Woche vier: Nürnberg-Überhang, „Die Discounter“ und eine Menge Soziologie

Die »neuen sozialen Bewegungen« müssen ihr Beobachten und Beschreiben in der Gesellschaft praktizieren, sie tun es aber so, als ob es von außen wäre. Auch die Alternativpresse muß gedruckt werden und muß ihre Kosten einbringen oder Zuschüsse einwerben.
Niklas Luhmann, „Alternative ohne Alternative“

Diese Woche gibt es nur einen Abstecher nach Jena, um die Veranstaltungen mitzunehmen. Dementsprechend fällt dieser Blogpost hoffentlich mal ausnahmsweise kürzer aus … Die ersten tendierten mit Ausmaßen von 7.500-10.000 Zeichen ja schon eher in Richtung der „großen“ Artikel (etwa „Weird Harmonies“ mit 15.000 Zeichen pro Analyse). Mal sehen, ob es hier nun auf geringerem Raum klappt.

Warum nur so kurz in Thüringen? Ganz einfach: Weil ich nächstes Wochenende in Nürnberg bin, um der großen Sause meines Arbeitgebers zum 20jährigen Firmenjubiläum beizuwohnen. Das mache ich natürlich nur, um dort allen mein Sabbatical unter die Nase zu reiben, eine Gratis-Mahlzeit abzustauben (ich bin Student!) und ein bisschen Büro-Gossip mitzunehmen. Außerdem kann ich so vorsichtig überprüfen, ob ich das Arbeiten und mein dortiges Umfeld nicht doch ein bisschen vermisse.

Die Bahnfahrten verliefen übrigens reibungslos, danke der Nachfrage.

[Alle Artikel zum Thema Sabbatical finden sich hier.]

Linke Literaturmesse

Nun ist geklärt, warum ich kommendes Wochenende in Franken bin; am letzten Wochenende war ich u.a. dort, um mal wie angekündigt auf die Linke Literaturmesse zu gucken. Die war ausgesprochen gut besucht, die Gänge der Kulturwerkstatt waren gesteckt voll, und man konnte von Marx bis zu Vertretern des Neonietzscheanismus eine unendliche Auswahl an linker Literatur finden (und käuflich erwerben).

Einzig die konkrete Ausgestaltung der Überwindung kapitalistischer Verwertungslogiken blieb ein bisschen auf der Strecke; ein Verleger erklärte mir zwar schlüssig (und ein Buch anpreisend), dass alle Reformen und Reförmchen letztlich nur Opportunismus seien (womit er ja recht hat), nur blieb er konkrete Wege zur Revolution schuldig. Und ganz generell erfreute man sich vor allem am trubeligen Über-Kämpfe-Reden und natürlich auch am geldgedeckten Warenverkehr.

Mein Eindruck: Dieses Kommunikations- und vermutlich Protestsystem hat sich so heimelig wie möglich dynamisch stabilisiert.

Prokrastinationen: Die Discounter

Vielen Dank an Hanna für die Empfehlung der Serie „Die Discounter“: Sehr unterhaltsames Fernsehen. Wer es nicht kennt: Das ist quasi das „Stromberg“ der 2020er. Die Charaktere sind ein bisschen anders verteilt, alles ist diverser und alles ist auf den ersten Blick „krasser“. Ob das auf den zweiten Blick stimmt, müsste man sich mal im Detail angucken – die „Grenzen des guten Geschmacks“, mit deren Übertretung solche Formate spielen, verschieben sich natürlich. Themen, die bei Stromberg so nicht oder weniger direkt vorkommen: Jungfräulichkeit, Analverkehr, Promiskuität, Alkoholismus, Diebstahl, Gewalt, Drogenkonsum.

Interessant fand ich auch, dass im Gegensatz zu Stromberg nur sehr wenige Momente vorkommen, in denen der Documentary-Aspekt der Mockumentary beobachtbar wird: Während bei Stromberg ja doch recht häufig die Anwesenheit des Kamerateams thematisiert wird, passiert das hier nur in ganz wenigen Ausnahmefällen. (Ein Running Gag zum Thema Händewaschen zum Ende der Staffel fällt mir ein. Und natürlich gibt es die von Stromberg gewohnten Interviewschnipsel mit Mitarbeitenden.) Es wird, außer ich habe etwas übersehen, innerhalb der Serie nicht mal erklärt, dass und weshalb ein Kamerateam dabei ist. Das wird einfach als Vorgabe des Formats vorausgesetzt.

Nach ein paar Jahren in deutschen Büros fand ich Stromberg gar nicht mehr so „überzeichnet“ wie beim Angucken der ersten Folgen; und ich vermute, dass das nach einem Ausflug in die Discounterwelt nicht anders wäre. Ich will es nicht ausprobieren. Mir schien die Situation und Lebenswelt der Charaktere, und vor allem ihr Lebensglück, auch ungleich prekärer als bei Stromberg. Eigentlich währte keine glückliche Phase länger als eine Szene. Die Fallhöhe liegt aber insgesamt auch niedriger.

Während bei Stromberg Themen wie Betriebsrat, Normalkarriere, eine im Notfall anzurufende höhere Instanz in Form der Geschäftsführung zumindest noch vorkamen, hat man sich in „Die Discounter“ im vergeblichen Hedonismus von Tag zu Tag eingelebt. Die darüber hinaus weisenden Lebensentwürfe kann man nicht ganz ernst nehmen. Aber irgendwie hat man es ja doch sehr schön zusammen! Von daher ist die Frage, ob das – aller Diversitäts-Themen zum Trotz – als subversiv gelten kann. Aber wie eingangs gesagt: extrem unterhaltsam, angucken!

Form und Inhalt

Veranstaltungen

Weiter ging es mit

  • Kant,
  • einem Tutorium zur praktischen Philosophie (deren genauer Horizont mir noch nicht ganz klar ist),
  • den religiösen, sozialen und individuellen Ursprüngen der Diakonien und
  • Bourdieus (inkorportiertem) Habitus zur Körpersoziologie.

Beobachtung: Mir fällt in Remote-Seminaren immer wieder auf, wie viel Zeit für die technische (in diesem Fall Zoom-) Orga draufgeht. Bei der Verteilung für Gruppenarbeiten in Breakout-Rooms, beim Ausfüllen von Etherpads etc. entstehen immer Reibungsverluste, die man im Live-Seminar nicht hätte („drehen Sie sich einfach mal zu Ihren Nachbarinnen und Nachbarn um!“). Mir scheint das auch mehr zu sein als im Arbeitsalltag, was aber vielleicht auch an anderen Strukturen und Zielsetzungen von Seminaren gegenüber Meetings liegt.

Lektüren

Neben den Seminarlektüren (Kant, Kant, Kant; Foucault; ein bisschen Derrida usw.) habe ich mir die ersten Seiten von Sabine Pfeiffers (Erlangen) „Digitalisierung als Distributivkraft“ zu Gemüte geführt. Warum nur die ersten Seiten?

Selbst in der Wissenschaft ist das Lesen – also ein echtes Lesen von vorne bis hinten – aus der Mode gekommen. Denn auch die Wissenschaft wird längst von Kennzahlen gesteuert und ist aufgerufen, immer mehr Wachstum zu produzieren […] Wie in der Wirtschaft aber ist auch hier der Markt begrenzt. Die steigende Überproduktion an wissenschaftlichen Texten steht einer sinkenden Möglichkeit zum Lesen gegenüber (vielleicht eine Idee für einen volkswirtschaftlichen Artikel: Die Berechnung des tendenziellen Falls der Leserate … Ich schweife ab). Deswegen lesen wir alle schneller, instrumenteller, quer und mit Mut zur Lücke. Was oft auch völlig ausreichend ist. Die Überproduktion verschärft sich, weil es mit der Marktausdehnung in der Wissenschaft besonders schwierig ist.
(Sabine Pfeiffer, „Digitalisierung als Distributivkraft – Über das Neue am digitalen Kapitalismus“, S. 20. Transcript. Open-Access-PDF)

Da braucht es dann Kuratierende, die ohne genauere Kenntnis der Inhalte anhand von Themen selegieren. Und ein Publikum, das häufig genug das Verstehen der Mitteilung von Themen als Verstehen von Inhalten deuten. Aber ich schweife ab.

Anlass der Lektüre war ein Kolloquium, dem ich per Zoom von Nürnberg aus gelauscht haben würde, das aber krankheitsbedingt dann leider doch ausfiel.

Außerdem musste ich natürlich den Beitrag (u.a.) meines Freundes Vincent Steinbach (Erlangen) im Reader „Was heißt digitale Souveränität?“ (ebenfalls Transcript, Open-access-PDF) lesen. Titel: „Der relationale Charakter von digitaler Souveränität“. Es geht vor allem um die Frage, wie sich (Arbeitnehmenden-) Souveränität in Organisationen (relational) als Differenz von Autonomie und Heteronomie beobachten lässt (statt z.B. als essenzialistische Eigenschaft). Und natürlich darum, was die Digitalisierung von Methoden, Medien und Zielsetzungen hier an Verschiebungen mit sich bringt.

Wenn ich so viel aus Erlangen lese, hätte ich freilich auch direkt dort studieren können. Damit muss also nun Schluss sein.

Studentenleben

Immerhin eine handvoll Leute sind wir schon für die „Leaving Carthago“-Vorstellung am 18.11. Kulturticket works!

Resonanzen aufs Blog (und sonst)

Interessant ist, dass sich, u.a. durch die Blogartikel, einige Leute wieder bei mir gemeldet haben, von denen ich länger oder sogar lange nichts gehört hatte. (Ich bin, zugegebenermaßen, auch nur sporadisch ein guter Kontaktehalter.) Offenbar taugt ein etwas abseitiger Lebensabschnittsentwurf sehr gut zur Irritation und damit zum Kommunikationsanlass.

Update: Offenbar wird es besonders geschätzt, wenn ich den Link zu den jeweils neuen Blogposts in „Whatsapp Stories“ teile. Das ist lustig, denn die Stories sind ein Feature von Whatsapp, das ich selbst nicht benutze und von dem mir bis vor recht Kurzem nicht einmal bekannt war, dass es existiert. Ich frage mich jetzt, ob das Einstellen eigentlich auch in Whatsapp Web funktioniert … Entsprechendes habe ich nicht gefunden.

Was geht gerade eigentlich alles unter?

Weiterhin: Musik und Arkham Horror – zwei Sachen, die mir ein bisschen fehlen, für die aber gerade keine Aufmerksamkeit da ist. (Das kann man natürlich auch umformulieren und sagen, dass sie gerade keine hohe Priorität haben.) Woran das liegt? U.a., dass nebenher noch ein neues „Sonderheft Bibliotheken“ vorbereitet werden will.


PS: Kurzfassen hat nicht geklappt. Das lag vor allem am Die Discounter-Exkurs.
PPS: Happy Birthday, Daniel!

4 Gedanken zu „Woche vier: Nürnberg-Überhang, „Die Discounter“ und eine Menge Soziologie“

    • Das ist leider eine Amazon-Prime-Serie, von daher habe ich keine Ahnung, ob und wann sie mal im linearen Fernsehen stattfinden wird. Ich habe einfach mal (wieder) einen Prime-Probemonat „gekauft“. Darf ich nur nicht vergessen, zu kündigen, bevor es Geld kostet …

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