Luhmann Archive – Dennis Schmolk https://dennisschmolk.de/tag/luhmann/ Kontakt: dennis@dennisschmolk.de Tue, 28 May 2024 17:05:32 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.6.2 https://dennisschmolk.de/wp-content/uploads/2023/08/cropped-oKajK5kXZmHLTZso5N5C-1-2mlpj-32x32.png Luhmann Archive – Dennis Schmolk https://dennisschmolk.de/tag/luhmann/ 32 32 Grundideen der soziologischen Systemtheorie https://dennisschmolk.de/2024/05/28/grundideen-der-soziologischen-systemtheorie/ https://dennisschmolk.de/2024/05/28/grundideen-der-soziologischen-systemtheorie/#respond Tue, 28 May 2024 12:02:17 +0000 https://dennisschmolk.de/?p=6242 Mit der Systemtheorie geht es mir wie mit konkreter Kunst: Alles ist schön geordnet, logisch, konstruiert, aber in den Details ahnt man, dass da Sprengkraft steckt. (Sabine L. aus N.) Da ich dazu immer wieder gefragt werde, dachte ich mir, ich schreibe es mal als Artikel auf. (Eigentlich habe ich nur verschiedene Versatzstücke aus Chatverläufen zusammenkopiert, mea culpa.) Was folgt ist ein kurzer, allgemeiner Abriss der Grundideen der soziologischen Systemtheorie ... Mehr

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Mit der Systemtheorie geht es mir wie mit konkreter Kunst: Alles ist schön geordnet, logisch, konstruiert,
aber in den Details ahnt man, dass da Sprengkraft steckt.

(Sabine L. aus N.)

Da ich dazu immer wieder gefragt werde, dachte ich mir, ich schreibe es mal als Artikel auf. (Eigentlich habe ich nur verschiedene Versatzstücke aus Chatverläufen zusammenkopiert, mea culpa.)

Was folgt ist ein kurzer, allgemeiner Abriss der Grundideen der soziologischen Systemtheorie nach Luhmann aus meiner persönlichen Warte. D.h., im systemtheoretischen Jargon: Es ist kontingent-selektiv; es ist eine Auswahl eines Beobachters (nämlich meine), und diese Auswahl könnte auch völlig anders aussehen.

Aber in medias res:

Was sind die Grundideen einer systemtheoretischen Perspektive auf Gesellschaft?

  • „Das Soziale“ („Gesellschaft“) ist nicht aus Biologie oder Psyche erklärbar, sondern emergent.
    • Daher funktioniert es nach eigenen „Regeln“, denen der Kommunikation.
  • Das scheinbar Wahrscheinliche ist eigentlich unwahrscheinlich, daher erklärungsbedürftig und interessant.
    • Kommunikation ist an sich unwahrscheinlich; ihre allgegenwärtige Verbreitung muss daher erklärt werden.
  • Kommunikation stabilisiert sich (d.h.: macht weitere Kommunikationsanschlüsse wahrscheinlich) durch Struktur und Semantik.
    • Die berühmten „sozialen Systeme“ fallen in den Strukturbereich: Zur Sicherstellung dauerhafter Anschlüsse bilden sich (!) abgeschlossene Systeme mit spezifischen Funktionsweisen heraus (heute etwa: Interaktionen, Liebesbeziehungen, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Organisationen, …).
    • Diese Struktur ist stetem Wandel unterworfen (Stichwort: Differenzierung).
    • Im Semantikbereich setzen sich bestimmte Selbst- und Fremddeutungen (Beobachtungen) im Laufe der Zeit durch; andere (die meisten) nicht. Jede Stabilisierung ist erklärungsbedürftig.
    • Struktur und Semantik bedingen sich gegenseitig: Sie ko-evolvieren.
  • Generell ist die ganze Theorie als Evolutionstheorie zu verorten, aber nicht biologistisch (siehe „emergent“ oben).
  • Die soziologische Systemtheorie
    • … ist keine der Gesellschaft externe Beobachtungsweise, sondern eine interne: Sie ist auch ihr eigener Gegenstand. (Etwa als ein Programm eines Funktionssystems, nämlich der Wissenschaft.)
    • … dient in Bezug auf alle ihre Gegenstände auch immer als Verfremdungsbrille.

Was kommt sonst noch vor?

Wie man sieht: Es geht in den Grundlagen m.E. gar nicht so sehr um „Systeme“ und deren „Autopoiesis“, um „Code“ und „Programme“. Das sind eher die catchy Schlussfolgerungen. D.h. aber auch, dass eine Menge in dieser Liste fehlt, was Gesellschaft zu erklären erlaubt. Hier nur als Stichpunkte:

  • doppelte Kontingenz — Ich weiß, dass du weißt, dass wir nicht wissen können, was die/der je andere denkt. Das Grundproblem, dessen Lösung die Emergenz sozialer Systeme erzwingt.
  • Komplexität: das Soziale ist komplex, weil es immer Möglichkeiten mitführt, die nicht realisiert werden, und das die Grundlage aller selektiven (Selbst- und Fremd-) Beobachtungen ist
  • Funktion — wenn etwas erklärungsbedürftig ist, klopft man es am besten auf seine Funktion hin ab.
  • operative Schließung, kognitive Offenheit („Autopoiesis“ und „Resonanz“/“Interpenetration“/“strukturelle Kopplung“)
  • Selektion, Selektvität
  • Kommunikation = Synthese aus Information/Mitteilung/Verstehen
  • Form/Medium (siehe hier)
  • bestimmte Medien (Sprache, Schrift, Erfolgsmedien) als Antworten auf das Problem der Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation
  • Code/Programm
  • Beobachtung = Unterscheidung/Bezeichnung, u.a. als Selbst- und Fremdbeobachtung und als Beobachtung erster und zweiter (und höherer) Ordnung

Lektüren

Wer jetzt noch nicht abgeschreckt ist, kann hier weiterlesen:

  • Baraldi/Corsi/Esposito: „GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme“ bzw. „Unlocking Luhmann“. Das Buch bietet ein Glossar sowie verschiedene Vorschläge für Lektürepfade durchs Buch.
  • Nassehi: „Wie weiter mit Niklas Luhmann?“. Knappe 50 Seiten für schmales Geld.
  • Luhmann: „Einführung in die Systemtheorie“.

Das von mir sehr geschätzte, leider vergriffene „Luhmann-Lexikon“ von Detlef Krause empfehle ich an dieser Stelle noch nicht. Das ist m.E. für einen Einstieg zu kompliziert, auch wenn ich es prinzipiell das bessere Glossar finde als Esposito et. al. und es mit einem knackigen Einführungskapitel kommt.


Beitragsbild: Stable Diffusion, cubist, „Niklas Luhmann sitting by his Zettelkasten“

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Form und Medium bei Luhmann: Ein Schneespaziergang und eine Klaviersonate zur Illustration https://dennisschmolk.de/2024/01/13/form-und-medium-bei-luhmann-ein-schneespaziergang-und-eine-klaviersonate-zur-illustration/ https://dennisschmolk.de/2024/01/13/form-und-medium-bei-luhmann-ein-schneespaziergang-und-eine-klaviersonate-zur-illustration/#comments Sat, 13 Jan 2024 19:37:52 +0000 https://dennisschmolk.de/?p=5561 Die Form-Medium-Theorie, die Niklas Luhmann (inspiriert durch u.a. Fritz Heider und George Spencer Brown) gerne verwendet, bereitet immer wieder gewisse Verständnisprobleme. Ich versuche mich daher hier (auch als Vorarbeit zu einem Kapitel meiner MA und einem Essay) an zwei Beispielen. Alice in the snow Beim Schneespaziergang beobachten wir als Medium — wen überrascht’s — den Schnee, der aus Schneekristallen besteht. Diese Kristalle, die Elemente des Schnees, sind miteinander „gekoppelt“: sie ... Mehr

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Die Form-Medium-Theorie, die Niklas Luhmann (inspiriert durch u.a. Fritz Heider und George Spencer Brown) gerne verwendet, bereitet immer wieder gewisse Verständnisprobleme. Ich versuche mich daher hier (auch als Vorarbeit zu einem Kapitel meiner MA und einem Essay) an zwei Beispielen.

Alice in the snow

Beim Schneespaziergang beobachten wir als Medium — wen überrascht’s — den Schnee, der aus Schneekristallen besteht. Diese Kristalle, die Elemente des Schnees, sind miteinander „gekoppelt“: sie hängen zusammen, aber nur sehr lose. Sie können leicht verweht oder zusammengepresst werden. Der Schnee besteht, auf einer höher auflösenden Beobachtungsebene, aber wiederum aus Formen: Wassermoleküle haben durch die Kälte bestimmte, feste Kristallstrukturen gebildet. Was jeweils Form, was Medium ist, ist die kontingente Setzung einer Beobachterin.

Alice läuft nun in neuen Wanderstiefeln durch den Schnee und prägt mit jedem Schritt (der Zeit verbraucht!) einen Abdruck ein. Jetzt sind die vorher lose gekoppelten Flocken fest gekoppelt. Je loser das Medium, desto leichter prägt sich ein Abdruck ein: Wäre der Untergrund nicht Schnee, sondern Eis (also sehr fest verbundene Wassermoleküle), dann würde Alice keinen Abdruck hinterlassen. Im Gegenteil: Sie würde rutschen. Das „lose“ Medium liefert einen Halt, den ein „festes“ Medium nicht bietet. Außer, Alice hätte Spikes an den Stiefeln — dann gäbe es wieder Halt, und dann gäbe es auch wieder eingeprägte (aber andere!) Formen.

Das also ist unsere Form: ein Abdruck des Stiefels im Schnee. Der Stiefel(-schritt) unterscheidet den Abdruck vom Schnee-Medium. Dieser Abdruck ist gespeichert, aber relativ temporär: Er wird spätestens mit der Schmelze verschwinden. Oder er wird durch andere Abdrücke überlagert.

Eine Form ist das aber auch für uns als Beobachtende: Wir unterscheiden den Abdruck des Stiefels von anderen (oder fehlenden) Abdrücken; der Stiefel ist in der Form noch präsent, aber sie ist nicht der Stiefel. Der Stiefel ist längst weitergezogen. Trotzdem reicht der Verweis, um den Stiefel- vom Reh-Abdruck unterscheiden zu können. (Jede Form ist eine Unterscheidung mit zwei Seiten, hier: Abdruck und Stiefel, oder genauer: Schnee/Abdruck und Stiefel.) Bemerkenswert ist, dass hier der Schnee nicht mehr interessiert; er ist als Medium völlig unwichtig geworden, sozusagen „unsichtbar“. Betrachtet wird die Form.

Abdrücke im Sand — eine andere Anwendungsmöglichkeit der Form-Medium-Unterscheidung.

Das Medium steht, weil es nun eingedrückt ist, nicht mehr für die Bildung von neuen Formen zur Verfügung: Da ist kein „Schnee“-Medium mehr, sondern der Abdruck. Wenn wir ein bisschen herauszoomen, sehen wir, dass es noch viel mehr Spuren gibt. Nun können wir die Abdrücke, die Alice hinterlassen hat, wierum als lose Elemente begreifen, die wir zur Form „Alice‘ Spur“ koppeln können. Wenn dann noch Bobs und Charlies Spuren und Pfotenabdrücke dazukommen, können wir aus diesen Elementen die Form „Der Weg zur Aussichtsplattform“ bilden etc. Hierbei wird die Prägung nicht mehr von der Operation „Schritt“, sondern von unserer Operation „Beobachtung“ vorgenommen.

Musik: Eine Klaviersonate

Um das Ganze etwas näher an die Abstraktionsebene zu führen, der wir bei Heider, Luhmann und Co. begegnen, kommen wir zum zweiten Beispiel: Musik. Die Form, die wir uns letztlich ansehen wollen, ist eine Klaviersonate mit 3 Sätzen (sagen wir: Allegro, Adagio, Allegretto).

Nun können wir auf verschiedenen Ebenen herleiten, in welches Medium diese Form geprägt ist. Eine Ebene ist materiell: Die Form ist physisch in Tinte auf Papier, als „vereinbarte“ Notenzeichen in einem Notensystem, eingeschrieben — denn vermutlich müssen wir uns eine Partitur ansehen. Andererseits existiert sie aber als Schallwellen in Luft, wenn sie aufgeführt wird.

Davon können wir nun noch eine kompositorische Ebene unterscheiden, und wir beginnen auf einer sehr „niedrigen“ Ebene. Die Sonate ist in C-Dur komponiert. Sie beginnt mit dem Grundton, einem C4. Dieser Ton ist eine Form im Medium der Frequenzen, und nimmt darin eine relativ präzise Stelle ein (etwa 260 Hz). Oder anders gesagt: Das C4 ist nur deshalb eine Form, weil sie von der Form des D4, des C5 usw. unterschieden ist, aber gleichzeitig auf diese verweist.

Die Stelle im Medium der Frequenzen ist kontingent, aber nicht beliebig; man könnte auch (je nach Stimmung) einen anderen Grundton oder eine andere Frequenz wählen, zumal nur das Klavier spielt und sich nicht noch auf andere Instrumente „einstimmen“ muss. Aber man müsste dann alle anderen Formen (Töne) daran ausrichten, um den Zusammenhang zu wahren und die gewünschten Intervalle bilden zu können. (Wir ignorieren, dass der Klavierton auch noch Obertöne produziert und letztlich alle Saiten durch unser C4 angeregt werden.) Analog dazu können wir nun alle anderen Formen (also Töne wie C3, C5; D4; F#6) bilden.

Aus den Formen der Töne bildet sich auf einer anderen Beobachtungsebene nun ein neues Medium: die auf einer Klaviatur zur Verfügung stehenden Töne, die in (je nach Stimmung) klar definierten Beziehungen zueinander stehen. Sie sind lose gekoppelt: Sie sind voneinander abhängig, aber das sagt noch nichts darüber aus, welche Tonfolgen sich verwenden lassen.

Dieses Medium aus 88 Tönen ist das gesamte Tonmaterial, das unserer Komponistin Alice zur Verfügung steht. Hierin lassen sich nun spezifische Formen bilden, die als Material besser handhabbar sind: Tonleitern. Wir sortieren also alle C#, D#, Eb usw. aus und bilden die Skala C-Dur (CDEFGAHC). Die anderen Töne verschwinden nicht aus dem generellen Medium des Tonmaterials, im Gegenteil, sie werden vermutlich laufend gebraucht, um Akzente zu setzen, bei Modulationen usw. Aber das wesentliche Material (Medium), das Alice verwendet, kann von Bob als „C-Dur-Skala“ beobachtet werden.

In dieses Medium prägt Alice nun Motive (Formen) ein, die dann als Medium für mehrtaktige Phrasen zur Verfügung stehen. Erst durch Wiederholung wird aus einer beliebigen Tonfolge ein „Motiv“: Formen zeichnen sich durch Wiederholbarkeit und Wiederholung aus; ein einmalig verwendeter chromatischer Übergang ist dann eben keine Form „Motiv“. Jede dieser Formen ist zudem sehr temporär: Sie verklingt sofort wieder. Und: Das Medium gibt die möglichen Formen vor, es ist selektiv; es lässt sich kein Schlagzeugsolo einbauen.

Alice kann jederzeit auf das Medium der Motive oder das Medium der Phrasen zurückgreifen, um Variationen (neue Formen) zu schreiben und die Medien damit zu erweitern; es bildet sich ein neues Medium, das man als „musikalischen Formenvorrat“ der Sonate bezeichnen könnte. Schließlich koppelt sie aus diesem Medium (und unter Einbezug der Tempoangaben, der Aufführungspraxis, dem Können des Pianisten Charly, ihres Geschmacks etc.) feste Sätze. Und diese wiederum bilden eine Sonate. Nur die Sonate kann „gespielt“ werden, nicht das Medium „Musik“ an sich: Dieses Medium ist unsichtbar (auch wenn man eine Tonleiter oder die Motive der „Sonate in C-Dur opus 1“ als Formen spielen kann).

Auch die Gesamtheit der Sonaten Alice‘ oder sogar alle Sätze aus allen Sonaten können zum Medium werden, um etwa die feste Kopplung „Konzertabend“ zu bilden. Bei allen musikalischen Formen gilt aber: Sind sie verklungen, ist die Luft wieder leer, um als Medium für die ungeordneten Frequenzen des Applauses zu dienen.

PS: Diese Beispiele sind sehr allgemein gehalten. Ich verzichte der Kürze zuliebe z.B. darauf, bei der Musik zu thematisieren, dass Zuhörende ein Gedächtnis brauchen, das erst wieder leer werden muss (Auflösung), um neue Formen aufzunehmen etc.

PPS (Update März 2024): Wer sich angucken will, wie man damit in Sachen Musik weitermachen kann, sei auf Dirk Baeckers Beitrag in „Soundcultures“ von Szepanski und Kleiner verwiesen. Da geht es u.a. um die Frage, wie (tendenziell avantgardistische) Elektronika-Produzierende versuchen, hinter den Formen das jeweilige Medium hörbar zu machen. Zum Sammelband „Soundcultures“ gibt’s hier demnächst eine kurze Erwähnung.


Beitragsbild: Zwätzen im Winter.

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Luhmann: Die Theorie und der Mensch https://dennisschmolk.de/2023/08/20/luhmann-die-theorie-und-der-mensch/ https://dennisschmolk.de/2023/08/20/luhmann-die-theorie-und-der-mensch/#comments Sun, 20 Aug 2023 09:52:09 +0000 https://dennisschmolk.de/?p=4934 Biographie: eine Kette von Zufällen, die sich zu etwas organisieren, das dann allmählich weniger beweglich wird. (In: „Biographie, Attitüden, Zettelkasten“) Unnahbar, abstrakt, technokratisch: Niklas Luhmann (1927–1998) hat keinen besonders sympathischen Ruf weg. Das finde ich schade — denn in Luhmann begegnen wir einem feinsinnigen, oft humorvollen, zuweilen ironisch-bissigen Menschen. Daher möchte ich im Folgenden ein paar kurze Begebenheiten aus dem Leben Luhmanns einwerfen, um zu beleuchten, wie er zu seiner ... Mehr

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Biographie: eine Kette von Zufällen, die sich zu etwas organisieren, das dann allmählich weniger beweglich wird.
(In: „Biographie, Attitüden, Zettelkasten“)

Unnahbar, abstrakt, technokratisch: Niklas Luhmann (1927–1998) hat keinen besonders sympathischen Ruf weg. Das finde ich schade — denn in Luhmann begegnen wir einem feinsinnigen, oft humorvollen, zuweilen ironisch-bissigen Menschen. Daher möchte ich im Folgenden ein paar kurze Begebenheiten aus dem Leben Luhmanns einwerfen, um zu beleuchten, wie er zu seiner Theorie gekommen sein mag. Ich bin kein Biograph (und Luhmann hielt nicht viel von Biographie), daher ist es eher ein theoretischer Blick auf Textstellen. Und daher ist das Folgende auch nicht chronologisch angeordnet.

Der Krieg

Luhmann hat bekanntermaßen das Ende des Zweiten Weltkriegs noch als Flakhelfer miterlebt. Eine krasse Anekdote aus den letzten Kriegstagen:

[Jochen Hörisch habe] Luhmann »die blödeste aller denkbaren Fragen gestellt, warum er so kalt, funktionalistisch und sachlich denke und schriebe«. – Darauf antwortete Luhmann, er sei zusammen mit einem befreundeten Klassenkameraden noch in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs eingezogen und in sinnlose Kämpfe verwickelt worden – und auf einmal sei der enge Freund nicht mehr an seiner Seite gewesen, sondern in tausend Teile zersplittert.

Und da habe er (Luhmann wechselte in einen halbironischen Ton) sich vor der Alternative gesehen, entweder verrückt zu werden oder so zu denken und zu leben, dass er es jederzeit für möglich halte, dass ein Mensch, ein Subjekt von jetzt auf gleich zersplittert werde. Er habe sich für das Zweite entschieden und sei Systemtheoretiker geworden.
(Wolfram Burckhardt: Luhmann Lektüren, versteckt in einer Fußnote)

Psychologisierend könnte man dies also deuten: Ironie und Funktionalismus haben dem Subjekt Luhmann erlaubt, weiterzumachen. Man kann auch umformulieren: Eine distanzierte Strukturlogik ist (sagen wir: nach dem Tod Gottes) die einzige Möglichkeit, mit den subjektiv erfahrenen Zerrkräften der Realität zurechtzukommen. Es ist weder aus einer Vernunft- noch aus einer Diskurslogik erklärbar, dass es zu diesen „sinnlosen Kämpfen“ kam, schon weitaus eher aus einer Systemlogik. Und der ebenfalls auf keinen höheren oder tieferen Sinn verweisende Tod des Freundes kann nicht mehr als Wille Gottes oder Schicksal gedeutet werden, denn er ist ja klar gesellschaftlich verursacht.

Und vielleicht am zentralsten: Dass es den Freund trifft (und nicht Luhmann), ist „Zufall“. Der, den es trifft, kann dann natürlich nicht mehr beobachten und kommunizieren. Hierin kann man also zwei Ideen der Systemtheorie sehen: Kontingenz und Evolution, die auf unklaren und sicher nicht geplanten Pfaden dafür sorgen, dass ist, was ist.

Zwischengedanke: Kalt und unmenschlich im Stil?

Ich denke übrigens gar nicht, dass Luhmann sonderlich kalt schreibt. Im Gegenteil bringt er vielen von ihm behandelten Themen Empathie und Sympathie entgegen (vielleicht abgesehen von der Frankfurter Schule, gegen die er sich ja absetzen musste, und selbst hier ist der Ton oft versöhnlicher als von der Gegenseite). Seine Distanz zu den Dingen liegt eher darin begründet, dass er es ablehnt, unterschiedlos davon auszugehen, dass man wissen könne, was das Wichtige oder Richtige ist — er ist (vielleicht ähnlich wie Derrida) ein theoretischer Verfechter der Uneindeutigkeit bzw. der Perspektivabhängigkeit. Und er sagte ja irgendwo selbst, er wolle in jedem Buch auch einen Unsinn unterbringen …

Jugend und Menschenbild

Ein anderer Vorwurf neben der Unmöglichkeit, Luhmann für eine normative Idee einzunehmen, zielt auf die Rolle „des Menschen“ in seiner Theorie. Der komme nämlich nicht vor.

Als man es ihm als Unmenschlichkeit ankreiden wollte, die Individuen in seiner Theorie dem sozialen System außen vor zu halten, war er schockiert. „Die Menschen als dessen Teil zu fordern, ob sie wollen oder nicht“, diese Vorstellung entsetzte ihn – wohl eingedenk seiner eigenen Jugend. Von seiner Kindheit in Lüneburg erzählte Niklas Luhmann einmal: Wenn er in jenen Jahren der Hitlerkultur sich einmal am Ballspielen beteiligen durfte, so wurde er von den Jungen immer vor eine Schaufensterscheibe positioniert“. Für Luhmann stand es fest, dass es der Würde und dem Wohl des Menschen besser täte, ihn nicht per se als Teil der Gesellschaft zu fassen und damit vorweg und unbefragt sozial zu vereinnahmen.
(Theodor Bardmann: Leben wie Theorie) https://www.systemagazin.de/beitraege/luhmann/bardmann_lebenwietheorie.php

Die Rolle des Individuums außerhalb der Gesellschaft, nämlich als dessen Umwelt, legt das „Menschenbild“ (Luhmann: „Menschenbilder, sowas Grausliches!“) nicht fest. Der Mensch kann alles Mögliche sein und bleiben; Körper, Subjekt, Bewusstsein; er kann verschiedene Rollen einnehmen, ohne in ihnen aufgehen zu müssen. Körper, Subjekt, Bewusstsein kann es ohne Gesellschaft nicht geben, aber nichts davon ist durch Gesellschaft ganz bestimmt. Diese Theorie kann ein Gehäuse beschreiben, ohne es als „stahlhart“ (Weber) annehmen zu müssen. Das ist eine elegante und humane „Lösung“ auch des Struktur-Handlungs-Problems, freilich um den Preis, dass man nur noch Kommunikation beobachtet — und über das Wesen, die Essenz, den Kern des Individuums schweigt.

Warum „Differenz“?

Die Frage nach den Unterschieden und dem Unterschied ist eine weitreichende. Zum Beispiel fragt sich: Was ist der „Normalfall“? Und anschließend: Was ist abweichend und damit interessant, erklärungsbedürftig? Luhmann kommt ja u.a. zu dem Schluss, dass Kommunikation per se unwahrscheinlich ist und das Gelingen von Kommunikation erklärt werden muss; nicht umgekehrt. Dass Kommunikation die Welt nicht mitteilt, sondern einteilt, also unterscheidet; und dass es die Unterschiede sind, die den Normalfall darstellen, und man daher die Strukturen — das durch Wiederholung „gemeinsame“ — erklären muss. Auch diese(s) Erkenntnis(interesse) kann er anhand seiner Biographie verdeutlichen (ohne dass man behaupten sollte, es sei von dieser „verursacht“!):

Herr Luhmann, erklären Sie uns bitte, warum interessiert man sich für Differenz?
Denken Sie doch einmal an die Situation 1945, wie man sie als 17jähriger erlebt: Vorher schien alles in Ordnung zu sein und hinterher schien alles in Ordnung zu sein, alles war anders und alles war dasselbe. Man hatte vorher seine Probleme mit dem Regime und hinterher war es nicht so, wie man es sich erwartet hatte. (AuW)

Es passiert etwas, ein Unterschied wird gemacht (er wird beobachtet). Aber es gibt etwas „Gemeinsames“, gerade auch in Wahrnehmung und Bewertung des Unterschiedenen:

Vor 1945 hatte man doch gehofft, daß nach dem Wegfall des Zwangsapparates alles von selbst in Ordnung sein würde. Das erste jedoch, was ich in der amerikanischen Gefangenschaft erlebte, war, daß man mir meine Uhr vom Arm nahm und daß ich geprügelt wurde. Es war also überhaupt nicht so, wie ich vorher gedacht hatte. Und man sah dann bald auch, daß der Vergleich von politischen Regimen nicht auf der Achse „gut/ böse“ verlaufen konnte, sondern daß man die Figuren in ihrer begrenzten Wirklichkeit beurteilen muß. (AuW)

Was bleibt, ist nicht die Gemeinsamkeit (gut, böse), sondern die Empirie — und wie die Individuen sind auch diese „Figuren“ eben unterschieden. Man beachte, dass dieser „radikale Individualismus“ sich ganz gut mit einer Freiheits- und damit Verantwortungsvorstellung vereinbaren lässt, ohne hinter den Dingen liegende Gründe für die „Freiheit“ annehmen zu müssen. Generell ist der Freiheitsbegriff eher einer der „Unzuverlässigkeit“ bei Luhmann: Deshalb mühen sich alle Systeme so sehr, ihre Kommunikation „erfolgreicher“ und die beteiligten Personen „berechenbarer“ zu machen. Denn in den hinter den Personen stehenden „Menschen“ ist eine prinzipiell differente, abweichende Orientierung erwartbar. Und das Funktionieren der Systeme führt dann mal ins Gute, mal ins Schlechte (oder Böse); es bleibt ambivalent.

Peter Fuchs zufolge (im Luhmann-Handbuch, s.u.) berichtete Luhmann derartige Begebenheiten übrigens ohne starke emotionale Beteiligung. Es ging hier eben nicht um das Berührt- oder Erschüttertsein eines Subjekts, sondern um die Lernchancen. „[E]r gab dem, was er erzählte, eine lakonische Wendung: Er habe bei diesen Ereignissen Kontingenz und soziale Unordnung kennengelernt. Die Rede bezog sich nicht auf durchschlagende, existentielle Erfahrungen“.

Jura

Die wohlgeordnete (?) Beobachtungsperspektive der Systemtheorie könnte demselben Drang nach Ordnung entspringen, der Luhmann dazu brachte, Jura zu studieren (vgl. „Es gibt keine Biographie“, S. 17 in der „Fernseher“-Ausgabe). Aus dem Interview geht aber auch hervor, dass ein gewisser Wunsch mitgeschwungen haben mag, durch die Juristerei das „Chaos“ der Nachkriegszeit — vor allem die Misshandlung in der amerikanischen Kriegsgefangenschaft — zu bewältigen. Das gelang dann offenbar erst in der Gesellschaftstheorie.

Warum schreibt er so viel?

Luhmann war wohl nicht allein, aber (relativ) einsam. Die Frage, ob er für seine Arbeit — das viele Schreiben — Opfer bringen müsse, verneint er. Direkt auf Familie angesprochen sagte er:

Meine Frau ist gestorben, mein bester Freund ist gestorben; meine Kinder sind ein wesentlicher Teil meines Lebens. Mit ihnen und der ganzen Jugendkultur um sie herum lebe ich hier zusammen. Aber die Menschen meines Alters, die ich gern hatte, die habe ich verloren, die sind schwer zu ersetzen. (AuW)

Luhmanns Frau Ursula von Walter starb 1977; die Kinder Clemens, Jörg und Veronika — letztere ist Alleinerbin seines wissenschaftlichen Nachlasses — waren laut NDR-Interview mit Detlef Horster zwischen 12 und 16. Offenbar war er relativ gerne alleinerziehender Vater. Mit dem Freund ist wohl Friedrich Rudolf Hohl (1916–1979) gemeint, Jurist und (zu Lebzeiten unveröffentlichter) Dichter.

Zur Frage, ob der Tod von Frau und Freund Luhmanns Theorie beeinflusst hat, müssten intimere Kennerinnen seiner Werkgeschichte Stellung nehmen.

Eigene biographische Schilderung

Wer den erwähnten Beitrag „Es gibt keine Biographie“ nachhören möchte, findet hier einen Radiomitschnitt.

Er bietet einen interessanter Einblick u.a. in die Endphase des Krieges, zum Beispiel angesichts der Frage, ob man nun — als klar war, der Krieg würde verlorengehen — mit einem Regimewechsel rechnete, oder damit, dass sich die Nazis trotz verlorenem Krieg würden an der Macht halten können.

Weitere Quellen zur Biographie

  • Dirk Baecker zur „Biographie“ und Peter Fuchs zur „Sphinx ohne Geheimnis“ im Luhmann-Handbuch (Springer)
  • „Guter Geist ist trocken und Systeme sind unzuverlaessig“. Nachruf von Dirk Baecker (Online)
  • „Man muß schmunzeln können“. Nachruf von Peter Fuchs (taz)
  • Es gibt einen 13-seitigen Word-Lebenslauf Luhmanns mit vielen Anmerkungen und Anekdoten: „Biographie als organisierte Zufälligkeit“. Zusammengestellt von
    Theodor Bardmann. Eine Fassung ist via Wayback Machine verfügbar.
  • Update: Zum 25. Todestag erschienen (in der „Welt“ …) 5 Beiträge mit latenten biographischen Bezügen

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Bürokratien, veraltete Systeme und Entfremdung (Rant) https://dennisschmolk.de/2022/08/20/buerokratien-veraltete-systeme-und-entfremdung-rant/ https://dennisschmolk.de/2022/08/20/buerokratien-veraltete-systeme-und-entfremdung-rant/#comments Sat, 20 Aug 2022 07:37:03 +0000 https://dennisschmolk.de/?p=2791 Du erwartest ein stressfreies Studium? Ich glaube, das ist romantische Verklärung und viel Verdrängung. Studieren war schon immer Stress. Nicht wegen Seminaren und Klausuren, sondern wegen dem ständigen Hinterherrennen nach Noten oder sonstigen Eintragungen in irgendwelche veralteten, schlecht verwalteten Systeme. (Eine Kollegin) Die ersten Hürden auf dem Weg zum Studium habe ich ja schon dokumentiert: schlechte Bewerbungsportale. Natürlich ging es genau so weiter: Merkwürdige und widersprüchliche Immatrikulationshinweise; Fristen, die über ... Mehr

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Du erwartest ein stressfreies Studium? Ich glaube, das ist romantische Verklärung und viel Verdrängung. Studieren war schon immer Stress. Nicht wegen Seminaren und Klausuren, sondern wegen dem ständigen Hinterherrennen nach Noten oder sonstigen Eintragungen in irgendwelche veralteten, schlecht verwalteten Systeme. (Eine Kollegin)

Die ersten Hürden auf dem Weg zum Studium habe ich ja schon dokumentiert: schlechte Bewerbungsportale. Natürlich ging es genau so weiter: Merkwürdige und widersprüchliche Immatrikulationshinweise; Fristen, die über 2 Systeme und verschiedene Dokumente verstreut nachzusehen sind; Vorlesungsverzeichnisse, die nicht aktuell sind, weil das alte System nicht mehr genutzt werden soll, das neue aber leider doch noch nicht funktioniert; usw.

Mein persönlicher Höhepunkt war, dass ich in einem Formular der FAU, an der ich Buchwissenschaft studiert habe, meine Studienlaufbahn dokumentieren sollte. Unter den wählbaren Studiengängen waren zwar „Edelsteindesign“, „Bundeswehrverwaltung“ und „Wehrtechnik“, nicht aber Buchwissenschaft.

[Alle Artikel zum Thema Sabbatical finden sich hier.]

Per aspera …

Aber selbst, wenn die Systeme technisch gesehen soliden Dienst tun, ist der Weg zur Immatrikulation ein steiniger. Alleine, was man da alles braucht:

  • Beglaubigte Kopien von Abi- und Uni-Abschluss – sogar für die Immatrikulation an der Uni, wo man den Abschluss erworben hat, und sogar, wenn der Hochschulabschluss ohne Abi gar nicht möglich gewesen wäre
  • Zusätzlich eine Exmatrikulationsbescheinigung (von der ich nicht wusste, dass ich sie habe; sie lag in einem anderen Objekt, von dem ich nicht wusste, dass ich es habe, einem sogenannten „Studienbuch“)
  • Eine elektronisch von der Krankenkasse an die Uni zu übermittelnde Versicherungs-Statusmeldung „M10“ (Das downloadbare Formular der Krankenkasse für diesen Zweck genügt nicht)
  • Zahllose lange Formulare, teilweise vorausgefüllt mit den Daten der Bewerbung, teils nicht
  • Kopien vom Perso
  • Eine Kopie des Zulassungsbescheids, den einem besagte Uni gerade zugemailt oder zugeschickt hat
  • Und und und

Ich kann mir vorstellen, dass an dieser Stelle einige Menschen aufgeben und doch einfach arbeiten gehen. Job suchen, finden, antreten und machen geht deutlich unbürokratischer. Aber ich wollte ja mal wieder eine Herausforderung 🙂

Warum ist das so?

Bei einigen Dingen verstehe ich, dass sie formalisiert erhoben werden; bei anderen scheint es mir eine Mischung aus „das war immer so“ und „das ist der erste Intelligenz- und Engagement-Test vor dem Studium“. Quasi: Verkrustete Strukturen treffen auf kaputte Technik und eine klare Machtstruktur, in der man den Bewerbenden vorgeben kann, was sie zu tun haben. Hier kann man aussieben, exkludieren und natürlich auch symbolische Macht ausüben.

Ich kann mir auch vorstellen, dass es bei anderen Studiengängen als soziologischen durchaus sinnvoll ist, doppelt und dreifach abzusichern, dass dort nur reinkommt, wer reingehört; sagen wir: Juristerei und Medizin. Andererseits ist es wie so oft mit Sicherheitsvorkehrungen: Sie bestrafen eigentlich nur die ehrlichen, denn Kriminelle kommen eh rein. Aber immerhin können die Verantwortlichen sagen, dass sie alles getan haben. Das ist quasi das Virenscanner-Schlangenöl der Bürokratie.

Nicht zuletzt sollten wir auch an Pierre Bourdieu denken. Man erwirbt im Zuge eines Studiums ja kulturelles Kapital, und am Ende vor allem symbolisches: einen Titel oder Grad. Und solches Kapital will beschützt werden. Zumal man dann unter Akademikerinnen auf alle Ewigkeit mit Lamenti über Hochschulstrukturen anschlussfähig ist.

Side note: Wohnungssuche

„Hi, ich ziehe demnächst für mein Studium von Berlin nach Jena. Ich dachte verglichen zu Berlin wird das bestimmt total easy…da lag ich wohl falsch 😱. Wäre es sinnvoller bis zb Januar zu warten und dann was zu suchen oder macht das nicht so einen großen Unterschied? Danke für Eure Tipps und Kommentare 🧐

„Ja, im Januar könnt’s ein bisschen besser aussehen als jetzt zum Semesterbeginn. Dennoch sind Wohnung hier momentan absolute Mangelware und man muss echt Glück haben oder jemanden kennen.“

Eine Konversation in /r/jena

Ich fühle mich ein bisschen in die Zeiten vor genau 10 Jahren zurückversetzt, als ich binnen 2 Wochen eine Bleibe in München finden musste – für ein Volontariat mit etwa 1000 Euro Bruttolohn. Es lief dann aber schnell auf eine sehr nette 2er-WG in Pasing hinaus – nach einer einzigen Besichtigung.

So viel Glück ist mir diesmal nicht beschieden. Seit Anfang August klappern wir eBay Kleinanzeigen, wg-gesucht.de, Immowelt, Immoscout und Co. ab. Allerdings eher ohne Erfolg, denn unabhängig davon, wie schnell man anfragt, kriegt man meistens keine Antwort; mit Glück ein „Ist erstmal reserviert“ (was man dann gedanklich mit „… für jemand anderen“ ergänzen darf). Besichtigungstermine (remote? Fehlanzeige) sind keine Vereinbarungssache, sondern diktierte Vorschläge, was die Suche aus der Ferne natürlich sehr erschwert.

Das ist alles nicht katastrophal. Wie schon im ersten Artikel zum Thema erwähnt, wäre auch Plan B Erlangen inzwischen vollkommen okay für mich (und hat definitiv seine eigenen Vorteile, nicht nur Zeit-, Mühe- und Geldersparnis). Aber wenn man verzweifelt in diesem Spiel mitspielen muss, dürfte das sehr frustrierend sein.

Mieterplus und kompetitive Spiele

Randnotiz in der Randnotiz: Immoscout hat ein Angebot mit dem Namen „MieterPlus“, wo man Geld dafür bezahlen soll, „exklusive Anzeigen“ zu sehen, eine „Bewerbermappe“ zu erstellen und im (Immoscout-) Postfach von Vermietenden ganz oben zu landen. Dazu kriegt man eine „Mieterengel“-Clubmitgliedschaft und irgendwas mit einem Schlüsseldient „gratis“. Kostenpunkt: ca. 60 Euro für zwei, ca. 120 Euro für sechs oder ca. 156 Euro für zwölf Monate. Als ebenfalls Vermietendes kann ich das Prinzip, durch das Erfolgsmedium Geld den Zugang zu Angeboten zu steuern, grundsätzlich nachvollziehen, aber alleine der Claim „Mit der MieterPlus-Mitgliedschaft der Konkurrenz immer einen Schritt voraus!“ stößt mich ab.

Vielleicht muss man etwas kompetitiver eingestellt sein als ich, aber mir persönlich macht harter Wettbewerb einfach keinen Spaß. Ich glaube gar nicht, dass das daran liegt, dass ich schlecht im Mietwohnungs-Game bin (ordentlicher track record in München und Köln). Aber ich stelle mir unter „Spaß“ etwas anderes vor, als es „der Konkurrenz gezeigt“ zu haben (zumal durch den Einsatz schnöden Mammons). Ich spiele ja inzwischen auch lieber Arkham Horror als Magic. Nicht, dass es mir bei AH nicht auch ums Gewinnen und ums „gute Leistung bringen“ geht; ein gutes (d.h. vor allem auch mächtiges) Deck macht mehr Spaß als ein random pile of cards. Aber mir gefallen Situationen mit (von mir aus Markt-) Kooperation deutlich besser als mit reinem Konkurrenzdenken.

Bin ich das einfach nicht mehr gewohnt?

Ich lebe allgemein ein recht komfortables Leben – ich habe genug „fuck you“-Money, also Geld, das mich zumindest temporär vom Zwang befreien kann, nach jemandes Pfeife zu tanzen, wenn mir das zu weit geht. Daher bin ich es eigentlich nicht mehr gewohnt, mich von Systemen in die Verzweiflung gängeln zu lassen.

Es gibt wenige Dinge, die ich so dringend will oder brauche, dass ich bereit bin, dafür große Mengen Ungemach auf mich zu nehmen. (Und alleine der Zwang zur Abgabe macht die Steuererklärung jedes Jahr zu einem höchstens masochistischen Vergnügen.) Dieser Studienplan gehört definitiv zu den Dingen, die mich a) immer wieder den Kopf schütteln lassen („Das ist echt noch das gleiche schlechte System wie 2007!?“) und b) mir einiges an Ungemach verursacht, aber als Experiment ist es auch ausgesprochen spannend.

Im außerbürokratischen Alltag ist ja so gut wie alles irgendwie kommunikativ und komfortabel zu lösen. Wenn ich partout mit niemandem telefonieren will, geht fast alle Korrespondenz auch per Mail. Wenn etwas jetzt nicht geht, geht es halt später, wenn die Zeit reif ist. Im Extremfall: Wenn es mir nicht mehr gefällt, suche ich mir was neues.

Das heißt auch: Ich bin verwöhnt … und vielleicht dient sowohl ein Studium (man beachte die Etymologie!) im Allgemeinen als auch mein Studienplan dazu, Frustrationstoleranz zu schulen. Das ist jedenfalls jetzt schon eine interessante Erfahrung (wenn auch keine immer so angenehme, siehe nächster Abschnitt).

Was ist die Folge?

Letztlich ist das hier also schon der erste empirische Studieninhalt, denn mein anhaltendes Interesse an der Soziologie ist ja vor allem darin begründet, dass mich die Frage nicht loslässt, wieso Kollektive Dinge so schlecht lösen – und welche Konsequenzen das im Hinblick auf „das gute Leben“ hat.

Eine kleine Entfremdung

Ich habe mich oben an einer Einordnung versucht, *warum* die Dinge so sind, wie sie sind – also nach der Feststellung, was der Fall ist, herauszukriegen, was dahinter steckt (um nochmal Luhmann zu zitieren). Da darf man natürlich nicht stehen bleiben, zumal, wenn man im Geiste der kritischen Theorie studieren will. Denn klar ist auch, dass die Dinge, die der Fall sind, a) Auswirkungen haben und b) kontingent sind; also zwar mit Grund so sind, wie sie sind, aber auch anders sein könnten.

Was also sind die Auswirkungen der merkwürdigen Hürden auf dem Weg zum Studium? Zunächst mal das Gefühl, einem partiell blinden und dummen, abstrakten System ausgeliefert zu sein. Weder auf dem Wohnungsmarkt noch in der Interaktion mit Formularen und Checklisten der Uni gibt es eine echte Kommunikation. (Im Fall der Uni kann man zumindest den Helpdesk-Mitarbeitenden in den Ohren liegen.) Oder resonanztheoretisch ausgedrückt: Diese Formulare haben mir nichts zu sagen, und sie hören mich nicht an; ich bin nicht wirksam (und werde schon gar nicht affiziert).

Die Folgen kann man unter dem schönen Begriff „Entfremdung“ ganz gut versammeln: Man fühlt sich fremd in diesem ganzen Prozess, der offenbar nicht für Menschen gemacht ist, sondern für Aktenzeichen.

Kritische Potenziale

Und wie ginge das nun besser, also: Was wäre ein dem „guten Leben“ adäquateres funktionales Äquivalent? In der Wohnungsfrage müsste man den Markt entspannen, also z. B. mehr Wohnraum schaffen – einerseits trivial und in einer Tallage wie in Jena schwer zu realisieren, aber andererseits auch nicht unmöglich. Im Zweifelsfall müsste man die Kapazitäten von Wohnheimen aufstocken, also Immobilien aus dem Privatbesitz in den öffentlichen Besitz überführen (da klingeln die Enteignungs-Warnglocken …). Oder man reduziert die Zahl der Nachfragenden – wahlweise durch weniger Studienplätze (woran der Uni in einem Wettbewerbsumfeld natürlich nicht gelegen sein kann), weniger Präsenz (nur 4 Blockseminare vor Ort pro Semester? Dann nehme ich ein Hotel) oder deutlich engere Anbindung umliegender Orte (U-Bahn nach Erfurt?).

Wie auch immer: Erst, wenn es wieder einen „Dialog auf Augenhöhe“ zwischen Mietinteressierten und Vermietenden gibt, also weniger Stress, kann das zu einem angenehmeren Erlebnis werden.

Für die Bürokratie bietet sich an: selbige abbauen. Es ist ja wirklich unverständlich, wieso man neben einem Studienabschluss, für den das Abi Voraussetzung war, noch das Abiturzeugnis in beglaubigter Kopie vorlegen soll. Den Studienabschluss könnte man auch einfach per Datenabgleich mit der Bachelor-Uni nachweisen – vollautomatisch. Der ganze Prozess könnte online laufen, und zum Studienstart unterschreibt man etwas in einem Büro, das sich dafür dann z. B. hochtrabend „Kanzlei“ nennen darf. Da kann man auch seinen Perso vorlegen. Mehr Arbeit als jetzt kann das fürs Uni-Personal auch nicht bedeuten – denn die leiden unter den Verhältnissen ja genauso.

Ich weiß, diese Lösungsansätze hinken der Kritik hinterher, aber das hier war ja auch ein Rant.


Alle Artikel zum Thema Sabbatical gibt’s hier.

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Der Beitrag Bürokratien, veraltete Systeme und Entfremdung (Rant) erschien zuerst auf Dennis Schmolk.

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