Biographie: eine Kette von Zufällen, die sich zu etwas organisieren, das dann allmählich weniger beweglich wird.
(In: „Biographie, Attitüden, Zettelkasten“)
Unnahbar, abstrakt, technokratisch: Niklas Luhmann (1927–1998) hat keinen besonders sympathischen Ruf weg. Das finde ich schade — denn in Luhmann begegnen wir einem feinsinnigen, oft humorvollen, zuweilen ironisch-bissigen Menschen. Daher möchte ich im Folgenden ein paar kurze Begebenheiten aus dem Leben Luhmanns einwerfen, um zu beleuchten, wie er zu seiner Theorie gekommen sein mag. Ich bin kein Biograph (und Luhmann hielt nicht viel von Biographie), daher ist es eher ein theoretischer Blick auf Textstellen. Und daher ist das Folgende auch nicht chronologisch angeordnet.
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Der Krieg
Luhmann hat bekanntermaßen das Ende des Zweiten Weltkriegs noch als Flakhelfer miterlebt. Eine krasse Anekdote aus den letzten Kriegstagen:
[Jochen Hörisch habe] Luhmann »die blödeste aller denkbaren Fragen gestellt, warum er so kalt, funktionalistisch und sachlich denke und schriebe«. – Darauf antwortete Luhmann, er sei zusammen mit einem befreundeten Klassenkameraden noch in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs eingezogen und in sinnlose Kämpfe verwickelt worden – und auf einmal sei der enge Freund nicht mehr an seiner Seite gewesen, sondern in tausend Teile zersplittert.
Und da habe er (Luhmann wechselte in einen halbironischen Ton) sich vor der Alternative gesehen, entweder verrückt zu werden oder so zu denken und zu leben, dass er es jederzeit für möglich halte, dass ein Mensch, ein Subjekt von jetzt auf gleich zersplittert werde. Er habe sich für das Zweite entschieden und sei Systemtheoretiker geworden.
(Wolfram Burckhardt: Luhmann Lektüren, versteckt in einer Fußnote)
Psychologisierend könnte man dies also deuten: Ironie und Funktionalismus haben dem Subjekt Luhmann erlaubt, weiterzumachen. Man kann auch umformulieren: Eine distanzierte Strukturlogik ist (sagen wir: nach dem Tod Gottes) die einzige Möglichkeit, mit den subjektiv erfahrenen Zerrkräften der Realität zurechtzukommen. Es ist weder aus einer Vernunft- noch aus einer Diskurslogik erklärbar, dass es zu diesen „sinnlosen Kämpfen“ kam, schon weitaus eher aus einer Systemlogik. Und der ebenfalls auf keinen höheren oder tieferen Sinn verweisende Tod des Freundes kann nicht mehr als Wille Gottes oder Schicksal gedeutet werden, denn er ist ja klar gesellschaftlich verursacht.
Und vielleicht am zentralsten: Dass es den Freund trifft (und nicht Luhmann), ist „Zufall“. Der, den es trifft, kann dann natürlich nicht mehr beobachten und kommunizieren. Hierin kann man also zwei Ideen der Systemtheorie sehen: Kontingenz und Evolution, die auf unklaren und sicher nicht geplanten Pfaden dafür sorgen, dass ist, was ist.
Zwischengedanke: Kalt und unmenschlich im Stil?
Ich denke übrigens gar nicht, dass Luhmann sonderlich kalt schreibt. Im Gegenteil bringt er vielen von ihm behandelten Themen Empathie und Sympathie entgegen (vielleicht abgesehen von der Frankfurter Schule, gegen die er sich ja absetzen musste, und selbst hier ist der Ton oft versöhnlicher als von der Gegenseite). Seine Distanz zu den Dingen liegt eher darin begründet, dass er es ablehnt, unterschiedlos davon auszugehen, dass man wissen könne, was das Wichtige oder Richtige ist — er ist (vielleicht ähnlich wie Derrida) ein theoretischer Verfechter der Uneindeutigkeit bzw. der Perspektivabhängigkeit. Und er sagte ja irgendwo selbst, er wolle in jedem Buch auch einen Unsinn unterbringen …
Jugend und Menschenbild
Ein anderer Vorwurf neben der Unmöglichkeit, Luhmann für eine normative Idee einzunehmen, zielt auf die Rolle „des Menschen“ in seiner Theorie. Der komme nämlich nicht vor.
Als man es ihm als Unmenschlichkeit ankreiden wollte, die Individuen in seiner Theorie dem sozialen System außen vor zu halten, war er schockiert. „Die Menschen als dessen Teil zu fordern, ob sie wollen oder nicht“, diese Vorstellung entsetzte ihn – wohl eingedenk seiner eigenen Jugend. Von seiner Kindheit in Lüneburg erzählte Niklas Luhmann einmal: Wenn er in jenen Jahren der Hitlerkultur sich einmal am Ballspielen beteiligen durfte, so wurde er von den Jungen immer vor eine Schaufensterscheibe positioniert“. Für Luhmann stand es fest, dass es der Würde und dem Wohl des Menschen besser täte, ihn nicht per se als Teil der Gesellschaft zu fassen und damit vorweg und unbefragt sozial zu vereinnahmen.
(Theodor Bardmann: Leben wie Theorie) https://www.systemagazin.de/beitraege/luhmann/bardmann_lebenwietheorie.php
Die Rolle des Individuums außerhalb der Gesellschaft, nämlich als dessen Umwelt, legt das „Menschenbild“ (Luhmann: „Menschenbilder, sowas Grausliches!“) nicht fest. Der Mensch kann alles Mögliche sein und bleiben; Körper, Subjekt, Bewusstsein; er kann verschiedene Rollen einnehmen, ohne in ihnen aufgehen zu müssen. Körper, Subjekt, Bewusstsein kann es ohne Gesellschaft nicht geben, aber nichts davon ist durch Gesellschaft ganz bestimmt. Diese Theorie kann ein Gehäuse beschreiben, ohne es als „stahlhart“ (Weber) annehmen zu müssen. Das ist eine elegante und humane „Lösung“ auch des Struktur-Handlungs-Problems, freilich um den Preis, dass man nur noch Kommunikation beobachtet — und über das Wesen, die Essenz, den Kern des Individuums schweigt.
Warum „Differenz“?
Die Frage nach den Unterschieden und dem Unterschied ist eine weitreichende. Zum Beispiel fragt sich: Was ist der „Normalfall“? Und anschließend: Was ist abweichend und damit interessant, erklärungsbedürftig? Luhmann kommt ja u.a. zu dem Schluss, dass Kommunikation per se unwahrscheinlich ist und das Gelingen von Kommunikation erklärt werden muss; nicht umgekehrt. Dass Kommunikation die Welt nicht mitteilt, sondern einteilt, also unterscheidet; und dass es die Unterschiede sind, die den Normalfall darstellen, und man daher die Strukturen — das durch Wiederholung „gemeinsame“ — erklären muss. Auch diese(s) Erkenntnis(interesse) kann er anhand seiner Biographie verdeutlichen (ohne dass man behaupten sollte, es sei von dieser „verursacht“!):
Es passiert etwas, ein Unterschied wird gemacht (er wird beobachtet). Aber es gibt etwas „Gemeinsames“, gerade auch in Wahrnehmung und Bewertung des Unterschiedenen:
Vor 1945 hatte man doch gehofft, daß nach dem Wegfall des Zwangsapparates alles von selbst in Ordnung sein würde. Das erste jedoch, was ich in der amerikanischen Gefangenschaft erlebte, war, daß man mir meine Uhr vom Arm nahm und daß ich geprügelt wurde. Es war also überhaupt nicht so, wie ich vorher gedacht hatte. Und man sah dann bald auch, daß der Vergleich von politischen Regimen nicht auf der Achse „gut/ böse“ verlaufen konnte, sondern daß man die Figuren in ihrer begrenzten Wirklichkeit beurteilen muß. (AuW)
Was bleibt, ist nicht die Gemeinsamkeit (gut, böse), sondern die Empirie — und wie die Individuen sind auch diese „Figuren“ eben unterschieden. Man beachte, dass dieser „radikale Individualismus“ sich ganz gut mit einer Freiheits- und damit Verantwortungsvorstellung vereinbaren lässt, ohne hinter den Dingen liegende Gründe für die „Freiheit“ annehmen zu müssen. Generell ist der Freiheitsbegriff eher einer der „Unzuverlässigkeit“ bei Luhmann: Deshalb mühen sich alle Systeme so sehr, ihre Kommunikation „erfolgreicher“ und die beteiligten Personen „berechenbarer“ zu machen. Denn in den hinter den Personen stehenden „Menschen“ ist eine prinzipiell differente, abweichende Orientierung erwartbar. Und das Funktionieren der Systeme führt dann mal ins Gute, mal ins Schlechte (oder Böse); es bleibt ambivalent.
Peter Fuchs zufolge (im Luhmann-Handbuch, s.u.) berichtete Luhmann derartige Begebenheiten übrigens ohne starke emotionale Beteiligung. Es ging hier eben nicht um das Berührt- oder Erschüttertsein eines Subjekts, sondern um die Lernchancen. „[E]r gab dem, was er erzählte, eine lakonische Wendung: Er habe bei diesen Ereignissen Kontingenz und soziale Unordnung kennengelernt. Die Rede bezog sich nicht auf durchschlagende, existentielle Erfahrungen“.
Jura
Die wohlgeordnete (?) Beobachtungsperspektive der Systemtheorie könnte demselben Drang nach Ordnung entspringen, der Luhmann dazu brachte, Jura zu studieren (vgl. „Es gibt keine Biographie“, S. 17 in der „Fernseher“-Ausgabe). Aus dem Interview geht aber auch hervor, dass ein gewisser Wunsch mitgeschwungen haben mag, durch die Juristerei das „Chaos“ der Nachkriegszeit — vor allem die Misshandlung in der amerikanischen Kriegsgefangenschaft — zu bewältigen. Das gelang dann offenbar erst in der Gesellschaftstheorie.
Warum schreibt er so viel?
Luhmann war wohl nicht allein, aber (relativ) einsam. Die Frage, ob er für seine Arbeit — das viele Schreiben — Opfer bringen müsse, verneint er. Direkt auf Familie angesprochen sagte er:
Meine Frau ist gestorben, mein bester Freund ist gestorben; meine Kinder sind ein wesentlicher Teil meines Lebens. Mit ihnen und der ganzen Jugendkultur um sie herum lebe ich hier zusammen. Aber die Menschen meines Alters, die ich gern hatte, die habe ich verloren, die sind schwer zu ersetzen. (AuW)
Luhmanns Frau Ursula von Walter starb 1977; die Kinder Clemens, Jörg und Veronika — letztere ist Alleinerbin seines wissenschaftlichen Nachlasses — waren laut NDR-Interview mit Detlef Horster zwischen 12 und 16. Offenbar war er relativ gerne alleinerziehender Vater. Mit dem Freund ist wohl Friedrich Rudolf Hohl (1916–1979) gemeint, Jurist und (zu Lebzeiten unveröffentlichter) Dichter.
Zur Frage, ob der Tod von Frau und Freund Luhmanns Theorie beeinflusst hat, müssten intimere Kennerinnen seiner Werkgeschichte Stellung nehmen.
Eigene biographische Schilderung
Wer den erwähnten Beitrag „Es gibt keine Biographie“ nachhören möchte, findet hier einen Radiomitschnitt.
Er bietet einen interessanter Einblick u.a. in die Endphase des Krieges, zum Beispiel angesichts der Frage, ob man nun — als klar war, der Krieg würde verlorengehen — mit einem Regimewechsel rechnete, oder damit, dass sich die Nazis trotz verlorenem Krieg würden an der Macht halten können.
Weitere Quellen zur Biographie
- Dirk Baecker zur „Biographie“ und Peter Fuchs zur „Sphinx ohne Geheimnis“ im Luhmann-Handbuch (Springer)
- „Guter Geist ist trocken und Systeme sind unzuverlaessig“. Nachruf von Dirk Baecker (Online)
- „Man muß schmunzeln können“. Nachruf von Peter Fuchs (taz)
- Es gibt einen 13-seitigen Word-Lebenslauf Luhmanns mit vielen Anmerkungen und Anekdoten: „Biographie als organisierte Zufälligkeit“. Zusammengestellt von
Theodor Bardmann. Eine Fassung ist via Wayback Machine verfügbar. - Update: Zum 25. Todestag erschienen (in der „Welt“ …) 5 Beiträge mit latenten biographischen Bezügen
2 Gedanken zu „Luhmann: Die Theorie und der Mensch“