach der Essenz Azathoths überlassen wir aber lieber reddit und /r/lovecraft. Da wird genug darüber philosopiert.)

Symbolkomplex: Sphärenmusik, Schöpfung, Kosmos, Chaos

Wenn Sphärenmusik die Ordnung des Universums repräsentiert, dann zeigt Mythos-Musik eine zentrale Störung dieser Ordnung auf. Das Symbol Musik ist hierfür einzigartig geeignet, da ihr spätestens seit der Antike eine Nähe zur kosmischen Ordnung anhaftet. Fred Lubnow fasst in „Lovecraftian Science“ zusammen:

The “Music of the Spheres” was a term that was originally used to describe the harmonic and mathematical movement of the “planets,” which in the time of Pliny the Elder, Gaius Plinius Secundus, included Saturn, Jupiter, Mars, Sun, Venus and Moon[.]
Pythagoras […] connected the planetary orbits and their associated numerical ratios with musical notes (sounds frequencies) in proportion to the length of string and its associated sound.

Die (zuweilen etwas überladene) Story „The Legacy of Erich Zann“ wartet mit einer noch komplizierteren Musik- und Geistesgeschichte auf. Hier wird aus (neo-) pythagoreischer Zahlenmystik und spätantiker Metaphysik eine ganze musikalische Ontogenese hergeleitet. Alles ist Schwingung, durchwabert vom kriechenden Chaos. (Ich vermute, hier müsste man einige philosophiegeschichtliche Quellen danebenlegen, um das Ganze zu durchdringen – oder zu entlarven.) Ich werde das Gefühl nicht los, dass der Autor hier auch gerne Schopenhauer eingeflochten hätte, was aber nicht geht, da die Geschichte um 1800 spielt.

Zwischen Musik und Krach

  • Mythos-Musik muss musikalisch genug sein, als Musik durchzugehen, aber fremdartig und „unmusikalisch“ genug, um Faszination, Verwirrung und vielleicht auch Repulsion zu erzeugen.
    • Der Ursprung aus der Musik ist meist am Anfang der Geschichte bzw. der erzählten Aufführung noch klar erkennbar.
    • Im Verlauf der Geschichte, spätestens im Finale wird die Musik zu einer unbeschreiblichen Kakophonie, zu reinem Lärm.
    • Meist mischt sich aber bereits zu Beginn Dissonanz und Entfremdung in die Musik.

Damit die Musik als Symbol funktionieren, also greifbar auf etwas anderes verweisen kann, muss sie eine gewisse Rückbindung an etablierte Hörgewohnheiten aufweisen. Diese muss sie dann aber auch brechen. Das funktioniert in manchen Geschichten einfach durch Chronologie: Das Mythos-Konzert steigert sich z.B. in „How Nyarlathotep rocked …“ oder „The Next Big thing“ von etwas annähernd Hörbarem (im doppelten Sinn) zu einer reinen Kakophonie.

Andere Geschichten setzen auf eine Durchdringung der „angenehmen“ und „vorstellbaren“ Frequenzen und Harmonien mit dem Unsagbaren, Unbeschreiblichen und Grauenerregenden (am prominentesten in „The Music of Erich Zann“).

Was macht das Spezifische der Mythos-Musik gegenüber anderer Musik im Horror aus?

Müsste ich ein Spezifikum festmachen, dann wäre es der Verweis auf das Kosmische: Unfassbares erzeugt eine andere Angst als Monster, Mörder, Maschinenwesen: es erzeugt eine Atmosphäre der Angst, ein Gefühl der Angst, eine vielleicht nur selbstbezügliche Angst. Und Mythos-Musik ist ein Motiv, vielleicht das geeignetste, um genau diese Angst darzustellen – und im besten Fall ein bisschen erlebbar zu machen.

Und wie klingt das nun? Realweltliche Musik, die der Mythos-Musik nahekommt

Versuch einiger oberflächlicher Annahmen über die Harmonie von Mythos-Musik

Bei realweltlichen Annäherungen an Mythos-Musik stehen oft „unpassende“ Harmonien im Zentrum, wenn es überhaupt eine klassisch analysierbare Harmonie gibt (was z.B. nicht in allen „Drone“-Stücken der Fall ist). Versuchen wir kurz, ein paar harmonische Annahmen aus der realen Welt auf die Mythos-Musik zu übertragen:

Zu den eher ungewohnten Klängen unserer Dur-Moll-Tonalität gehören verminderte Akkorde, insbesondere, wenn sie auf der Tonika, also dem tonalen Zentrum eines Stückes aufbauen (z.B. C° in C-Dur oder C-Moll). Wesentlich fremdartiger noch wirken übermäßige Akkorde, da sie in den Tonleitern der normalen Dur-Moll-Tonalität gar nicht auftauchen. Und auch unpassende, in der jeweiligen Skala nicht enthaltene Erweiterungen (z.B. eine b9 in Dur) wirken verfremdend – im schlimmsten Fall einfach falsch.

Butter bei die Fische: Wie klingt der Mythos?

Wir wissen, dass wir an der Antwort scheitern müssen, aber wir können versuchen, uns anzunähern. Die Antwort ist zeitabhängig: Während in den 30er Jahren Jazz und Boogie-Woogie in den Sinn kamen, ist es heute vielleicht Heavy Metal (oder Doom Metal, Grindcore, …).

Insgesamt können wir aber wohl mit einigem Recht Folgendes erwarten:

  • als „merkwürdig“, „weird“ empfundene Harmonien; Dissonanzen
  • „fremdartiger“ Umgang mit Form, Aufbau, Tempo, Rhythmus
  • Drone Music, die sich kaum verändert – Zeit und Raum stehen still …
  • religiös inspirierte Musik (Gesänge, Ritualmusiken)
  • sehr experimentelle Musik.

In die letztere Kategorie gehört z.B. die knapp 700 Jahre dauernde Cage-Aufführung in Halberstadt. Vielleicht spielt ein Flötist Azathoths ja nur alle 30 Millionen Jahre einen Ton? Das wäre für menschliche Zuhörende dann vollkommen irrelevant, weshalb die „menschliche Tradition über den Mythos“ naturgemäß auch innerhalb der Fiktion auf andere Musiken fokussiert, die vorstellbar und theoretisch hörbar sind. Oder anders gesagt: Eine Tonänderung alle 30 Millionen Jahre wäre für uns als Lesende in keiner Weise als Musik zu verstehen.

Versuche der Rezeption wurden vor allem in zwei Genres unternommen: im Heavy Metal und in der experimentelleren Ambient-Elektromusik. Zu beiden Bereichen verweise ich auf den Eintrag „Vom Mythos beeinflusste Musik“ im Wiki der Deutschen Lovecraft Gesellschaft, an dem ich eifrig mitgewirkt habe (vor allem im nicht-metallischen Abschnitt). Die passende Spotify-Playlist findet sich noch hier im Blog.

Ausblick?

Ich denke, in der Verwendung von Musik als Mythos-Story-Motiv ist noch Vieles möglich. Die Vorstellungskraft der Mythos-Schaffenden hat sich klar jederzeit vom technisch Machbaren prägen lassen. Prinzipiell am liebsten waren mir die Geschichten, die die genaue Wirkungsweise der Musik in einem Schleier der Verdrängung oder des Vergessen verschwinden ließen.

Ich warte daher nun gespannt auf eine Mythos-Story, die musiktheoretische Erwägungen aus den „Unaussprechlichen Kulten“ mit einem magischen Synthesizer und einer Verbreitung via Bandcamp verbindet. Und alle Gabber-Fans werden wahnsnnig.

Im vierten und abschließenden Teil folgt der Versuch, einen kleinen Kanon der Mythos-Musik-Stories zu liefern.

Weiter geht’s in Weird Harmonies (4): Literatur und Anhänge. Hier geht’s zum Inhaltsverzeichnis aller Artikel der Reihe.


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Der Beitrag Weird Harmonies (3): Eine Typologie übernatürlicher Musik im Cthulhu-Mythos erschien zuerst auf Dennis Schmolk.

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Der Beitrag Weird Harmonies (2): „Music of the Stars“ und „Mud“ erschien zuerst auf Dennis Schmolk.

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A wave of cold horror swept me as the awful melody and counter-melody rose to a higher pitch. The instrument quivered and screamed as with agony.
Duane Rimel: Music of the Stars

Im ersten Teil dieser Artikelreihe zur Rolle übernatürlicher Musik im Cthulhu-Mythos haben wir uns „The Music of Erich Zann“ näher angeguckt. Bevor wir uns der Frage nähern, wie Mythos-Musik „funktioniert“, sammeln wir noch ein wenig Material aus Primärquellen. Über die Auswahl habe ich im ersten Artikel berichtet; sie ist natürlich kontingent und könnte auch anders aussehen. Mir scheinen aber die folgenden beiden Geschichten, „Music of the Stars“ (1943) von Duane Rimel und „Mud“ (1997) von Brian McNaughton, repräsentativ für Musik als Mythos-Element.

„Music of the Stars“ (1943) von Duane Rimel

Die kurze Geschichte „Music of the Stars“ (Volltext) erschien 1943. Der Erzähler, Rambeau, berichtet darin, wieso er sich im Jahr 1940 gezwungen sah, seinen Freund Frank Baldwyn zu töten. Die beiden verband eine Freundschaft „nourished by avid mutual interests in weird music and literature“ – wobei Rambeau anmerkt, dass er sich dabei stets im Schatten Baldwyns fühlte:

Baldwyn was a pianist of great ability, and I admired the talent which dwarfed my own musical skill. The wild, weird music he loved often drove me into fits of melancholy I could not fathom. It is indeed a pity that none of those original manuscripts were saved, for many of them were classics of horror, and others so fantastic that I would hesitate to call them music at all.

Die eigentliche Geschichte setzt ein, als Rambeau seinen Freund besucht und dieser ihm von „several combinations of musical tones that disturbed him“ berichtet. Eine Kostprobe versetzt auch den Erzähler in Aufruhr:

There was a weird cascade of sound as he ran the whole-tone scales from one end of the piano to the other, followed by a series of intricate variations that startled and amazed me. I had never heard anything to compare with it; it was utterly “out of the world.”

Eine Ganztonleiter war um 1940 nicht mehr völlig „unerhört“ – Beispiele finden sich schon im Barock und in der Romantik, vor allem als Spannungselement –, aber sicherlich noch nicht so vertraut wie für heutige (Jazz-) Hörerinnen und Hörer. Trotz des Rambeau offenbar zu Gebote stehenden musikalischen Begriffsapparats versagt seine Sprache dann aber doch vor der Musik:

The strains were eerie and unearthly, and stirred the very reaches of my soul. It resembled no standard classical music such as Rachmaninoff’s “Isle of the Dead,” or Saint-Saens’ “Danse Macabre.” It was tortuous, musical madness. At last the thing ended with a crash of discord, and a strained silence fell over the shadowy room.

Die Einordnung der beiden Stücke als „standard classical music“ lassen wir hier mal unkommentiert, siehe dazu auch den Exkurs zu Rimels Essay „Weird Music“ weiter unten. Die Musik zeitigt jedenfalls Wirkung: In den Wänden (Delapore, ick hör dir trapsen!) ist plötzlich das Geräusch trippelnder Ratten zu hören. Baldwyn vergleicht sich mit dem magischen Rattenfänger von Hameln („Pied Piper“) und triumphiert:

I’m going to compose the music that makes men go mad, learn the music of the stars . . . even if I have to use special instruments to do it.

Zum „special instrument siehe unten. Rambeau will widersprechen, ist aber von der Musik und ihrer Wirkung zu sehr gebannt. Und nun folgt der erste Mythos-Bezug, mit dem der Erzähler vor den Lesenden rechtfertigt, nicht einfach das Haus zu verlassen und Baldwyn seinen Illusionen zu überlassen:

We had read that strange story of Erich Zann and the fate he met tinkering with musical threads of the ultimate void. Nor were we ignorant of the savage music with which certain tribes in Haiti summon their evil Gods.

Das Mythos-Buch: „Chronike von Nath“ und die wildesten Rhythmen

Nun werden einige Mythos-Werke wie das Necronomicon „genamedroppt“, eine Brieffreundschaft mit Lovecraft wird (zum zweiten mal) impliziert und das eigene Mythos-Buch „Chronike von Nath“ eingeführt:

On one of my rounds of book-shops in Spokane I had found, by sheer accident, an English translation of the Chronike von Nath by the blind German mystic, Rudolf Yergler, who in 1653 finished his momentous work just before his sight gave out. […] As Baldwyn gradually disclosed his scheme for composing the music of the stars, he referred again and again to passages in the Chronicle of Nath. And this frightened me, for I too had read it, and knew that it contained odd musical rhythm patterns designed to summon certain star-born monsters from the earth’s core and from other worlds and dimensions. For all that, Yergler had not been a musician, and whether he had copied the formulae from older tomes or was himself their father, I was never able to find out.

Hier haben wir lediglich eine Referenz auf „komische musikalische Rhythmus-Muster“ als einzige Beschreibung des Buchinhalts, was etwas dünn anmutet.

Die „Lunachord“

Rimel macht uns aber gleich klar, dass Baldwyn eventuelle Lücken in der „Anleitung“ durch technisches Genie kompensieren könnte:

He said the preliminary work would require solitude for a week, at least. That would give him sufficient time to decipher the sinister formulae in the ancient book, and to make adjustments on his Lunachord upstairs. He was a master technician, and had found on his instrument tonal combinations that baffled fellow musicians. Milt Herth, of radio fame, has done the same thing on a Hammond Organ, which the Lunachord closely resembles. Since a Lunachord’s tones are actually electrical impulses, controlled by fifteen dials on the intricate panel above the two keyboards, and capable of imitating anything from a bass horn to a piccolo, the variations are endless. Baldwyn estimated that there were roughly over a million tonal possibilities, although many would possess no distinction. I wondered at first how he had planned to invent such outre music on a mere piano; but here, ready-made, was the solution—a scientific achievement awaiting exploration.

Was wir hier lesen, ist die Beschreibung eines analogen Hardware-Synthesizers. Man beachte auch die Erwähnung der Hammond-Orgel, die erst 1935 produziert wurde. Aus damaliger Sicht muss ein derartiges Gerät ungeahnte und schwer vorstellbare musikalische Möglichkeiten repräsentiert haben.

Die Erstaufführung der „Music of the Stars“

Das einzige, was Rambeau auf dem Heimweg beruhigt, ist, dass er an Baldwyns Plan trotzdem noch zweifelt: „Indeed, what earthly music—i.e., musical tones audible to the human ear—could call from the gulf something totally unearthly?“ Es kommt dann aber natürlich, wie es kommen muss. (Die Geschichte ist relativ vorhersehbar, was aufgrund der Kürze aber nicht viel ausmacht.)

Nach einer Woche ist Baldwyn sichtlich gealtert, völlig verbraucht und wirkt nicht mehr ganz zurechnungsfähig. Bevor er Rambeau seine Komposition präsentiert, lässt er es sich aber nicht nehmen, eine kurze, alternative Musikhistorie zu skizzieren:

You see, at the very beginning there were two altogether different types of music—the type we know and hear today, and another one that isn’t really earthly at all. It was banned by the ancients, and only the early historians remember it. Now, the negro jazz element has revived some of these outré rhythms. They’ve almost got it! These polyrhythmic variants are close; boogie-woogie has a touch.

Auch hier wird also wieder ein rhythmisches Element betont. Einerseits passt das gut zu einem Tasteninstrument wie der Lunachord. Andererseits scheint deren Stärke ja darin zu liegen, dass sie vor allem die Klangfarbe, vielleicht auch die Tonhöhe im mikrotonalen Bereich beeinflussen kann.

Baldwyn setzt jedenfalls an, zu spielen, was den aufgebrachten Erzähler von seinem Plan abbringt, die Aufführung doch noch zu verhindern:

He had started to play, and the whispering chords silenced me quicker than a hand clapped over my mouth. I had to listen; genius will permit nothing else. […] The music swelled, following strange rhythm patterns I had never heard before and hope never to hear again. They were unearthly, insane. […] It was madness; the rhythms were older than the dawn of mankind, and infinitely more terrible. They reeked of a nameless corruption. It was evil—evil as the Druid’s song or the lullaby of the ghoul.

Und nun haben wir auch eine latente Beschreibung der Form des Stückes (Melodie und Gegenmelodie) – sowie des Timbres der Töne, die die Lunachord hervorbringt:

A wave of cold horror swept me as the awful melody and counter-melody rose to a higher pitch. The instrument quivered and screamed as with agony.

Ein Schrecken mit Ende (?)

Die beiden sind während der Aufführung plötzlich von Poltergeistphänomenen umgeben, das Dachfenster birst und die Sterne sind zu sehen. Etwas dringt in das Musikzimmer ein, „a flaming eye, a slimy tentacle, and a grisly paw extending downward“, und packt Baldwyn. Ein Gerangel bricht los, Baldwyn bricht über der Lunachord zusammen. Er kommt noch einmal zu sich, geblendet, und bittet Rambeau, ihn zu erschießen – was dieser nach einigem Zögern tut.

Nach dem schrecklichen Konzert wird Rambeau inhaftiert; die Unterlagen Baldwyns sind vernichtet:

All of Baldwyn’s manuscripts were burned—including the copy of Yergler’s evil book—by a special court order. It seems the neighbors heard the screams and the savage music.

Rambeau wartet auf seine Hinrichtung, geplagt von Reue – und wiederkehrenden Visionen des Horrors, den Baldwyn beschworen hatte …

Zusammenfassung des Musik-Motivs bei Rimel

Die meisten Eigenartigkeiten und Eigenarten der Musik, die Baldwyn spielt, sind oben bereits ausgeführt. Blicken wir trotzdem noch einmal zusammenfassend auf die Beschreibungen und Funktionen.

Beschreibung der Musik

Wie so oft wird die Musik vor allem durch ihre Wirkung auf den Erzähler Rambeau, und sekundär auch auf den Interpreten Baldwyn geschildert. Der Einfluss ist gleichzeitig hypnotisierend und verheerend – eine Melange aus Lust und Angst. Und dann hat die Musik logischerweise auch noch eine übernatürliche Wirkung: Sie beschwört etwas von den Sternen herab, das physische (mechanische, olfaktorische, visuelle, …) Auswirkungen auf den Raum und die Beteiligten hat.

Zudem erfahren wir in der Geschichte etwas darüber, wie die Musik klingt: dissonant und schrill, vor allem gegen Ende hin in den höheren Registern angesiedelt. Formal erfahren wir nur, dass es sich um „melody and counter-melody“ handelt – möglicherweise also ein kontrapunktisches Stück?

Viel wichtiger ist aber die zentrale Bedeutung des Rhythmus‘. Das Mythos-Buch „Chronike von Nath“ enthält „odd musical rhythm patterns designed to summon certain star-born monsters from the earth’s core and from other worlds and dimensions“. Die Rhythmen werden mit „negro jazz elements“ und „boogie-woogie“ verglichen, aus heutiger Sicht ein arg beschränkter Vergleich: Es gibt inzwischen Stücke mit Takten wie „1/√π/√⅔“ (No. 41a der ‘Study for Player Piano’ von Conlon Nancarrow, natürlich für ein automatisches Instrument, das Player Piano, geschrieben). Wer mehr über „odd time signatures“ lesen möchte, findet hier eine Hitliste. Und in diesem Video untersucht Adam Neely ein populäres Stück mit sehr irritierenden „micro rhythms“.

Aber zurück zu unserer Geschichte: Jazz und Boogie-Woogie mögen der weißen Mittelklasse der 30/40er Jahre als exotisch und fremdartig vorgekommen sein. Synkopen und Polyrhythmen mögen den Hörgewohnheiten widersprochen haben. Derartiges ist heutzutage in jedem zweiten populären Radio-Song zu hören, sodass man die Beschreibung tatsächlich zeitgebunden verstehen muss. (Man beachte auch den rassistischen Unterton: „They’ve almost got it!“ – hier wird einerseits angedeutet, dass die schwarze Musik beinahe furchtbare mythosmusikalische Auswirkungen gehabt hätte; andererseits, dass sie das in ihrer intuitiven Naivität dann eben doch nicht geschafft hat und auf das weiße Genie warten musste. Puh.)

Leider kann man sich dann, allen Vergleichen zum Trotz, die entstehende Musik doch nicht recht vorstellen. Wir wissen, dass sie recht schnell sein muss – vor meinem inneren Ohr zieht eine komplexe Bach-Fuge mit seltsamem Rhythmus und vielen Dissonanzen vorbei, gespielt auf einem modularen oder additiven Synthesizer. (Was Bach nicht absprechen soll, vielfach merkwürdige Taktarten und dissonante Reibungen verwendet zu haben!) Ob sich Rimel das auch so vorgestellt hat? Hat er es sich vorgestellt?

Die Notation der „Music of the Stars“

Es wird, wie meist bei Mythos-Büchern, nur angedeutet, was der Inhalt des Buches „Chronike von Nath“ ist. Klar ist, dass darin nur theoretische Überlegungen stehen – keine fertigen Partituren. Die aufführbare magische Komposition kommt nur durch a) den Mythos-Text, b) Baldwyns kompositorisches Genie und c) die klanglichen Möglichkeiten der Lunachord zusammen. Das Resultat ist offenbar aufführbar, aber nicht notierbar:

Lancaster warns me repeatedly against playing the music he’s afraid I’ve written. Actually, it can’t be written—there are no such symbols! It would require a new musical language.

Neue musikalische Sprachen (und Schriften) wurden in der Tat von der Avantgarde des 20. Jahrhunderts eingeführt. Das führt uns nun aber zu notationstheoretischen Fragestellungen, denen wir vielleicht im dritten Teil dieses Artikels nachgehen können, die hier aber den Rahmen sprengen.

Duane Rimels Essay „Weird Music“

Eine spannende Randnotiz sei an dieser Stelle erlaubt: Rimel verfasste 1936 zusammen mit Emil Petaja einen Essay über „Weird Music“ (erschienen im „Phatagraph“, Volltext bei archive.org), in dem die beiden die Geschichte „weirder“ Musik nachzeichnen:

The savage voodoo drums of Africa; the harsh strains of Oriental rhythms; the tango of South America; the classics, and even much modern jazz—are filled in varying degrees with an unmistakable weirdness.

Sie verstehen unter „weird“ nicht etwa emotionale Wirkungen (wie Trance und „Besessenheit“), sondern vor allem Melodien und Akkordwechsel „portraying fear, sorrow, remorse, or other gloomy moods of human nature“ – und sie betonen, dass „Weirdness“ in der Musik leicht erkennbar, aber schwer zu definieren sei. Das trifft auch auf unsere Mythos-Musik zu: Meist wird eine unverwechselbare Wirkung auf die Hörenden beschrieben, selten aber die Kompositions- oder Spieltechnik, die dazu führt.

In zwei knappen Absätzen zeichnen sie von Saint-Saens bis Tchaikowsky vor allem eine romantische Traditionslinie, erwähnen kurz die „Rhapsody in Blue“ von Gershwin und schließen mit der Feststellung: „it would take many volumes to cover and adequately describe all of the music of this type“.

In der „weird literature“ spannen sie den Bogen von Poes „The Bells“ (1849) über (natürlich!) „The Music of Erich Zann“ bis zu “Bells of Oceana” von Arthur J. Burks (1927, Rezension). Auch die Lovecraft-Gedichtvertonungen von Farnese (s.a. hier) sowie andere „Begleitkompositionen“ zu Weird Tales werden erwähnt.

Insgesamt macht der Essay aber eher den Eindruck, dass schnell etwas zum Thema geschrieben werden sollte – und dass insbesondere Petaja einen Bezug zu seinem damaligen hauptsächlichen Schaffensfeld, der Lyrik, konstruieren wollte:

Much weird verse is closely akin to music of the same nature–and the two are very often combined with marvelous results.

Passagen wie „reminding one of the drowsy Aoelian measures of Debussy’s Afternoon of a Faun“ legen jedenfalls eine gewisse musiktheoretische Grundbildung mindestens eines der beiden Nahe (ich vermute hier eher Rimel, aber diese Frage harrt einer Bearbeitung; Petajas „The Music-Box From Hell“, 1945, ist weniger explizit in den musiktheoretischen bezügen). Vermutlich entstammt der Essay der gleichen Phase und den gleichen Recherchen Rimels wie „Music of the Stars“.

„Mud“ (1997) von Brian McNaughton

Springen wir nun etwa 60 Jahre in die Zukunft. In Stephen Mark Raineys Anthologie „Song of Cthulhu“, von der noch zu reden sein wird, sind 18 Kurzgeschichten versammelt – alle mit mindestens losem Bezug zum Mythos und fast alle mit Musik als zentralem Motiv. Eine davon ist Brian McNaughtons „Mud“, die offenbar für diese Anthologie entstand. McNaughton ist leider bereits 2004 gestorben, weitere musikalische Stories dürfen wir von ihm also nicht erwarten. Schade: Diese Geschichte war einer meiner Favoriten während der Recherchen zu dieser Artikelreihe.

Die bei Chaosium erschienene Anthologie ist übrigens vergriffen – ich habe 70 Euro bezahlt, um dann von einem „Our price: 9.99$“-Aufkleber auf dem Cover verhöhnt zu werden … Aber das Buch war sein Geld wert.

In den Schützengräben – und im ‚Mud‘ …

Im Wesentlichen handelt es sich bei „Mud“ um eine Kriegsgeschichte in den französischen Schützengräben des (Ersten) Weltkriegs. Der Protagonist und Ich-Erzähler, im zivilen Leben Konzert-Cellist, kämpft als britischer Soldat gegen „Jerry“, also die Deutschen. (Die Verwendung des Terms „Jerry“ suggeriert bereits am Anfang der Geschichte, dass sie erst während oder nach dem Zweiten Weltkrieg notiert wird, da er erst hier zu größerer Popularität kam.)

Die Geschichte hebt an mit einer metaphysischen Analyse: Die Welt besteht nur noch aus „Mud“ – ein Begriff, den ich seiner multiplen Übersetzbarkeit (Schlamm, Schlick, Schmutz, Dreck, Morast, aber auch Kot) wegen im englischen Original verwenden werde. Die Deutschen sind nur dessen krabbelndes, alles durchseuchendes Werkzeug; der wahre Feind aber ist der Mud. Der Mud war immer da; der Krieg hat ihn nur aus einem uralten Gefängnis befreit, in das ihn „far wiser men in the dim past“ gesperrt hatten. Diese kosmische und pessimistische (aber nicht zwingend nihilistische) Metaphysik des Schmutzes erscheint während der Lektüre ausgesprochen plausibel – deutet aber natürlich auch auf einen zerrütteten Geist des Erzählers hin.

Der Aufbruch

Unser Protagonist erleidet einen Nervenzusammenbruch während eines Angriffs – was sich aber als Glücksfall herausstellt: Durch sein Zögern lockt er hunderte Deutsche in sein Maschinengewehrfeuer und wird als Held gefeiert. Er soll daraufhin, den Brief mit der Empfehlung seiner Auszeichnung in der Tasche, einige Verwundete abtransportieren.

Dabei gerät er auf Abwege: Ein Vogellied, das ihn an das musikalische Motiv „La Folia“ erinnert, führt ihn aus dem Mud – und zu einer umkämpften Stadt. Die Verwundeten, die er eskortieren soll, sterben, und auch seine Begleittruppe wird die Geschichte nicht überleben. In der Stadt angekommen, entdecken sie, dass deutsche Truppen die Bewohner massakriert haben. Die verbliebenen Deutschen werden gerade von ihren offenbar verrückt gewordenen Kameraden unter Feuer genommen, und durch diese Ablenkung gelingt es dem Rest unseres britischen Stoßtrupps, die letzten Deutschen auszuschalten.

Die Kathedrale von St. Nigoureth

Nach den Gefechten finden sie in einer Kathedrale Unterschlupf, die allerdings nicht sonderlich christlich anmutet. Stattdessen wird hier offenbar eine Fruchtbarkeitsgöttin namens St. Nigoureth verehrt. (Es wird Freundinnen und Freunden des Mythos nicht schwer fallen, zu erahnen, um welche Große Alte es sich dabei handelt.)

It seemed less an image of a saint than of an ancient fertility goddess from the Levante, all brown breasts and bum, but wearing a pair of hairy black trousers. It might have passed muster for decency if one didn’t inspect it closely, but I did, and this garment did little to cenceal her swollen pudendum. It would have done even less had the labia not been black as the surrounding hair.

Diese unheilige, latent eklige Gottesdarstellung ist zudem schwanger und bläst auf (oder saugt an) einer gewundenen schwarzen Flöte – ein ganz und gar abstoßendes Bild, und passenderweise bringen Blut und Körpersekrete der Gefallenen auch plötzlich den Mud in diese Stadt. (Vielleicht wird sich unser Erzähler durch das „Heiligenbild“ auch erst der Anwesenheit des Mud bewusst.).

Die wenigen überlebenden Briten richten sich ein provisorisches Lager ein, nähren sich von Meßwein und Brot, und inspizieren die Kathedrale – vor allem, um der Frage nachzugehen, was die Deutschen so weit hinter den französischen Linien suchen. Die Antwort findet sich in einer Krypta: Offenbar haben die Deutschen einen Bleisarg, der die widerwärtige Gottheit zeigt, ausgegraben und aufgebrochen. Sie konnten ihr Werk aber anscheinend nicht vollenden – denn das gesuchte Artefakt findet sich noch in diesem Sarg: eine schwarze, seltsame Flöte, wie auf dem Unheiligenbild zu sehen. (Man beachte die Parallelen zum Indiana-Jones-Plot „SS jagt Bundeslade“.)

Die Flöte von St. Nigoureth und ihre herausfordernde Spielweise

Nun erwartet uns eine Schilderung des Mythos-Instruments:

A dual bulb at the bottom suggested a gourd, although I believed the instrument had been carved from a single piece of very heavy, black wood. Curving upward from this, a thick shaft was perforated with holes that seemed too large and awkwardly spaced for human fingers. These were ringed with gold, and the mouthpiece was of gold, too, but that could’nt account for the value the huns had put upon it. The hole in the mouthpiece itself seemed too narrow to inject a sufficient volume of air to make music.

Die Flöte übt auf den Protagonisten – nicht aber auf seine Begleiter – eine starke Faszination aus. Er zögert allerdings, sie zu spielen, und daher versucht sich sein Begleiter Atkins daran. Statt einen Ton zu erzeugen, wirft dieser die Flöte aber angewidert von sich und behauptet, sie habe sich bewegt. Der Protagonist hat mehr Glück, und die Flöte erzeugt einen Ton – und beim Spielenden einen Schub massiver Euphorie, sodass er vermutet, die Flöte trage noch eine alte Droge oder ein Gift.

Er versucht sich dann erst an „La Folia“, merkt aber, dass die Stimmung der Flöte das Lied offenbar nicht hergibt; mit der verfremdeten „La Folia“ des Vogellieds klappt es aber. Und prompt ziehen Regen und Wind auf. Und der Erzähler bemerkt noch eine Besonderheit der Flöte: Die Musik erklingt nicht aus dem Instrument, sondern aus der Umgebung.

Der Mud kommt zurück – und die Deutschen

Die Stadt wird langsam aber sicher vom Mud erobert, und der Protagonist verliert den Rest seiner Truppe an schlammige Massen in den Straßen. Um den Kirchturm sammeln sich schwarze Wolken – ein Avatar der Göttin, und der Protagonist „had no doubt that I had called up this thing“. Gleichzeitig rückt Gefechtslärm näher: die deutsche Kavallerie, die bald beginnt, „Iä! Iä! Shub-Niggurath!“ zu skandieren.

Eine humanistische „Rettung“

Faszinierend ist die Technik und Darstellung seiner Flucht aus dem Schlamassel: Um den Shub-Nigurrath-Hymnen der Deutschen etwas Ebenbürtiges entgegenzusetzen, durchforstet er sein Hirn nach einer Melodie.

A cellist in a string quartet before the war, I had known a hundred melodies, a thousand, but none of them … and then I remembered the very last thing I had played before the Mud flowed over the world, the final Theme of Bach’s Art of Fugue. All his life he had used his work to praise God, but in that last work he had dropped the mask of Christian humility and taken all the credit with a flourish: I, Bach, a mortal man, did this.

Gemeint ist das berühmte B-A-C-H-Motiv, mit dem sich Bach auch „motivisch“ in die Musikgeschichte zu schreiben versuchte, und nur scheiterte, weil sein Tod ihn von der Vollendung dieser „Selbstbezüglichkeit“ von Werk und Künstler abhielt. Das Zitat größtmöglichen menschlich-musikalischen Genies zeitigt als Exorzismus Wirkung: Der Mud weicht zurück, und der Avatar Shub-Nigguraths zerdrückt die Kathedrale. Diese Passage ist ein gewisses schriftstellerisches Wagnis, sie könnte leicht billig, anthropozentrisch, wie ein „deus ex machina“ wirken, fügt sich aber recht nahtlos in den Motivkanon der Geschichte ein.

Der Protagonist wird wenig später in dieser Stellung aufgefunden, das Ereignis als verzweifelter Verteidigungskampf der Kathedrale interpretiert – und unser Erzähler korrigiert die Interpretation nicht. Die Flöte wurde offenbar von den Deutschen erbeutet.

Epilog: 20 Jahre später

Die Flöte hat im Deutschen Reich ihre Wirkung getan:

The sudden collapse of his (Jerry’s, Anm. DS) war machine, the famine and plague and anarchy that seized his homeland, suggested forces even more sinister than human incompetence and confusion.

Und sie wirkt fort:

And now this Hitler chap – he does tend to rave on […] about blood and soil, doesn’t he? We know what that combination can produce. I fear he may believe Germany’s last attempt to regress the human race to primal slime failed only because not enough blood was added to the mix.

Der Erzähler ist wieder als Cellist tätig. Er und andere Musiker müssen während eines Mozart-Konzerts in den Bunker, und der Gast-Violinist Fritz Kreisler erkennt unter dem Luftalarm die Vogel-Melodie mit Parallele zu „La Folia“. Als Kreisler die Melodie zu spielen beginnt, wird er vom Erzähler niedergeschlagen, der damit seine Hoffnungen auf eine weitere musikalische Karriere abschreibt. (Das mag erzählerische Freiheit sein, meinen Recherchen zu Folge war Fritz Kreisler während des Luftkriegs gegen London in den Vereinigten Staaten.)

Musik bei McNaughton

Fassen wir kurz zusammen, was wir gerade über Verwendung und Funktion von Musik in „Mud“ festgestellt haben:

Die Flöte und ihre Musik: Die Musikmotive in „Mud“

Bis zuletzt bleibt partiell offen, welchem Zweck die Flöte dient. Abgesehen davon, dass es sich offenbar auch um ein Phallussymbol handelt und mit ihr gespielte Töne magische Wirkungen entfalten, bleibt sie für mich etwas rätselhaft. Es ist nicht klar, welche Musik auf ihr gespielt werden soll, außer dem Vogellied. Und es ist nicht klar, was die Deutschen mit ihr wollen: Eine Flöte ist anders als ein Horn oder eine Posaune kein klassisches Instrument, das der Führung einer Truppe dient – die Jagd von deutschen Kultisten nach dem Artefakt dürfte daher andere als militärische Zwecke haben.

Wir wissen nicht, ob sich der Protagonist die Vogelmelodie, die ihn an „La Folia“ erinnert, nur einbildet; ob ihm die beiden Motive nur Symbole sind: ein Hoffnungszeichen der Zivilisation, des alten menschlichen Kulturerbes bzw. dessen furchtbares Zerrbild. Gegen die These, dass er sich die Melodien nur einbildet, spricht, dass am Ende der Geschichte auch Fritz Kreisler die Vogelmelodie im Lärm der Kriegsmaschinerie entdeckt.

In jedem Fall ist die Flöte offenbar in der Lage, das B-A-C-H-Motiv zu spielen und zu einer ihrem eigentlichen Wesen als Artefakt Shub-Nigguraths konträren Wirkung zu bringen. Insgesamt kann man aber festhalten, dass die Geschichte weniger die Primärwirkung von Mythos-Musik thematisiert, als vielmehr musikhistorische Bezüge als Symbole setzt und mit diesen operiert:

„La Folia“ dient als Zivilisationszeichen, als Rückbindung an europäische Kultur. Die verfremdete Melodie, die er dem Vogellied entnimmt, steht für die Perversion dieser Kulturgeschichte. Sie steht damit für den Mud und die Kriegsmaschinerie, und schließlich auch für Shub-Niggurath.

Die Deutschen singen nicht, sie skandieren, um ihrer Blut- und Boden-Göttin zu huldigen. Und schließlich kann der Erzähler (mindestens in seinem Denken) dem Wahnsinn des Krieges und des Mud J.S. Bach entgegensetzen. Das B-A-C-H-Motiv steht für humane Selbstermächtigung, egal, wie vergebens sie sein mag.

Musikdarstellung

Die Musik ist nicht in jedem Fall menschengemacht: Das Vogellied und die Melodie unter dem Luftalarm haben keinen (erkennbaren) menschlichen Auslöser, und in der Wahrnehmung des Erzählers klingt die Flötenmelodie auch ohne Spielenden fort: „that damnable tune always seemed to hover just underneath the roar of the wind and rain“. Die Musik ist delokalisiert; die erklingt nicht aus dem Instrument, sondern aus der ganzen Mud-getränkten Umwelt.

Besonderheit: musikalisch gebildeter Protagonist

Hervorzuheben ist, dass der Erzähler von „Mud“ musikalisch gebildet ist, sowohl analytisch als auch interpretativ. Er findet sich im symbolischen Dschungel der verschiedenen Motive zurecht, und nur seine musikalische Vorbildung erlaubt ihm, eine (für ihn) rettende Idee im Fugenmotiv zu finden und dieses auszuführen.

Davon abgesehen hilft uns die Bildung des Protagonisten nicht wirklich weiter: Wir werden durch seine Ausführungen nicht wesentlich schlauer und das Geheimnis der Flöte bleibt ungeklärt.

Zwischenfazit vor einer Typologie der Mythos-Musik

Wir haben nun drei Geschichten analysiert: Lovecrafts „The Music of Erich Zann“ (Teil 1), Duane Rimels „Music of the Stars“ und Brian McNaughtons „Mud“. Die Geschichten weisen einige Parallelen auf, aber auch markante Unterschiede. In jedem Fall haben sie uns dazu verholfen, im nächsten Schritt einen Katalog von Eigenheiten von Mythos-Musik-Geschichten skizzieren zu können.

Natürlich decken wir mit diesen Geschichten noch nicht das gesamte Spektrum von Techniken, Funktionen und Plots ab, die in Mythos-Musik-Geschichten Anwendung finden. Diese werden wir im Folgenden dritten Teil an passender Stelle betrachten.

Weiter geht’s in Weird Harmonies (3): Eine Typologie übernatürlicher Musik im Cthulhu-Mythos. Hier geht’s zum Inhaltsverzeichnis aller Artikel der Reihe.


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Der Beitrag Weird Harmonies (2): „Music of the Stars“ und „Mud“ erschien zuerst auf Dennis Schmolk.

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Weird Harmonies (1): „The Music of Erich Zann“ https://dennisschmolk.de/2022/10/06/weird-harmonies-1-the-music-of-erich-zann/ https://dennisschmolk.de/2022/10/06/weird-harmonies-1-the-music-of-erich-zann/#comments Thu, 06 Oct 2022 08:00:20 +0000 https://dennisschmolk.de/?p=3198 Eventually there had been a hint of vast, leaping shadows, of a monstrous, half-acoustic pulsing, and of the thin, monotonous piping of an unseen flute—but that was all. H.P. Lovecraft: The Dreams in the Witch House, 1932 Akustisches ist im Cthulhu-Mythos omnipräsent. Fremdartige Geräusche bauen Atmosphäre auf. Gutturale oder krächzende Stimmen deuten auf Degeneration und Verfall. Ätherische Laute suggerieren, dass etwas nicht mit den rechten Dingen unserer normalen Wahrnehmung und ... Mehr

Der Beitrag Weird Harmonies (1): „The Music of Erich Zann“ erschien zuerst auf Dennis Schmolk.

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Eventually there had been a hint of vast, leaping shadows, of a monstrous, half-acoustic pulsing, and of the thin, monotonous piping of an unseen flute—but that was all.
H.P. Lovecraft: The Dreams in the Witch House, 1932

Akustisches ist im Cthulhu-Mythos omnipräsent. Fremdartige Geräusche bauen Atmosphäre auf. Gutturale oder krächzende Stimmen deuten auf Degeneration und Verfall. Ätherische Laute suggerieren, dass etwas nicht mit den rechten Dingen unserer normalen Wahrnehmung und Reflexion zugeht.

Aber an einigen Stellen, in einigen Geschichten verdichtet sich das akustische Grauen zu einer Sinfonie des Kosmos: Musik tritt ins Zentrum, treibt die Story voran, ist Ursache, Symptom oder gar Gegenmittel des Kosmos. Wir begegnen mindestens einer dieser Geschichten bereits bei Lovecraft selbst: „The Music of Erich Zann“.

The Music of Erich Zann (1922)

In „The Music of Erich Zann“ erzählt Lovecraft durch die Augen und Ohren eines namenlosen Protagonisten eine Geschichte musikalischen Grauens. Ob die Geschichte tatsächlich zum Kern der Mythos-Stories zu zählen ist, wird gleich zu diskutieren sein.

Aber kurz zum Inhalt. Der Protagonist und Erzähler, ein „Student der Metaphysik“, wohnte während seines Studiums in einer heruntergekommenen Pension in der mysteriösen Rue d’Auseil. Mysteriös, weil der Protagonist, der die Geschichte mit einigem zeitlichem Versatz aufschreibt, diese Straße weder auf aktuellen noch auf historischen Karten noch gar in der Realität wiederfinden kann.

In seiner Unterkunft hört er sporadisch das merkwürdige, fremdartige Gambenspiel eines Musikers, den er bald darauf als seinen stummen Nachbarn Erich Zann identifizieren kann. Dieser „strange dumb man“ verzaubert ihn durch die „weirdness of his music“, sodass er beginnt, ihm nachzustellen. Zann spielt, um seinen mageren Lebensunterhalt zu verdienen, in einem drittklassigen „theatre“. Eines Abends erlaubt er dem Protagonisten, ihm danach in seiner Klause zu lauschen; er spielt aber nicht die dem Erzähler vertraute „weird music“, sondern eine harmlosere Improvisation:

[he played me] strains I had never heard before; strains which must have been of his own devising. To describe their exact nature is impossible for one unversed in music. They were a kind of fugue, with recurrent passages of the most captivating quality, but to me were notable for the absence of any of the weird notes I had overheard from my room below on other occasions.

Zann erklärt das nach einer unerfreulichen Konfrontation schriftlich:

But he could not play to another his weird harmonies, and could not bear hearing them from another; nor could he bear having anything in his room touched by another.

Der Erzähler beginnt, an Zanns Kammer zu lauschen, um die faszinierende Musik wieder zu hören. Eines Abends hört er dabei schreckliche Geräusche und auch einen „stummen Schrei“ Zanns, sodass er in die Kammer dringt. Zann ist völlig entkräftet, spielt aber von Angst getrieben immer weiter gegen etwas an, was hinter seinen Fensterläden zu lauern scheint. Er schreibt in einem fieberhaften Rausch eine vollständige Erklärung seines Geheimnisses, sozusagen einen Brief, in dem alles steht.

Als aber die Fensterläden brechen und die spärliche Beleuchtung erlischt, werden diese schrecklichen Aufzeichnungen verwirbelt. Der Protagonist tappt im Dunkeln gegen den noch immer spielenden Zann – dessen kalte Haut und dessen erstarrtes Gesicht verraten, dass er wohl längst tot ist. Der Erzähler flieht aus der Rue d’Auseil, um sie nie wieder zu betreten.

Was genau tut die Musik in dieser Geschichte?

Was hier (wie auch bei anderen Mythos-Musik-Geschichten) auffällt, ist, dass die Protagonisten (ja, eigentlich ausschließlich Männer) einen eigenen Bezug zur Musik leugnen. Der Erzähler von „The Music of Erich Zann“ sagt wörtlich:

Knowing little of the art myself, I was yet certain that none of his harmonies had any relation to music I had heard before; and concluded that he was a composer of highly original genius.

Dieser Schluss ist interessant: Der Erzähler fühlt sich von der seltsamen, fremdartigen Musik nicht abgestoßen, sondern wertet seine Befremdung, sein Unverständnis als Zeichen von Qualität.

Zann weigert sich, die „weird notes“, die „weird harmonies“ (man denkt an die „unerhörten“ blue notes des Blues und Jazz!) vor jemand anderem zu spielen, aber die Musik hat eine derartige Sogwirkung auf den Protagonisten, dass er heimlich vor der Tür lauscht.

Gegen Ende der Geschichte wird klar, was man schon die ganze Zeit geahnt hat: dass Zann mit Hilfe seiner Musik etwas zu bannen, zu beruhigen oder zu exorzieren versucht. („He was trying to make a noise; to ward something off or drown something out—what, I could not imagine.“)

Die Musik wird eher in ihrer Wirkung als in ihrer Beschaffenheit beschrieben:

The playing grew fantastic, delirious, and hysterical, yet kept to the last the qualities of supreme genius which I knew this strange old man possessed.

Sie erhält auch etwas Visuelles, lässt Bilder im Kopf des Erzähler entstehen:

In his frenzied strains I could almost see shadowy satyrs and Bacchanals dancing and whirling insanely through seething abysses of clouds and smoke and lightning.

Und schließlich wird sie sogar mit etwas verglichen, was Leserinnen und Leser nachhören könnten:

I recognised the air—it was a wild Hungarian dance popular in the theatres, and I reflected for a moment that this was the first time I had ever heard Zann play the work of another composer.

Das ist offenbar ein Fehler, denn kurz darauf ist Zann – anscheinend – tot, obwohl er weiter wie verrückt fidelt: „When my hand touched his ear I shuddered, though I knew not why—knew not why till I felt of the still face; the ice-cold, stiffened, unbreathing face whose glassy eyes bulged uselessly into the void.“

In Fred Chappells Story „In the Rue d’Auseil“ (2001) wird nicht nur die scheinbare Unauffindbarkeit dieser seltsamen Straße aufgeklärt. Er bietet zudem eine Interpretation an, wieso Zann scheinbar tot weiterspielen kann: Es handelt sich bei ihm nur um einen Roboter, einen Gamben-Automaten – offenbar ohne Sprachmodul. Das passt zu Lovecrafts Schilderung:

His blue eyes were bulging, glassy, and sightless, and the frantic playing had become a blind, mechanical, unrecognisable orgy that no pen could even suggest.

Die Anmerkung „that no pen could even suggest“ impliziert, dass die vorher von Zann gespielte Musik durchaus notierbar sein könnte – sie es nun, im Fiasko-Finale, aber nicht mehr ist.

Gehört Zann zum „Cthulhu-Mythos“?

Handelt es sich nun um eine Mythos-Geschichte? Die von Joshi aufgestellten (und hier von mir zitierten) Kriterien erfüllt sie nur teilweise. Kein Wunder, schließlich datiert sie deutlich vor der ersten „vollständigen“ Mythos-Geschichte, „The Call of Cthulhu“ (1926).

Die Story ist nicht in New England angesiedelt, sondern in Paris – allerdings in einem seltsamen Zwischenreich der Seine-Stadt, das weder auf Karten existiert noch wieder aufgefunden werden kann. Die Stadt ist, wie Joshi es in seinen Kriterien nennt, „vitally realised but largely imaginery“.

Die Geschichte referenziert weder anderweitig bekannte Mythos-Bücher noch bezieht sie sich explizit auf Mythos-Gottheiten und deren Diener. (Das kann sie historisch gesehen ja auch noch gar nicht.) Allerdings kann die Musik Erich Zanns durchaus als ein Artefakt des Mythos verstanden werden; würde sie notiert, könnte man sie als „Mythos tome“ interpretieren; und Zanns Aufzeichnungen, die der Wind (?) am Ende der Geschichte verstreut, könnten kongenial neben dem Necronomicon oder De Vermis Mysteriis stehen. Außerdem haben vermutlich die meisten Leserinnen und Leser der Geschichte eine vage Idee, welche „Gottheit“ hinter den Fensterläden warten könnte.

Das vierte Kriterium einer Mythos-Geschichte nach Joshi, „a sense of the cosmic, both spatial and temporal“, ist dagegen voll erfüllt: Das Grauen, das sowohl den Erzähler als auch den titelgebenden Charakter Erich Zann heimsucht, ist gänzlich unfassbar und unbeschreibbar. Es scheint eher eine kosmische Kraft als ein „Wesen“ zu sein.

Auch die Rezeptionsgeschichte von „The Music of Erich Zann“ deutet klar darauf hin, dass spätere Schöpferinnen und Schöpfer von Mythos-Medien sie als Teil des Cthulhu-Mythos ansahen und ansehen. Die Gambe (oder manchmal auch Violine) ist zu einem Mythos-Symbol geworden, das andere Schreibende regelmäßig aufgreifen und dabei die Setzung durch „The Music of Erich Zann“ voraussetzen und referenzieren. (Natürlich ist das Motiv des „teuflischen Geigers“ nicht nur dem Mythos eigen, sondern kommt in der Fantasy und dem Horror öfter vor.)

Was schließen wir nun daraus? Aus meiner Sicht ist die Geschichte klar Teil zumindest des erweiterten Mythos.

Noch einige lose Gedanken zu Lovecrafts Story

Die Geschichte ist enorm anschlussfähig. Nicht nur setzt sie einige neue Symbole in die Welt des Mythos, die später wieder aufgegriffen werden. Alleine über die merkwürdige Topographie ließe sich ein eigener Artikel schreiben.

Der Nicht-Ort

Die Rue d’Auseil – man denkt unwillkürlich an die Rue Morgue von E.A. Poe, was Brian Stableford zu einem „The Legacy of Erich Zann“ (Rezension) mit E.A. Poes Auguste Dupin in der Hauptrolle animieren wird – ist ein Nicht-Ort. Hier will man sich und kann man sich eigentlich nicht aufhalten. (Die Entfremdung ist noch stärker als im in „The Haunter in the Dark“ geschilderten Providence Robert Blakes.)

Die Architektur der Häuser in dieser Gasse ist widersinnig, wie man am Anfang der Geschichte stimmungsvoll nachlesen kann:

The Rue d’Auseil lay across a dark river bordered by precipitous brick blear-windowed warehouses and spanned by a ponderous bridge of dark stone. It was always shadowy along that river, as if the smoke of neighbouring factories shut out the sun perpetually. […] I have never seen another street as narrow and steep as the Rue d’Auseil. It was almost a cliff, closed to all vehicles, consisting in several places of flights of steps, and ending at the top in a lofty ivied wall. Its paving was irregular, sometimes stone slabs, sometimes cobblestones, and sometimes bare earth with struggling greenish-grey vegetation. The houses were tall, peaked-roofed, incredibly old, and crazily leaning backward, forward, and sidewise. Occasionally an opposite pair, both leaning forward, almost met across the street like an arch; and certainly they kept most of the light from the ground below. There were a few overhead bridges from house to house across the street.

Die erwähnte Flussbrücke fungiert als Schwelle zu einem fremdartigen Reich, das (zum Glück) nicht ganz von dieser Welt stammt. Auch die zeitliche Dimension bleibt rätselhaft: Wenig in der Geschichte gibt uns Anhaltspunkte für eine temporale Verortung. (Stableford datiert die Geschichte aufs späte 18./frühe 19. Jahrhundert. Diese Deutung ist nicht von der Hand zu weisen, da Zanns Instrument, die Gambe oder „viol“, eher bis ins 18. Jahrhundert gebräuchlich war – und erst durch die historische Aufführungspraxis im späteren 20. Jahrhundert wieder bekannter wurde.) Bemerkenswert ist auch der biographische Bezug Lovecrafts zu Saiteninstrumenten. Wie ich hier nachgezeichnet habe, spielte Lovecraft als Kind die Violine, was durchaus eine Rolle bei der Instrumentenwahl gespielt haben dürfte.

AI-Kunst mit dem Prompt "rue d'auseil". Erstellt mit NightCafe. AI-Kunst mit dem Prompt "rue d'auseil". Erstellt mit NightCafe.

[Mehr AI-Kunst gibt es in meiner Collection „The Mythos“]

Zann und seine Musik

Der Charakter Erich Zanns bleibt (wie viele Charaktere Lovecrafts) sehr mysteriös. Warum ist er stumm? Was macht ein begnadeter, genialer Musiker wie er in einer heruntergekommenen Herberge? Wie spielt er weiter auf seiner Gambe, nachdem er augenscheinlich keine Lebenszeichen mehr zeigt? Hat Robert Price Recht, wenn er analysiert, dass Zanns Seele am Ende in die fremdartigen Sphären zurückkehrt, in die er gehört?

Auch die Funktion seiner Musik ist ambivalent: Spielt er tatsächlich nur gegen etwas an – oder hat er es auch beschworen? Wieso sonst sollte ausgerechnet er davon heimgesucht werden – er, der ein, wenn auch temporäres, Gegenmittel zu haben scheint? Ist er ein Magier oder Mythos-Kundiger, oder ist er Sklave seines Instruments und ist dieses ein Mythos-Artefakt? Wirkt die Bann-Magie aus seinem kompositorischen Genie, ist es eine Wirkung der „strange harmonies“, der „weird notes“ – oder sind diese wiederum Wirkung eines Rituals oder Zauberspruchs?

Ein quantenmechanischer Ansatz

Was wird durch die Musik daran gehindert, in unsere Welt einzubrechen? Die zerstörerische Macht Azathoths? Und wenn ja: Was genau bedeutet das? Fred Lubnow von „Lovecraftian Science“ spekuliert:

Getting back to The Music of Erich Zann, the forces or entities that Zann held back with his music may have been some form of extra-universal life, trying to filter into our universe. […] Was Zann trying to avoid the annihilation of the cosmos by preventing antimatter from spilling into our universe?

Auch Zanns merkwürdige Physiologie wird erklärt:

We know he was trying to prevent something from entering our universe through the high gable window by playing his strange music.  Was this “something” a force or entity composed of antimatter?  Zann is described as being a small, lean, bent person, having a satyr-like face and nearly bald head – was he suffering from radiation poisoning?

Und sogar das Verschwinden der Rue d’Auseil:

The antimatter “thing” may have briefly entered our universe through the gable window and Zann used his own “matter” and music to annihilate it. The result may have been a quantum fluctuation, which produced an adjustment to our universe. This adjustment essentially removed the house, the street, the locality and Erich Zann from our reality.

Der mysteriöse Erzähler

Schließlich gibt der Erzähler Rätsel auf: (Wie) hat er seine Studien „der Metaphysik“ beendet? Was genau hat er studiert? Was ist ihm nach dem Berichteten widerfahren? Man denkt an den Mathematikstudenten Walter Gilman aus „The Dreams in the Witch House“ (1932), der seine Studien der Quantenmechanik mit „folklore“ vermischte und darüber die Mächte des Mythos auf sich zog.

Zwischenfazit und die Auswahl weiterer Primärquellen

In „The Music of Erich Zann“ ist der Prototyp einer Mythos-Musik-Geschichte angelegt. Ehe wir aber daraus eine Typologie herleiten, sollten wir noch zwei weitere Beispiele betrachten. Die Auswahl fällt nicht leicht: Im Zuge meiner Recherchen habe ich ca. zwei Dutzend dem Mythos zurechenbare Stories gefunden, die Musik als zentrales Motiv verwenden. (Eine Lektüreliste folgt ggf. später.)

Einige Geschichten, die mir gut gefallen und umfassende Musikbezüge haben, bleiben in ihrem Mythos-Bezug allerdings eher schwach ausgeprägt. Stephen Mark Rainey, der die Anthologie „Song of Cthulhu“ (2001) herausgegeben hat, schrieb bereits in den 1980er Jahren einige Geschichten in seinem „Sylvan County“, die sich mit Musik befassten. Allen voran die sehr unterhaltsame Story „Threnody“ (1987), der wir uns später noch zuwenden werden, und zwei Pre- und Sequels. Allerdings besteht der gesamte Mythos-Bezug darin, dass ein Buch von einem „Maurice Zann“ die Inspiration für übernatürliche Musik darstellt. Das scheint mir ein zu loser Mythos-Bezug für eine prominente Analyse.

Andere, wie „The Plain of Sound“ (1964) von Ramsey Campbell, sind klar im Mythos angesiedelt und beschreiben Musik, setzen für ihre atmosphärische Wirkung dann aber doch zunehmend auf visuelle und olfaktorische Reize. Die Geschichte gehört definitiv in meinen Kanon der „Mythos-Musik-Geschichten“, aber für die Erarbeitung einer Typologie sind sie mir zu „untypisch“.

Ich habe mich daher für zwei Beispiele entschieden, die aus meiner Sicht den Kern der „Mythos-Musik“ treffen: „Music of the Stars“ (1943) von Duane Rimel und „Mud“ (1997) von Brian McNaughton. Damit sind insgesamt auch fast 80 Jahre Weird Horror abgedeckt.

Weiter geht’s in Weird Harmonies (2): „Music of the Stars“ und „Mud“. Hier geht’s zum Inhaltsverzeichnis aller Artikel der Reihe.


Beitragsbild: Photo by James Lee on Unsplash und Photo by Johannes Plenio on Unsplash

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The Strange Sound of Cthulhu (Gary Hill) https://dennisschmolk.de/2022/09/08/the-strange-sound-of-cthulhu-gary-hill/ https://dennisschmolk.de/2022/09/08/the-strange-sound-of-cthulhu-gary-hill/#comments Thu, 08 Sep 2022 11:05:43 +0000 https://dennisschmolk.de/?p=3095 Update Juni 2023: Ich habe Gary Hill zu seinem Buch und zur geplanten zweiten Auflage interviewt – das englischsprachige Original findet sich hier, eine deutsche Übersetzung von Thorsten Panknin gibt’s bei der Lovecraft Gesellschaft. Auf meiner Suche nach cthuloid inspirierter Musik habe ich mir das Werk „The Strange Sound of Cthulhu“ von Gary Hill zu Gemüte geführt. Die meisten besprochenen Bands, Kunstschaffenden und Projekte sagen mir nicht besonders zu, da ... Mehr

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Update Juni 2023: Ich habe Gary Hill zu seinem Buch und zur geplanten zweiten Auflage interviewt – das englischsprachige Original findet sich hier, eine deutsche Übersetzung von Thorsten Panknin gibt’s bei der Lovecraft Gesellschaft.

Auf meiner Suche nach cthuloid inspirierter Musik habe ich mir das Werk „The Strange Sound of Cthulhu“ von Gary Hill zu Gemüte geführt. Die meisten besprochenen Bands, Kunstschaffenden und Projekte sagen mir nicht besonders zu, da sie eher aus dem Bereich Metal/Rock/Goth stammen. Ich bevorzuge bekanntermaßen Orchestrales und Ambient.

Die deutsche Übersetzung ist vergriffen, auf dem Sekundärmarkt aber noch gut verfügbar. Sie erschien 2011 bei einem Okkultismus-Verlag namens „Edition Roter Drache‘. Vermutlich wegen des Schwerpunkts Heidentum im Verlagsprogramm äußert sich dieser Verlag, soviel als Randnotiz, recht eindeutig bzgl. politischer Ausrichtung:

Wir beliefern sowohl Geschäfts- wie auch Privatkunden direkt oder über die Barsortimente. Ausgenommen hiervon sind Rechtspopulisten, Querdenker, Nazis und das ganze braune Pack, egal ob Händler oder Privatpersonen. Wir wollen Euch nicht, wir wollen nicht, dass ihr unsere Bücher einkauft, verkauft, lest oder empfiehlt. [Quelle]

Klare Kante, auch wenn es natürlich „empfehlt“ heißen müsste.

Zum Buch

Das Buch führt durch die Rock-, Prog-, Metal-, Punk-Geschichte von den 60ern bis ungefähr 2008 und spürt dabei cthuloiden Einflüssen nach. Das Ganze ist in 14 Kapitel unterteilt. Sechs davon widmen sich einzelnen Genres, fünf einzelnen Künstlern bzw. Samplern, eines dient als Misc-Sammelbecken und man bekommt noch Einleitung und Schlusswort. Und einen Anhang mit Quellen und Index.

Einige Songs hat der Autor einer Detailanalyse unterzogen: Darin beleuchtet er meist Genrezuordnung, musikalische Einflüsse, Aufbau, Instrumentierung, Effekte, gelegentlich Spielweisen; harmonische oder melodische Analysen kommen quasi nicht vor (nur in einigen Künstler-Interviews). Bei vielen Songs werden vor allem die Lyrics ausgiebig besprochen und Bezüge zu HPL-Geschichten hergestellt. Dadurch wird das Buch auch zu einer kleinen Mythos-Einführung (die man aber cum grano salis nehmen und nochmal nachprüfen sollte).

Einige Bands und Tracks werden nur erwähnt. Das reicht auch, denn auf ca. 275 Seiten Hauptteil kommen mehrere hundert Songs vor. Es ist wirklich beeindruckend, wie viele Musikstücke mit Mythos-Bezug im Laufe der behandelten 4-5 Jahrzehnte entstanden sind.

Beim Lesen fand ich es recht hilfreich, in die meisten Sachen mal kurz reinzuhören, denn abgesehen von Metallica kannte ich nur recht wenig. Daher habe ich, was ich finden konnte, in folgender Playlist zusammengefasst.

Playlist

In dieser Playlist sind alle im Buch erwähnten Stücke aufgeführt, die ich auf Spotify gefunden habe. Die Reihenfolge entspricht ziemlich exakt der im Buch. Bei Lücken bitte einfach kommentieren.

Einiges war leider nicht zu finden, aber der Autor konnte 2010 ja nicht ahnen, dass irgendwann nur noch Musik zählt, die auf Streaming-Diensten läuft … Was mir hierbei wieder auffiel: Der Spotify-Such-Algorithmus ist schon ausnehmend gängelnd und die Suchsyntax alles andere als intuitiv. Oft findet man einen Song erst, wenn man den letzten Buchstaben eintippt, obwohl einem die laufend aktualisierte „Vorschau“ vorgaukelt, das Stück gebe es nicht. Oder man suche nach Rihanna. Naja.

Vor allem im US-Metal-Bereich ist aber das meiste verfügbar. Spotify-Lücken fielen mir hier auf:

  • Halloween
  • Djam Karet – Mountains of Madness
  • Payne’s Gray
  • Thergoton
  • Azathoth – Artless Puppet Show
  • NecronomicoN
  • Electric Wizard – Supercoven (gibt es auf Youtube, da inoffiziell gibt’s hier keinen Link)
  • Eterne – Crawling Chaos (sehr nett, ebenfalls inoffiziell auf YT)
  • Kindred Idol
  • Bloodhag – H.P. Lovecraft (Bandcamp)
  • Non Serviam
  • Fireaxe
  • Rudimentary Peni – Cacophony (YT)
  • White Flag
  • Musik der HPLHS (Shop)
  • Alle Beiträge des Samplers „Strange Aeons“ (Alte Quelle)
  • Children of the Monkey Machine

Fazit

Wenn man cthuloide, Lovecraft-inspirierte Musik mag, braucht man das Buch. Punkt. Es fehlt einiges, zum Beispiel die auch schon weit vor 2010 aktiven Musica Cthulhiana, aber so gut wie alle Mythos-Fans dürften in „fremderen“ Genres etwas neues finden.


Beitragsbild: Photo by Valentin Salja on Unsplash 

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Cthulhu-Mythos: Warum „resoniert“ der kosmische Horror? (Resonanzreflexion) https://dennisschmolk.de/2022/08/28/cthulhu-warum-resoniert-der-kosmische-horror-resonanzreflexion/ https://dennisschmolk.de/2022/08/28/cthulhu-warum-resoniert-der-kosmische-horror-resonanzreflexion/#comments Sun, 28 Aug 2022 05:25:40 +0000 https://dennisschmolk.de/?p=2889 Heute fragen wir uns, wieso der Cthulhu-Mythos und die damit zusammenhängenden Ideen, Werke und Vergegenständlichungen (lies: Produkte) für viele Menschen – mich eingeschlossen – offenbar eine Resonanzachse darstellen. Warnung: Dieser Artikel ist lang und vielleicht eher die populär-schnodderige Skizze einer wissenschaftlichen Arbeit. Theoretisches Framework: Resonanztheorie Wer sich nicht für die Resonanztheorie interessiert, kann natürlich die wenigen entsprechenden Begriffe ausklammern und statt „resoniert“ vielleicht „fasziniert mich“ sagen. Wer sich aber für ... Mehr

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Heute fragen wir uns, wieso der Cthulhu-Mythos und die damit zusammenhängenden Ideen, Werke und Vergegenständlichungen (lies: Produkte) für viele Menschen – mich eingeschlossen – offenbar eine Resonanzachse darstellen. Warnung: Dieser Artikel ist lang und vielleicht eher die populär-schnodderige Skizze einer wissenschaftlichen Arbeit.

Theoretisches Framework: Resonanztheorie

Wer sich nicht für die Resonanztheorie interessiert, kann natürlich die wenigen entsprechenden Begriffe ausklammern und statt „resoniert“ vielleicht „fasziniert mich“ sagen. Wer sich aber für das theoretische Framework dieser Analyse interessiert, kann die Grundlagen hier nachschlagen.

Resonanzkriterien und -achsen

Kurz gesagt untersuchen wir folgende Kriterien:

  • Selbstwirksamkeitserwartung,
  • Affizierung,
  • Dialog (etwas spricht mich an und hört mich an),
  • (doppelte) Transformation,
  • Unverfügbarkeit all dieser Kriterien (weder kann ich sie oder die Resonanzbeziehung erzwingen noch habe ich die Wirkungen ganz in der Hand). Alles, was wir begehren, hat immer ein Moment von Unverfügbarkeit. Denn hätte ich es schon voll und ganz verfügbar, würde ich es ja nicht begehren.

Diese Kriterien zeichnen nach Rosa eine resonante, „glückende“ Beziehung zur Welt, in diesem Fall zu einem Erzählkosmos, aus. Dieser Erzählkosmos erstreckt sich über die drei von Rosa unterschiedenen Resonanz-Dimensionen:

  • vertikal (zu abstrakten, „höheren“ Konzepten und Ideen, wie zu einem Gott oder der Natur) besteht eine Beziehung zu den generellen Ideen und zur „kosmischen“ oder „kosmizistischen“ Philosophie;
  • diagonal (zu Dingen und Gegenständen) besteht sie zu den Büchern, Rollenspielprodukten, Filmen, Musikstücken, Statuen, Würfeln, Requisiten, Tarot-Decks (um nur zu nennen, was mir gerade im Blickfeld liegt);
  • horizontal (zu anderen Menschen) besteht sie einerseits zu den Schöpferinnen und Schöpfern „des Mythos“, also den Urhebenden; andererseits aber auch zu den anderen Menschen, die sich für die gleichen Dinge begeistern.

Eine Resonanzbeziehung erfordert also immer, wie das musikalische Bild nahelegt, von beiden Polen „Schwingungsfähigkeit“. Das heißt, beide müssen a) stabil genug sein, eine Eigenschwingung zu haben, und b) offen genug sein, auf die Schwingung des anderen zu reagieren. (Musikalisch könnte man das z.B. durch Obertöne erklären.)

Entfremdungsbeziehung

Das Gegenbild zur Resonanz- ist eine Entfremdungsbeziehung zur Welt. Entfremdung ist gekennzeichnet durch ein Grundgefühl, in eine feindliche oder indifferente Welt geworfen zu sein. Eine entfremdete Weltbeziehung ist eine, in der die Welt stumm und leer ist: Sie hat einem nichts zu sagen; sie hört einen nicht an; ich erwarte nicht, ihr gegenüber wirksam sein zu können; sie ist starr und ich bin starr, ohne Chance auf Verwandlung. Stumm kann die Welt durch zu viel oder zu wenig Verfügungsgewalt über sie werden: Wenn ich sie zwinge und zwänge, hat sie keine eigene Stimme mehr; wenn sie chaotisch und willkürlich ist, verliere ich meine (wirksame) Stimme.

Im Folgenden möchte ich meine Gedanken dazu ordnen, warum sich anhand der Resonanztheorie besonders gut und gewinnbringend analysieren lässt, worin die Faszination des Mythos und seiner Erzeugnisse liegt (also: warum das mit mir resoniert, in mir etwas zum Schwingen bringt). Vorab müssen wir aber klären:

Was macht den Mythos aus?

Nachdem wir uns nun einen losen theoretischen Rahmen gesucht haben, müssen wir noch das empirische Material ordnen, auf das wir sie anwenden wollen. Das ist gar nicht so leicht, denn zum Cthulhu-Mythos gehören ja etwa 100 Jahre Literatur- und mindestens 70 Jahre Popkultur-Geschichte, die sich über diverse Medien erstrecken: Romane, Kurzgeschichten, Filme, Musikstücke, Dramen, Brettspiele, Kartenspiele, mindestens 40 verschiedene Rollenspielsysteme, jede Menge Props, Requisiten und Collectibles, Kunstwerke, Alltagsgegenstände usw. usf.

Bevor wir uns im Folgenden einen detaillierten Arbeitsbegriff des Cthulhu-Mythos erarbeiten, eine kurze Definition und Erklärung vorab: Mit dem „Cthulhu-Mythos“ wird für gewöhnlich ein Geschichtenzyklus bezeichnet, der auf den amerikanischen Autor Howard Phillips Lovecraft (1890–1937) zurückgeht. Im Fokus der Geschichten stehen außerweltliche „Götter“ und Monstren, deren irdische Kulte und meistens ein eher unbedarfter, überraschter Protagonist. Neben Lovecraft haben – zu dessen Lebzeiten und auch später – diverse andere Autorinnen und Autoren zum Cthulhu-Mythos (im Folgenden meist einfach „Mythos“) beigetragen. Im weiteren Sinne meint der Mythos aber auch die Inhalte dieser Geschichten: Die erwähnten Götter und Monstren, die fiktiven Bücher und ihre Inhalte usw.

Elemente einer Mythos-Story

Um in diese 100+ Jahre Geschichte etwas Ordnung reinzukriegen, fangen wir mal bei den Ursprüngen an: den Geschichten. Der große Lovecraft-Biograph und Essayist S.T. Joshi analysiert die Bestandteile einer Mythos-Geschichte wie folgt (in „Lovecraft and a World in Transition: Collected Essays on H. P. Lovecraft“):

[I]t was only in “The Call of Cthulhu” (1926) that the Cthulhu Mythos, as such, can (retroactively) be said to have come into genuine existence; for it was only here that all the four subsidiary icons—topography, occult lore, gods, and cosmicism—are first conjoined into a coherent whole.

Diese vier Kategorien definiert er im Folgenden ausführlicher:

(1) a vitally realised but largely imaginary New England topography;
(2) an ever-growing library of occult books, both ancient and modern (and, in consequence, a band of scholars who seek out these texts, either to carry out the spells and incantations contained in them or to combat them);
(3) the “gods,” their human followers, and their monstrous “minions” or acolytes; and
(4) a sense of the cosmic, both spatial and temporal, that often links the Mythos more firmly with science fiction than with the supernatural.

Zur vierten Kategorie: An anderer Stelle interpretiert Joshi das ganze Oeuvre Lovecrafts eher als Ausdruck einer kosmischen Philosophie („cosmicism“), weniger als reine Horror-Literatur, die versucht, die Lesenden in Schrecken zu versetzen.

Für die moderne Erweiterung des Mythos würde ich der zweiten Kategorie noch andere „Artefakte“ hinzufügen – beginnend beim schon von Lovecraft beschriebenen leuchtenden Trapezoeder Nyarlathoteps bis hin zur „Lampe des Alhazred“ in Arkham Horror. Außerdem bin ich versucht, eine fünfte Kategorie „historische Zeit“ einzuführen, die aber nur retrospektiv gilt. Die meisten Geschichten sind in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts angesiedelt und werden auch für diesen Bezug geschätzt und geliebt. Es hat sich eine ganze Welt aus 20er-Jahre-„Cosplay“-Events ausgebildet.

Die Kategorien in der Anwendung

Wie helfen uns diese Kriterien jetzt in der Praxis? Den Mythos erwähnt auch z.B. Umberto Eco, im „Foucault’schen Pendel“, allerdings nur sehr kurz und ohne jeden Bezug zu einem kosmischen Element (Kategorie 4), sodass ich das nur als „Mythos-Referenz“, nicht als „zum Mythos gehörend“ betrachten würde. Das gleiche gilt für die „Illuminatus“-Trilogie von Wilson und Shea: Hier stehen weder der Kanon der Mythos-„Götter“ noch ein kosmisches Element im Vordergrund; ähnlich, wie Lovecraft immer wieder „Listen“ okkulter Werke in die Geschichten einflicht, werden hier einfach allerlei okkulte Bezüge „gedropped“. U.a. eben auch der Mythos (und Lovecraft als Nebencharakter).

Ganz anders die Erzählwelten von Arkham Horror, dem Cthulhu-Rollenspiel und cthuloiden PC-Games. Hier dreht sich alles um die vier genannten Kategorien, vom Setting bis zu den behandelten Story-Elementen und Topoi. Zwar mag man sich manchmal an anderen Orten und in anderen Zeiten befinden, aber die Bezüge zum Original bleiben stark. Diese Welten zähle ich also klar zum Mythos.

Ein erster Grenzfall sind die Geschichten und Einordnungen von August Derleth, der versuchte, den Mythos in sein christliches Weltbild einzufügen und einen Kampf Gut gegen Böse daraus zu machen. Dies überschattete die Lovecraft-Rezeption bis in die 70er Jahre. Die Entscheidung, ob hier jeweils ein „Mythos“-Werk vorliegt oder nicht, sprengt den Rahmen dieses Artikels, ist aber exemplarisch. Denn ein loser, offener Katalog wird im Einzelfall viele Schwierigkeiten mit sich bringen.

Verwobenheit: Ein „Universum“

Lovecraft hat seine Geschichten „offen“ angelegt (zu Implikationen dessen kommen wir unten). Er hat sich bei anderen Autorinnen und Autoren bedient, und seine Schöpfungen wiederum frei zur Verfügung gestellt. Jede und jeder konnte und sollte das Necronomicon, Yog-Sothtoth und die Stadt Arkham in eigenen Werken aufrufen und verwenden.

Das Resultat: Schon zu Lovecrafts Lebzeiten entstanden diverse Bezüge zwischen verschiedenen Geschichten aus verschiedener Feder. Diese Offenheit, dieser Netzwerkgedanke aus Relationen von Story-Elementen, war unschätzbar für den Erfolg des ganzen Erzähluniversums – und, wie ich unten argumentieren werde, auch ein wichtiges Kriterium für die Herausbildung einer „Resonanzachse“ zum Mythos.

Den Mythos begreift man am besten als ein Universum, in dem man bestimmte Dinge kennt, andere nicht kennt und einige nicht kennen kann. Man kennt Geschichten, Produkte, Spiele, Filme, also diverse fiktionale Erzeugnisse des Mythos; man kennt vielleicht auch Essays und wissenschaftliche Arbeiten über den Mythos, also reale Meta-Texte; aber man weiß auch, man kann nie alles in diesem Universum kennenlernen, dafür reicht die Lebenszeit nicht; und es gibt einige fiktive Elemente, die man naturgemäß (und zum Glück!) nie kennen wird: das Gefühl einer erfolgreichen Anrufung Shub-Nigguraths; den wirklichen Inhalt von Seite 222 des Necronomicon; die Empfindungen eines Bewusstseins in einem Gehirnzylinder.

Zwischenfazit: Mythos-Arbeitsbegriff

Ich werde ab jetzt mit folgendem „Mythos“-Arbeitsbegriff weitermachen:

„Der Mythos“ meint ein Erlebnis- und Erzähluniversum (eine shared world), das sich auf eine bestimmte Gruppe von v.a. literarischen Erzählungen bezieht, deren Initiator H.P. Lovecraft war. Es kennt keinen abschließend definierten inhaltlichen oder medialen Kanon: Jede Form von interaktivem oder rein rezeptivem Medium oder Gegenstand kann „zum Mythos gehören“, wenn es hinreichend viele Kriterien eines (vermutlich nicht abgeschlossenen) Katalogs erfüllt. Diese Kriterien umfassen vor allem a) (fiktive) Settings, b) Bezüge zu etablierten fiktiven Büchern, Artefakten und Entitäten und c) den Rückbezug auf eine kosmische oder „kosmizistische“ Stimmung oder Philosophie. Es gibt aber weder notwendige noch hinreichende Einzelkriterien für „Mythoszugehörigkeit“. Naturgemäß wird es daher regelmäßig Grenzfälle geben, die sich nur schwer in den Mythos einordnen oder aus diesem exkludieren lassen.
Erschwert wird die Definition des Begriffs „Mythos“ oder „Cthulhu-Mythos“ dadurch, dass dieser innerhalb der Geschichten explizit oder implizit als solche thematisiert wird: Der Begriff bezeichnet sowohl einen realweltlichen Produktkatalog wie auch eine grauenhafte Metaphysik innerhalb der von diesen Produkten erzählten Geschichten.

Wenn ich von „der Mythos“ oder einer Beziehung zu „dem Mythos“ spreche, meine ich damit die Gesamtheit der diesen Kriterien genügenden Werke. Eine konkrete Beziehung hat man meistens natürlich nur zu einem Exemplar dieser Gruppe (einer Erzählung, einem Spiel, einer Statue, einem Musikstück): Ich habe eine diagonale Resonanzachse (s.o.) zu einem „Arkham Horror LCG“-Szenario mit all seinen Elementen, oder eine horizontale Resonanzachse zu einem Mitspieler.

Ich würde aber behaupten, dass „der Mythos“ als offene, abstrakte Idee auch bestimmt und konkret genug ist, um eine vertikale Resonanzachse zum „Mythos an sich“ zu ermöglichen. Im Folgenden werde ich alle diese drei Dimensionen der Resonanzbeziehung verwenden und betrachten.

Was macht nun also die besondere Beziehung aus, die Menschen zum Mythos haben?

Am Anfang steht die empirische Gewissheit, dass Resonanzbeziehungen zum Mythos möglich sind; ich selbst habe eine, und ich bin Mitglied ausreichend vieler Gruppen und Vereine, um sagen zu können, dass das nicht nur auf mich zutrifft. Eine kurze Detailanalyse:

  • Der Mythos spricht mich an, hat mir etwas zu sagen:
    • Ich fühle mich bei jedem Entdecken eines Mythosbezugs in meiner (Um-)Welt „angerufen“ und reagiere entsprechend. (Oft durch eine Konsumentscheidung …)
    • Affizierung: Einen Mythosbezug zu entdecken, löst positive bis euphorische Emotionen bei mir aus.
  • Ich habe dem Mythos etwas zu sagen:
    • … einerseits durch Diskussionen in Foren (DLG, YSDC, …); mit Artikeln wie diesem; und andererseits natürlich musikalisch.
    • Und „der Mythos“ hört mich an: Ich habe zwar keine Illusionen, dass diesen Artikel mehr als 2 Leute lesen und meine Musik mehr als 15 Leute hören werden. Aber ich empfinde das dennoch als einen Beitrag, der mich und den Mythos bereichert.
    • Transformation: Ich verändere dadurch den Mythos (im sehr Kleinen)
    • Selbstwirksamkeits- und Resonanzerwartung: Ich kenne mich im Mythos aus und habe keine Berührungsängste mit Personen, Themen oder Systemen, die mit dem Mythos in Verbindung stehen. Das steigert meine Selbstwirksamkeitserwartung. Ein Beispiel: Einem neuen Regelwerk für ein cthuloides Rollenspiel trete ich mit der Erwartung entgegen, dass ich es leicht und vielleicht sogar intuitiv verstehen werde. Das wäre bei einem Superhelden- oder SciFi-System nicht so. Ich weiß, dass mich eine Mechanik zu geistigem Schaden oder Wahnsinn erwartet. Dass es nicht ums Gewinnen geht. Dass ich in-time von Dingen überrascht werde, die ich out-time schon kenne. Dass viele Systemelemente auf Atmosphäre und Stimmung zielen usw. usf. Und ich gehe davon aus, dass es mir gefallen wird (im Vergleich zu einem SciFi-System, zum Beispiel).
  • Der Mythos spricht mit eigener Stimme: Da das Erzähluniversum Mythos einer dauernden Evolution ausgesetzt ist, es sich dabei um ein lebendiges Universum handelt, sagt es immer ein bisschen was anderes – auch wenn der Kern „Mythos“ bleibt. (Das ließe sich auch systemtheoretisch analysieren: Mythos-Operationen sind als solche beobachtbar, vor allem durch das System Mythos selbst, d.h. unterscheidbar von seiner Umwelt – etwa der Umwelt Fantasy, der Umwelt Horror, der Umwelt SciFi usw. Genau dadurch bringt sich das System Mythos selbst hervor.)
  • Ich wurde und werde durch den Mythos verändert – in meinen ästhetischen Präferenzen, philosophischen Annahmen, in meiner Freizeitgestaltung, meinen Hobies und Interessen.
  • Dabei bleibt sehr vieles unverfügbar: Ich weiß nicht, wie die Beziehung weitergeht; ich bin mir nicht sicher, ob mir die zunehmende Etablierung des Mythos als Motiv der Mainstreamkultur gefällt; ich kann nicht sagen, wie genau mich der Mythos verändert hat und weiß auch nicht, ob er mir morgen noch genug zu sagen hat, um mich zu verändern – aber ich gehe davon aus.

Sehen wir uns nun an, warum der Mythos für derartige Beziehungen prädestiniert scheint. (Hier muss ich vielleicht einschieben: Natürlich ist keines der hier folgenden Kriterien dem Mythos exklusiv eigen. Sie gelten auch für andere Rollenspielwelten und Erzähluniversen. Ich glaube aber, dass im Mythos eine eigene Melange an diesen Kriterien zusammenkommt. Der Mythos strahlt weiter als andere Fantasywelten ins Leben der Anhänger hinein.)

Anschlussfähigkeit der Geschichten zur eigenen Fantasie und anderen Werken

Wenn ich mich hinsetze und eine Geschichte in Westeros schreibe, ist das „Fan Fiction“. Wenn ich mich aber hinsetze und eine Geschichte mit von Junzts „Unaussprechlichen Kulten“ schreibe, an deren Ende herauskommt, dass gar kein böser Dämon meine Nachbarschaft umbringt, sondern ein seltsamer Pilz, der sich gerade in den Erdkern zurückzieht, dann ist es ein legitimes Stück des Mythos. (Und sogar kosmisch, wenn der Pilz extraterrestrischen Ursprungs ist.)

Ein so anschlussfähiger Erzählkosmos gelingt nur, wenn man vieles offen lässt; wenn man keine Heldenreise erzählt, wo jede Station relevant und potenziell „unstimmig“, „nicht kanonisch“ ist; wenn man eher mit Versatzstücken arbeitet – beziehungsweise, und für diese Sichtweise optiere ich, wenn man mit Beziehungen statt Entitäten arbeitet. „Azathoth“ bezeichnet weniger ein „Wesen“, das man in seiner Geschichte auftauchen lassen kann (anders als Jon Snow). Es ist eher eine Adresse für lose Assoziationen (von Untergang, Wahnsinn und dem Schlaf der Gerechten). Es ist ein Symbolkanon, und Symbole sind variabel und flexibel. Der Symbolkanon ist der „Keim“ einer „generativen“ Welt (mit Brian Eno gesprochen).

Das sorgt dafür, dass der Mythos extrem anschlussfähig in anderen Werken und auch in der eigenen Fantasie ist – was jede und jeder weiß, der oder die schon einmal ein eigenes Cthulhu-Abenteuer geschrieben oder improvisiert hat. Diese Form der Anschlussfähigkeit zeichnet sich natürlich auch durch eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung aus: Jede und jeder kann mitwirken und „legitim“ zum Mythos beitragen. Man kann gehört werden. Und diese Eigenschaft gibt dem Mythos auch etwas Unendliches: Es kann niemals die „letzte Mythos-Geschichte“ geschrieben, die „Serie“ niemals abgeschlossen werden. Die Anschlüsse sind also immer gewährt.

Hinreichend unbestimmt

Nehmen wir als Beispiel eine Stadt wie Arkham. Sie ist hinreichend bestimmt: Sie liegt in New England, hat einen (fiktiven) Fluss, eine Universität, eine Bahnlinie nach Boston; die verschiedenen Stadtviertel, ihre Lage und Soziodemographie sind dokumentiert. Damit lässt sich etwas anfangen, daran lässt sich anknüpfen.

Gleichzeitig ist sie hinreichend unbestimmt, um jede Begebenheit, jedes denkbare Fachgeschäft, jede Berufsgruppe unterzubringen. Klar, im Lauf der Jahrzehnte und vor allem durch (Rollen-) Spiele haben wir ein detaillierteres Bild von Arkham gewonnen. Es wäre eher unpassend, in Arkham plötzlich ein großes Kloster oder eine Automobilfabrik unterzubringen; das bräche mit der tradierten Stimmung. Aber die meisten für die eigene Fantasie oder eine Geschichte notwendigen Elemente lassen sich hier gut verorten.

Das lässt eigenes Wirken zu – verhindert aber auch Verfügbarmachung: Keine Firma, kein Franchise, kein Spielsetting kann Arkham „vereinnahmen“ oder sich gänzlich aneignen. Es führt hier zu weit, die verschiedenen Dimensionen der Welt-Aneignung auszuführen, die in Rosas „Unverfügbarkeit“ diskutiert werden. Aber in jedem Falle lässt sich Arkham schon aufgrund seiner Unbestimmtheit niemals ganz fassen, und damit auch nicht vollständig verfügbarmachen. Ein Rest-Mysterium bleibt.

Anschluss zu „realer“ Geschichte

Eine neue Dimension, die eher der Lovecraft-Rezeption als Lovecrafts Werk zuzuordnen ist, ist die Beziehung moderner Rezipierender zur Epoche HPLs. Lovecraft sagte zwar von sich selbst, eher im 18. Jahrhundert zu leben (was angesichts von Elementen der entwickelten Moderne in seinem Schaffen fragwürdig ist). Assoziiert werden mit ihm aber – zurecht – die 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Nur kurz umrissen: Das Zeitalter zwischen den Weltkriegen, die Goldenen Zwanziger, die Zeit der Großen Depression (die Lovecraft im späten Lebensalter zum Sozialisten werden ließ), die Geburtsstunde von Swing und Jazz, eine zerrissene Zeit auf dem Höhepunkt der Moderne.

Genau zu dieser Epoche bildet sich bei gegenwärtigen, spätmodernen Mythos-Rezipierenden nun auch eine Faszination, eine Resonanzbeziehung, die die Zeitgenossen Lovecrafts natürlich (noch) nicht haben konnten. Zu vielen Mythos-Events gehören 20er-Cosplay, historische Referenzen und die passende Musik. Ein sehr Lovecraft-affines Musikgenre ist der „Dark Jazz“, in dem harmonische und melodische Ideen dieser Epoche mit modernen elektronischen Soundscapes zusammenkommen. (Playlist) Auch für Tisch-Rollenspiel werden Sound-Atmosphäre und „Props“ und Requisiten verwendet, die in die 20er passen oder aus diesen stammen. (Kurzes persönliches Beispiel: Anhand von einem Kerzenfund habe ich ein wenig Familiengeschichte auf Instagram aufgearbeitet.)

Die Beziehung zum Mythos inkludiert also auch die (vertikale) Resonanzbeziehung zur Geschichte – oder knüpft wenigstens an diese an; und zwar an eine besondere, ambivalente und spannende Epoche. Ich kenne einige Menschen, deren Geschichtsbild und -bildung stark von den RPG-Quellenbänden zu Cthulhu geprägt wurde. Da diese oft ausgesprochen detailverliebt und solide recherchiert sind, ist das vermutlich kein schlechter Nebeneffekt.

Mit Materialismus gegen die Entzauberung

Ein Entfremdungsmerkmal, das sich durch die Moderne zieht, ist die Entzauberung (Max Weber). Der Begriff „Entfremdung“ ist vermutlich zu unspezifisch und auch zu leicht auf alles, was negative Emotionen weckt, zu generalisieren. Aber wenn wir ihn als Gegenbegriff zur Resonanz verstehen, können wir ihn ein bisschen enger definieren. Entfremdung bezeichnet eine Weltbeziehung, in der unser Dialog mit ihr stumm geworden ist. Entweder hat sie uns nichts mehr zu sagen, oder wir selbst können uns der Welt gegenüber nicht mehr verständlich machen. Bürokratische Zwangssysteme, sinnlose Arbeitsinhalte,  aber auch eine an sich „öde“ Welt lassen uns entfremdet zurück.

Lovecraft und der Mythos bieten uns nun eine fiktionale Wiederverzauberung der Welt an. Diese ist zwar schrecklich; aber im subjunktiven „Als-ob-es-Nyarlathotep-gäbe“ bietet es zumindest einen Ausweg aus der drögen Alltagswelt. Und der besondere Clou: Wir müssen gar nicht annehmen, dass es die Großen Alten und das Necronomicon wirklich gibt. Es genügt, das für eine Spiel-Session oder die Lektüre einer Geschichte einfach zu setzen. Somit haben wir einen fiktionalen Mysterienkult mit fiktiven Mysterien, der nicht mit dem Materialismus bricht, den Lovecraft hochmodern vertrat.

Lovecraft war sich ja der Fiktionalität seiner Texte bewusst. Sie machten ihm nur Spaß, weil er wusste, dass er keine Realität beschreibt. („But the whole secret of the kick is that I know damn well it isn’t so”, Selected Letters 3.140.) Er wollte keinen echten Mysterienkult begründen – Dinge wie das „Simon-Necronomicon“ hätte er genauso abgelehnt, wie die meisten Fans des Mythos das Machwerk ablehnen. Das ist explizit kein Bestandteil des Mythos. Offenbar stört es die Resonanzbeziehung, wenn die Fiktivität des Mythos in Zweifel gezogen wird, denn sonst stehen wir wirklich vor der singenden, tanzenden Leere von Azathoths Thron.

Damit erfüllt der Mythos übrigens auch noch exemplarisch eine moderne Funktion der Kunst: die Religion abzulösen. Zwar können die Kunst im Allgemeinen und der Mythos im Besonderen nicht die sinnstiftende Funktion erfüllen, die die Religion früher auszeichnete. Aber sie kann eine zweite wichtige Religionsfunktion erfüllen, nämlich die nach einer Formung der Weltbeziehung, hoffentlich in Richtung einer resonanten.

In der Praxis: Kunst, Spiel, Soziales und Konsum

Die Praxis des „Hobbys Mythos“ gliedert sich im Wesentlichen in vier Bereiche. Jeder dieser Bereiche scheint mir eigene Anknüpfungspunkte für Resonanzbeziehungen zu bieten:

  • Kunst: Das meint im Wesentlichen den passiven Genuss von Werken: Literatur, Filme, Serien. Aber natürlich auch das eigene Kunstschaffen, s.o.
  • Spiel: Sowohl Rollenspielsysteme (von denen es inzwischen über 40 große und kleine mit Mythos-Bezug gibt) wie auch Brett- und Karten-, Computer– und Konsolenspiele.
  • Soziales: Die meisten der Spiele, aber auch viele andere Aktivitäten enthalten soziale Elemente. Beispiele: Online-Diskussionen, Conventions, Kickstarter-Kampagnen.
  • Konsum: Die wenigsten Mythos-Fans kaufen sich einen Lovecraft-Sammelband und sind dann „fertig“. Siehe den Abschnitt „Kommodifizierung und Sammeln“.

Der Mythos lädt – u.a. aus den oben ausgeführten Gründen – zum kollektiven Erzählen ein. Daher spielen Erzählspiele (wie Rollenspielrunden) eine große Rolle. Ich kenne keine Zahlen (und bezweifle deren Existenz), aber eingefleischte Mythos-Fans kommen früher oder später mit dem Rollenspiel oder kollaborativen Spielen wie Arkham Horror in Berührung. Generell sind viele Mythos-Medien interaktiv – und zusehends „Multiplayer“. Die eher rezeptiven Medien Film, Literatur, Musik werden (These!) tendenziell von Fans der interaktiven Medien konsumiert.

Daher spielen im weiteren Sinne „soziale“ Aktivitäten – kommunikativ mit Anwesenden und Abwesenden – im Mythos-Fandom eine große Rolle. Und dies eröffnet Möglichkeiten, horizontale Resonanzbeziehungen (zu anderen Menschen) auszubilden.

Zugehörigkeit zu einer Subkultur

Die Sozialdimension des Mythos verdient noch eine kurze, eigene Betrachtung. Denn als Mythos-Fan gehört man „automatisch“ zu einer Subkultur, auch wenn nicht alle Fans diese Zugehörigkeit ausleben. Neben dem abstrakten Interesse „am Mythos“ pflegt man meist noch mehr Gemeinsamkeiten: So gibt es klare Überschneidungen der Mythos- mit musikalischen Subkulturen (Goth, Metal), mit der Rollenspielszene, Mystery- und Horror-Fandom, Historical Cosplay und vielem mehr. Generell wird man hier eher mehr „Nerds“ als in der generellen Mainstream-Kultur finden. (Lovecraft war auf seine Weise ja selbst ein gewaltiger Nerd, social akwardness inklusive.) Und natürlich pflegt man einen gemeinsamen Jargon, der Außenstehende exkludiert und anhand dessen sich Fans gegenseitig erkennen.

Lovecraft selbst fand im Kreis der Amateur Publishing Associations seine (erste) Subkultur. Im Gegensatz zu seinem alltäglichen Umfeld war er hier kein Sonderling, sondern konnte sich sogar zum Präsidenten der UAPA mausern. Der auch sonst sehr lesenswerte Autor Gwern Branwen bringt den individuellen Nutzen von Subkulturen am Beispiel der Wikipedia sehr schön auf den Punkt:

if I decide to commit to the English Wikipedia subculture […] instead of American culture, I am no longer mentally dealing with 300 million competitors and threats; I am dealing with just a few thousand. […] Leaving a culture, and joining a subculture, is a way for the monkey mind to cope with the modern world. [gwern.net, H.v. mir]

Wenn man sich einer Subkultur verschreibt, reduziert man die möglichen Beziehungen auf ein praktikables Maß. Man kann mit zehntausenden anderen Mythos-Fans noch immer nicht in Einzelbeziehungen treten; aber die Weltkomplexität ist reduziert. (Systemtheoretisch gedacht wird dadurch natürlich die Innenkomplexität der Subkultur erhöht. Man verlässt die Breite und geht in die Tiefe.)

Dieses Argument kann man aus dem leicht biologistischen („monkey brain“) Jargon lösen und in unseren resonanztheoretischen Rahmen übersetzen. Durch die Reduktion der möglichen Resonanzbeziehungen, aber auch der resonanzhemmenden „Konkurrenten“ um Status innerhalb einer Gruppe, erhöht sich die Selbstwirksamkeitserwartung. Durch die Einschränkung der möglichen Themen steigert man die Chance, dass der andere, dem man begegnet, einem „etwas zu sagen hat“ und auch, dass „man selbst gehört wird“. (Mentale Notiz: Man müsste einmal untersuchen, wie oft die dialogischen Aspekte der Resonanztheorie und die Luhmann’sche Anschlussfähigkeit überlappen.)

Einschub: Ritual, Spiel und Grenzen in einer chaotischen Welt

Diese anhand der Gruppengröße erörterte Theorie der Komplexitätsreduktion taucht auch in anderen Kontexten auf. So zum Beispiel bei der Frage, inwieweit die kurzfristige Betrachtung des Cthulhu-Mythos als (subjunktive, „als-ob-„) Realität hilft, sich in einer überkomplex-chaotischen Welt zurechtzufinden. Das betrachtet u.a. Justin Mullis in seinem Essay „Playing Games with the Great Old Ones: Ritual, Play, and Joking within the Cthulhu Mythos Fandom„.

The performance temporarily creates for Mythos fans a world that makes sense, a world in which all the rules and boundaries are known, reinserted, and understood in contrast to the confusing, chaotic world in which such fans live their day-to-day lives.

Diese quasi-religiöse Funktion ist zwar noch immer von religiöser Sinnstiftung recht weit entfernt (s.o.), aber sie kommt immerhin einem Rückzug aus der chaotischen Welt entgegen – paradoxerweise eben in eine noch viel chaotischere. (Der Essay ist interessant, hat aber einige Mängel; ich weiß nicht, ob der Autor Seligman und Wellers „Ritual and its Consequences“ so ganz richtig verstanden hat und er bezeichnet Huizinga als „German“. Aber mit ein wenig kritischer Distanz ist er gut zu lesen.)

Kommodifizierung und „Sammeln“

Mit Blick auf den Geldbeutel (und aus kapitalismuskritischen Gründen) muss ein Punkt erwähnt werden: die Konsumseite. Das Angebot von Cthulhu-, Lovecraft- und sonstig Mythos-gebrandeten Produkten ist inflationär geworden, wenn man weiß, wo man gucken muss (oder die Algorithmen wissen, dass man guckt). Es gibt nicht nur Plüsch-Cthulhus. Allein aus meiner Sammlung kann ich beitragen:

  • Statuen und Statuetten der Großen Alten und auch von HPL selbst
  • Tarot-Decks mit Story-Motiven
  • Würfel mit Mythos-Sigillen
  • Würfelbeutel mit Mythos-Sigillen
  • Schlüsselanhänger
  • T-Shirts
  • Votivtafeln der Großen Alten
  • Schmuckstücke
  • Poster („Where’s Cthulhu?“)

Das rechnet explizit nicht die ca. 70 Rollenspiel- und 50 Story-Bücher, die Computerspiele in meiner Steam-Library, die 2000 Arkham-Horror-Karten, RPG-Props usw. ein. Ich kaufe schon länger Cthulhu-Produkte, als ich mein aktuelles GnuCash-Haushaltsbuch führe, daher kann ich das nicht in Geld beziffern. Aber es ist viel. Es ist eben ein Sammel-Hobby.

Ich schwanke in meiner resonanztheoretischen Beurteilung des Sammelns immer ein bisschen. Einerseits ist es eine Tätigkeit der Anverwandlung, gerade, wenn man durch das Sammeln viel Zeit mit einem Thema und geliebten Gegenständen (diagonale Achse!) verbringt. Die nie zu stillende Sammellust ist ein Paradebeispiel für „Die Unverfügbarkeit des Begehrens und das Begehren des Unverfügbaren“, wie ein Kapitel in Hartmut Rosas „Unverfügbarkeit“ heißt.

Andererseits verkommt es auch oft zur reinen Aneignung, verführt zur verbissenen Jagd nach Vollständigkeit und lässt das Erleben gegenüber dem Besitzen verschwimmen. Die Gefahr von Kommodifizierung statt Konsum (lies: resonanzförderlichem Genuss) ist beim Sammeln stets gegeben. Wer blind kauft, wird zum Sklaven des eigenen Begehrens und tritt diesem nicht mit eigener Stimme gegenüber. Aus dem Beziehungsbegehren zu einer faszinierenden Erzählwelt wird ein Objektbegehren nach Repräsentationen dieser Welt.

Aber dieser Artikel ist lang genug – zum Thema „Sammeln und Resonanz“ sollte mal ein eigener folgen.

Wiedererkennen

Ähnlich wie die Jagd nach Sammlerstücken gehört zum Hobby Mythos auch die Jagd nach Anspielungen. Umberto Eco und Shea/Wilson wurden ja schon erwähnt; aber Mythos-Referenzen finden sich überall in unserer (Pop-) Kultur. Alleine die Wikipedia listet unter dem Lemma „Cthulhu Mythos in popular culture“ hunderte Werke. Und diese Anspielungen halte ich für relevante Elemente der Resonanzbeziehung zum Mythos – wie auch zu den Medien, die ihn referenzieren.

Nehmen wir als Beispiel mal die erste Staffel „True Detective“. In einen düsteren Hillbilly-Meth-Kindesmissbrauchs-Plot sind hier einige Mythos-Anleihen eingewoben (ich möchte diese aber nicht spoilern). Der Plot würde auch ohne funktionieren; diese Staffel ist im Gegensatz zu den späteren einfach verdammt gutes Fernsehen. Aber die zarten Hinweise, das Namedropping, beschwören eine weitere Dimension an Atmosphäre. Mythos-Fremde kommen damit in Berührung mit dem Mythos – und Mythos-Fans freuen sich über die Referenzen und ihr „Wiedererkennen“.

In diesem Wiedererkennen liegt einerseits ein Moment der Selbstwirksamkeit, des Stolzes. Andererseits „spricht“ die Serie nochmal ganz anders zu einem. Und da man die Anspielungen erkennt, hat man auch das Gefühl, dass man gemeint ist, „gehört“ wird – im Sinne von: „Das machen die extra für mich“. (Soweit das bei einem zunächst einseitigen Kommunikationskanal wie dem Fernsehen eben möglich ist. Sobald man dann via Social Media darauf Bezug nimmt und die Macherinnen und Macher des Werks dies als Würdigung erfahren, wird ja tatsächlich ein Dialog daraus.)

Einschub: Radikal Unverfügbares

Unverfügbarkeit ist Kriterium für eine Resonanzbeziehung, aber radikal Unverfügbares entzieht sich jeder Beziehung. Es kann mich niemals anhören, ist nicht erreichbar, ich kann ihm gegenüber nicht (selbst-) wirksam werden.

Lovecrafts Erzähler wie auch seine Erzählungen, die erwähnten Bücher und Dokumente und erst recht die geschilderten Wesenheiten sind ja ausgesprochen unzuverlässig. Es gibt in diesem Erzähl-Universum keine Fixpunkte, an denen man so etwas wie Wahrheit festmachen könnte. Jede erzählte Begebenheit, jede scheinbare Wahrheit steht sofort unter Verdacht. Daher gibt es am Mythos innerhalb der Erzählwelt überhaupt nichts, was nicht radikal unverfügbar wäre. Nun stellt sich die Frage, ob die radikale Unverfügbarkeit der Inhalte des Mythos nicht einer Resonanzbeziehung entgegensteht.

Innerhalb der fiktiven Welten des Mythos kann es niemals eine Resonanzbeziehung zu diesem geben. Der Inhalt der Mythos-Bücher, des Necronomicon wie des De Vermis Mysterii, entzieht sich alleine schon dadurch jeder Beziehung, als die Lesenden durch die Lektüre wahnsinnig werden. Die einen halten dem zersetzenden Einfluss des Mythos länger stand, die anderen drehen gleich durch, aber niemand kann das „total Andere“ des Mythos hinreichend erreichbar machen, um einen Dialog zu beginnen. Dasselbe gilt für die Entitäten. Keine Protagonistin, kein Kultist kann jemals eine Resonanzbeziehung zu Azathoth oder Nyarlathotep aufbauen. (Allerdings wird zumindest Nyarlathotep sehr genau wissen, wie man die Kultistin glauben macht, dass man da etwas sehr Besonderes, Resonantes miteinander hat.)

Zu den fiktionalen Werken aber, zu deren realweltlichen Autorinnen und Autoren wie auch zu den als fiktiv erkannten Inhalten ist eine solche Beziehung freilich problemlos möglich. Die Kultistin geht am Mythos zugrunde; die Leserin kann ihn genießen.

Tentakel sind einfach cool! Die Ästhetik des Mythos

Natürlich spielt eine gewisse Ästhetik des Mythos in die Resonanzbeziehung hinein. Das merken wir vor allem da, wo die Ästhetik die Beziehung stört: Viele Mythos-Fans können etwa mit den schon erwähnten Plüsch-Cthulhus nichts anfangen. (Ich habe welche.)

Die Ästhetik des Mythos ist wichtig, um Dinge als zum Mythos gehörend erkennbar, sinnlich fassbar zu machen. Zwar sind Tentakel vielleicht auch an sich cool, aber sie werden vor allem zu einem coolen Sinn(es)-Anker, wenn wir ihren Bezug zu etwas Größerem – eben zum Mythos – verstehen.

Ohne diese sinnliche Komponente fehlt etwas. In der Literatur werden immer wieder verschiedene Sinne angesprochen, aber was die Mythos- von sonstiger Horror-Literatur unterscheidet, sind Symbole, Chiffren und Motive, die zum Kanon des Mythos gehören. In aller Horror-Literatur gibt es merkwürdige Geräusche, Gerüche und Gesichte. Aber die Tentakel Cthulhus und die flatternden Fetzen des Königs in Gelb deuten immer darauf, dass es hier noch mehr zu erkennen gibt, dass sich gerade noch etwas entzieht. Sie sind Symbole, die hinreichend bestimmt, aber eben auch hinreichend unbestimmt und offen bleiben.

Der Plüsch-Cthulhu entnimmt diese Ästhetik und transferiert sie in eine andere, kindlich assoziierte Sphäre. Vielleicht stören sich deshalb viele „serious mythos“-Fans daran. Er verwirrt die Sinnes- und Sinn-Einordnung. Und vielleicht stellt der Plüsch-Cthulhu auch einen Versuch dar, den Horror zu zähmen, verfügbar zu machen. (An diesem ästhetischen Komplex sollte ich noch weiterdenken, mir scheint das noch nicht ergründet.)

Anschlussfähigkeit der kosmizistischen Philosophie

Kurz umrissen besagt die kosmische oder kosmizistische Philosophie, die in den Werken des Mythos ausgedrückt wird: Der Mensch steht nicht im Mittelpunkt des Seins. Es gibt keine höhere, auf den Menschen ausgerichtete Intelligenz. Es gibt keinen Heilsplan, in dem der Mensch zentral oder auch nur peripher vorkommt. Die Mächte des Kosmos sind uns gegenüber vollkommen indifferent. Was die Religionen versprechen, kann in der Wirklichkeit nicht gehalten werden. Wenn es „höhere Mächte“ gibt, interessieren sie sich nicht für unsere Belange. Unser Leiden und unser Glück sind letztlich sinnlos.

„Höhere Mächte“ kamen in Lovecrafts außer-fiktionaler Meinung ohnehin nur in Form der Naturgesetze vor. Insofern sind die Gottheiten des Mythos, für die wir so relevant sind wie für uns ein paar Ameisen am Wegesrand, auch Symbole für „blinde“ evolutionäre Prozesse und mechanische Gesetzmäßigkeiten, unter deren Räder wir kommen. Der Mensch ist bedeutungslos. Dieses Motiv der Bedeutungslosigkeit passt sehr gut zum spätmodernen omnipräsenten Gefühl, abstrakten Systemen hilflos ausgeliefert zu sein. (Man denke jetzt wahlweise an die letzte Steuererklärung, den Klimawandel oder den Erfolg rechtspopulistischer Positionen in unseren politischen Systemen.)

Diese Philosophie passt auch ausgesprochen gut zu einer generell eher pessimistischen Grundhaltung. (Ist aber natürlich auch zu einem Utilitarismus oder Eudämonismus/Hedonismus anschlussfähig.) Daher überschneiden sich Mythos-Begeisterung und die Zugehörigkeit zu eher „düsteren“ Subkulturen (Goth!) oft.

Der Mythos schafft es, uns gleichzeitig eine (zuweilen schreckliche) Wieder-Verzauberung der Welt zu versprechen wie auch eine fiktionale „Erklärung“ für tagtägliche Repulsionserfahrungen. Und in Form von Geschichten und Rollenspiel dient er auch der Flucht aus dieser repulsiven Welt. Diese Weltflucht passiert zwar nur in eine noch schlimmere Welt, aber das scheint nichts auszumachen – wie auch der Erfolg von Geschichten über tragische Schicksale vor Augen führt. Und natürlich den Erfolg der im nächsten Abschnitt behandelten diversen Horror-Genres.

Resonanz und Horror

Eigentlich meint man, dass das Genre Horror als Ausdruck des Affekts Angst eher Repulsion als Anziehung, eher Entfremdung als Resonanz erzeugen sollte. Die Empirie spricht aber dagegen: Es gibt viele eingefleischte Horror-Fans, die offenbar nicht genug vom eingehegten Schrecken bekommen können.

Der Horror selbst basiert ja oft auf der Unmöglichkeit einer Resonanzbeziehung. Im Psycho-Thriller ist es aufgrund der seelischen Struktur des (Serien-) Mörders unmöglich, von diesem gehört zu werden. Für außerirdische Monster, Killer-Roboter und Zombies gilt dasselbe. Die meisten Monstren spielen auch mit unseren Begierden (besonders der Vampir kommt hier in den Sinn) und verkehren diese in ein grauenvolles Gegenbild, sie pervertieren quasi eine resonante Beziehung und formen sie um zu einer Gewaltbeziehung.

Fremdheit und Angst im Mythos

Der Mythos ist sogar noch fremdartiger. Hier sind teilweise gar keine menschlichen Interpretationen der Handlungen (?) von Entitäten und Monstren möglich. Lediglich die menschlichen Mythos-Diener, Kultisten, Hexen, Zauberer lassen Reste von Identifikation zu. Cthulhu, Yog-Sothoth und Tsathoggua aber entziehen sich jedem menschlichen Verständnis; sie operieren nicht im gleichen Sinn-Medium wie wir.

Wir können im Mythos auch die vier Grundformen der Angst wiederfinden, die Rosa in Anlehnung an Riemann und Durkheim analysiert und auf Formen der entfremdeten Weltbeziehung überträgt:

  • Das konturlose Selbst: Viele Protagonistinnen und Kultisten der Geschichte verlieren sich im Mythos, werden wahnsinnig (schizoider Typ nach Riemann).
  • Das starre ich: Der Mythos lässt die, die mit ihm in Berührung kommen (nicht: in eine echte Beziehung treten!), oft isoliert und einsam zurück und stürzt sie in Depression (depressiver Typ)
  • Die konturlose Welt: Wir können im Mythos keine Ordnung sehen, er muss uns als vollkommen chaotisch erscheinen (zwanghafter Typ)
  • Die starre Welt: Diese Dimension ist beim Mythos aus meiner Sicht am schwächsten ausgeprägt – sie beschreibt die Angst vor Überregulierung und Enge der Welt. Diese Angst ist aber oft Auslöser der Beschäftigung mit dem Mythos (hysterischer Typ)

Wie also kann ein Erzählkosmos, dessen Kern ein Marionettentheater der Ängste ist, resonanzförderlich sein?

Fiktivität der Entfremdung ermöglicht Resonanz

Wie oben schon beim Thema „radikal Unverfügbares“ ausgeführt, gelingt das natürlich nur über die (Unterstellung von) Fiktivität. Wäre der Mythos real, wäre der Spaß schnell vorbei. Die Distanzierung vom Mythos durch die Schranke Realität/Fiktion erlaubt aber eine Beziehung nicht nur zu den fiktionalen Welten, sondern auch zu deren fiktivem Inhalt.

Mythos-Geschichten sind oft ja gar keine Horror- oder Gruselgeschichten im klassischen Sinne, die von Schock-Effekten, Ekel, Brutalität oder auch von der Darstellung und Fühlbarmachung von Fürchten oder einer abstrakten Angst leben. Oft transportieren sie eher eine pessimistische oder indifferente, eben kosmische Philosophie, die sie an Wesen und Artefakten verankern. Das ist ihre Art, Entfremdung als Zentralkategorie von Horror darzustellen.

Resonanz durch die Darstellung von Entfremdung?

Vor allem in Bezug auf Punk und Heavy Metal analysiert Hartmut Rosa in „Resonanz“ (S. 495) die Eigenheit moderner ästhetischer Erzeugnisse, zunächst oder auch ausschließlich die entfremdete, repulsive Seite der Welterfahrung zu schildern, ohne diese Entfremdung gleich aufzulösen oder zu versöhnen. Nur so bleiben die Erzeugnisse glaubwürdig – auch in einer eventuell angebotenen Überwindung der Entfremdung, einer Resonanzhoffnung. Ansonsten laufen sie Gefahr, süßlich, sentimetal, „romantisch“ zu werden.

Ich füge an: Während viele Genres am Ende doch noch bei einer Auflösung, einer Versöhnung anlanden oder diese gleich einmischen, hält sich der Horror hier zurück: Er „suspendiert“ die Auflösung und die versöhnte Weltbeziehung. (Was im Fall des Mythos auch nur bedingt stimmt. Denn die Bilder von gemütlich in ihren Ohrensesseln schmökernden Gelehrten liefern ja durchaus eine Resonanzhoffnung und ein Identifikationsbild für die Lesenden.)

Wir malen, was wir fürchten

Gleichzeitig dient die künstlerische Bearbeitung von Dingen, vor denen wir Angst haben, ja auch deren Bearbeitung. Damit schafft sie Möglichkeit zur Anverwandlung von repulsiven Irritationen aus unserer Umwelt. Das könnte schon seit frühester Vorzeit ein bedeutender Treiber von Kultur gewesen zu sein, wenn man John Cage glaubt (bei ca. 2:05 Minuten). Ich weiß nicht, was gegenwärtige Anthropologinnen und Anthropologen von der These halten, dass „primitive people“ sich an „animals that frightened them“ gewöhnten, indem sie sie malten, aber ich finde sie überzeugend. (Auf das Cage-Interview wurde ich übrigens durch eine Disquiet-Junto-Aufgabenstellung aus dem Juli aufmerksam.)

Insgesamt können wir festhalten: Die Grundverhältnisse Angst/Furcht und Entfremdung vs. Begehren/Bedürfnis und Resonanz sind eben nicht ganz starr. Es gibt ein Bedürfnis nach dem Fürchten und eine Furcht vor dem Begehrten.

Fazit

Lovecraft rettet uns den Horror ins materialistische Zeitalter und (er-)findet dafür etwas haltlos Schreckliches. Der Mythos transportiert, im Kern, eine radikale Weltsicht, die den Menschen seiner Bedeutsamkeit beraubt. Er stellt Entfremdung in der vielleicht radikalsten Form dar, wie sie die (Pop-) Kultur kennt. Trotzdem und gerade deswegen kann daraus, in der ästhetischen Bearbeitung und der Anverwandlung durch Rezipierende, eine Resonanzachse entstehen.

Der Mythos ist an vielen Stellen als sehr offene Erzählwelt angelegt, die unzählige Anschlüsse erlaubt. Dabei bleibt er aber konkret genug, um eine Identität mit sich zu haben. Das schafft er durch einen faszinierenden Symbol-Kanon. Das erlaubt horizontale und vertikale Resonanzachsen. Und es stellt sicher, dass der Mythos und seine Anhängerinnen und Anhänger sich stets weiterentwickeln, verwandeln können.

Der Beitrag Cthulhu-Mythos: Warum „resoniert“ der kosmische Horror? (Resonanzreflexion) erschien zuerst auf Dennis Schmolk.

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