Woche Fünf: Konzert, Theater, erster Schnee

Es wird kalt. Und nass. Die Kunitzburg, die mir sonst einen festen Anker beim Blick aus dem Fenster bietet, versteckt sich diese Woche die meiste Zeit. Es schneit. Jena ist aber – im Gegensatz z.B. zu Köln – auch bei grauem Wetter recht annehmbar.

Die Woche startete ja mit einem kleinen Aufreger und der anschließenden soziologischen Auseinandersetzung damit, entwickelte sich aber deutlich besser weiter. Diese Woche bleibe ich zur Kontrastbildung übers Wochenende in Jena, was die Chance auf Kultur und Soziales (die soften Fächer, quasi) bietet. Der Nachteil: Es gibt keine Zugreise, auf der ich diese Zeilen tippen kann, sodass der Bericht hoffentlich endlich mal kürzer ausfällt. (Spoiler: Ne.)

Meine Zeitwahrnehmung ist übrigens noch immer etwas verschoben. Während der normalen alltäglichen Büroarbeit muss ich mich eigentlich nie nachdenkend fragen, welcher Wochentag gerade ist – das ist hier anders.

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Transit

Was mir bezüglich des Pendelns zwischen zwei Wohnsitzen und generell bezüglich der Logistik meines Körpers und meiner Sachen auffällt:

  • Ich habe inzwischen an beiden Orten einen festen „Pack-Schrein“. Dort sammeln sich während des Aufenthalts diejenigen Sachen, die (wieder oder frisch) zum anderen Ort wollen. Das verankert allerdings auch die nächste Fahrt jederzeit im Raum und erinnert daran. Vielleicht ist das ein Zeichen der latenten Entwurzelung.
  • Ein Zeichen der manifesten Heimischkeit ist, dass ich nicht mehr sonderlich oft Verbindungen nachgucke; inzwischen weiß ich schon aus Erfahrung, wo der Zug von Erfurt nach Jena abfährt (und ungefähr wann), wann meine Trams fahren etc.
  • Das große Pendeln finde ich bislang unproblematisch, die Fahrten sind schöne äußere Zeichen des Wechsels und insgesamt recht gut nutzbare Zeit. Die 30-45 Minuten, die ich immer in die Uni brauche, nerven allerdings eher; gerade, wenn ich 10-12 und dann wieder 18-20 Uhr Uni habe (jeden zweiten Donnerstag), wäre ein 20minütiger Weg deutlich angenehmer.

Etwas beunruhigend ist, dass ich am Freitag schon eine Warnung für meine Heimfahrt für den kommenden Donnerstag bekomme: Es geht aber wohl nur darum, dass wegen einer Zugkollision (bei der Propangas austrat …) Züge über Erfurt umgeleitet werden. Was ich nun nicht ganz verstehe ist, ob das hier auch für mich gilt, auch wenn ich weder Berlin noch Hannover in meinem Ticket stehen habe:

Die Bahn weist darauf hin, dass alle Fahrgäste, die ihre für den Zeitraum 18. bis 27. November 2022 geplante Reise aufgrund der Zugkollision bei Leiferde verschieben möchten, ihr bereits gebuchtes Ticket für den Fernverkehr ab sofort bis einschließlich sieben Tage nach Störungsende flexibel nutzen können.

Vielleicht finde ich das noch raus.

Uni

Was ist in der Uni passiert?

Veranstaltungen …

Alles wie gehabt. Mein aktuell liebstes Seminar ist (ein bisschen überraschend) „Religion und Geschlecht in der Moderne“, also ein historisches Seminar. Erstens ist das remote, was einen Weg erspart, und zweitens finde ich die Diskussionskultur sehr angenehm (was ggf. auch mit am Medium liegt).

Ein Lektürekreis mit 30 Menschen ist m.E. etwas zu groß, aber das stört weniger, als erwartet. Ansonsten war ich auch wieder beim Ethik-Tutorium – in zwei Wochen darf ich sogar „der Experte“ für einige Fragestellungen sein.

… und Lektüren

Der lange Aufenthalt in Zwätzen führte u.a. auch dazu, dass ich sehr schnell das Pensum für die jeweils nächste Sitzung gelesen hatte, ich Streber. Das schon erwähnte Geschlechts-und-Religion-Seminar zeitigt langsam Wirkung und verunsichert mich, zwar nicht in meiner prinzipiell religionsaversen Haltung, aber in der Pauschalität. Offenbar war die Religion gerade für weibliche Handlungsräume im 19. Jahrhundert doch ambivalenter, als ich gedacht hatte. (Man darf natürlich nicht mit einem „subversiven“ oder postmodern-emanzipatorischen Blick draufschauen, dann ist das alles so furchtbar wie ich es mir vorher schon gedacht hatte. Aber im Kontrast zur noch-viel-schlimmeren bürgerlichen oder gar proletarischen Realität waren Diakonien und Kongregationen tatsächlich immerhin ein Ausweg.)

Partiell kapitulieren musste ich vor einem Text von Judith Butler, die ja auch den Bad Writing Award gewonnen hat, und zwar mit diesem Satz (den ich mal strukturell gegliedert habe):

  • The move
    • from a structuralist account
      • in which capital is understood to structure social relations in relatively homologous ways
    • to a view of hegemony
      • in which power relations are subject to repetition, convergence, and rearticulation
  • brought the question of temporality into the thinking of structure,
  • and marked a shift
    • from a form of Althusserian theory
      • that takes structural totalities as theoretical objects
    • to one in which
      • the insights into the contingent possibility of structure
      • inaugurate a renewed
      • conception of hegemony as bound up
      • with the contingent sites and strategies of the rearticulation of power.

Um die Qual perfekt zu machen, gönnte ich mir dann auch noch nahezu den kompletten Rest von Derridas „Die Einsprachigkeit des Anderen“. Ich fürchte, wir werden keine Freunde.

Thulb

Außerdem hatte ich an diesem Wochenende das erste Mal Gelegenheit, die Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek näher in Augenschein zu nehmen. Insgesamt habe ich im Bachelorstudium die Uni-Bibliotheken nicht allzu oft aufgesucht (oder besser: für insgesamt zwei Hausarbeiten, also ca. 3 Mal in 4,5 Jahren). Hier in Jena könnte sie aber zur unersetzlichen Infrastruktur für Zentrumsaufenthalte während längerer Pausen werden, s.o.

Eine kurze Recherche förderte dann diverse interessante und einige mir unbekannte Bücher zum Suchbegriff „Lovecraft“ zu Tage, mit denen ich dann einen gut Teil eines Nachmittags verbrachte. Ein bisschen schal ist allerdings immer das Gefühl, wenn man dann entdeckt, dass man z.B. einen Tagungsband im Handapparat des Lesesaals finden würde – oder halt einfach einen Scan über die Bayerische Staatsbibliothek aufrufen kann. Das devaluiert irgendwie die Tonnen von Papier, die einen in diesen Hallen umgeben.

Übrigens: Wer schon mal in der Thulb war und sich fragte, was die blauen Kisten bedeuten: Offenbar regnete es 2017 mal wegen unfertig abgedichteter Dachfenster hinein. Die Kisten dienten dazu, das Regenwasser davon abzuhalten, die Buchbestände zu gefährden. Meine Arbeitshypothese zur Klärung der Kistenfrage ist, dass diese seitdem ein Symbol darstellen, ich weiß nur noch nicht genau, wofür.

Kultur

Theater

Dem Kulturticket sei Dank gab es nun endlich Theater, zusammen mit 3 Kommilitonen und einer Kommilitonin. Das Stück, Leaving Carthago, war (nahezu?) ausverkauft; kein Wunder, es läuft insgesamt nur 3 Mal. Thema: Mutterschaft, deren Ambivalenzen und Probleme (und kur angerissen auch deren Freuden). Conclusio: „Mutter sein hat nichts damit zu tun, ein Kind auf die Welt gebracht zu haben, sondern sich um jemanden zu kümmern“ (frei paraphrasiert). Ausblick: Solange wir nicht solidarisch sind, wird das mit dem Kinderhaben/-großziehen immer eine Überforderung bleiben. (Diese Aussage tendierte deutlich eher zu „dann müssen wir solidarisch werden“ als zu „dann sollten wir auf Kinder verzichten“, möchte ich aus kinderfreier Perspektive hinzufügen.)

Das Stück pendelte zwischen verschiedenen Ebenen; ein rein weiblicher Chor repräsentierte sowohl gesellschaftliche und persönliche Anforderungen an die Protagonistin, eine Theaterregisseurin, die ihre Babypause (und postnatale Depression?) für den Lebenslauf mit einem erfundenen Broadway-Stück des gleichen Titels überbrückte, als auch verschiedene Frauenrollen in Bezug zu Mutterschaft.

Insgesamt kann ich nicht sagen, dass es mich begeistert hat, aber gut unterhalten. „Nichts wirklich Neues“, wie ein Kommilitone bemerkte. Wir saßen in der ersten Reihe und die meisten von uns wurden ein bisschen nass, als gegen Ende ein (zum Glück) symbolischer Muttermilchpool durch die Gegend verspritzt wurde. (Vermutlich muss man bei modernem Theater nass werden und/oder irgendwie anderweitig einbezogen werden.) Unser Kneipengespräch danach drehte sich – wen wundert’s – um Familie und Kinder.

Konzert

Am Sonntag gibt es dann noch Bach (BWV 1066) und Maurice Duruflé im chorsinfonischen Konzert. Duruflé sagte mir gar nichts: Offenbar entstand das Requiem Opus 9, das hier aufgeführt wird, auf eine Ausschreibung des Vichy-Regimes hin. Mangels biographischer Details konnte ich aber nicht herausfinden, ob und wie man diesen Komponisten politisch einordnen muss (offenbar eher: nicht). Veröffentlich und uraufgeführt wurde das Requiem jedenfalls erst 1947. Eine komplette Analyse der einzelnen Sätze (nennt man das bei Sakralstücken so?) findet sich in dieser Undergraduate Thesis.

Zwätzen

Man muss sich ja auch mal vor der Haustür umgucken: am besten bei Schnee. Soooooo viel gibt es in Zwätzen draußen nicht zu tun, aber ich hatte Glück und spazierte an der Marienkirche vorbei, als diese gerade von einigen (naturellement weiblichen) Gemeindemitgliedern gereinigt wurde. Spannend ist die Mischung verschiedener Baustile (wenn auch marginal weniger eindrucksvoll als in Naumburg). Mehrere verschiedene gotische Abschnitte, ein paar Reste Romanik und etwas Barock. Ordentliche Fotos werden beim nächsten Tag des offenen Denkmals nachgereicht, auch von der „vermutlich ältesten Kirchenholztür Mitteldeutschlands“ (Wikipedia).

Mensen

Was auch zur Kultur gehört: Essen. Wenn man schon übers Wochenende hier ist, kann man ja auch die Infrastruktur nutzen. Daher war ich ein paar Mal in Mensen bzw. Cafeterien. Z.B. für 3,50 bekommt man eine Currywurst mit Fritten. Das ist lang nicht so lecker wie bei FritzMitte, aber okay und günstiger. Außerdem muss man darauf nicht warten (wenn man zur richtigen Zeit kommt).

Sonstiges

Anfang der Woche klappte sogar mal wieder Arkham Horror. Wir spielten „Karneval des Schreckens“ mit einer grandiosen Playlist („Circus Horror„). Obwohl ein Charakter mittendrin wegen dreier Tentakeltoken starb, konnten wir gewinnen (was ich etwas überraschend fand und was nur daran lag, dass Patrice mittels des Zaubers „Tor öffnen“ die merkwürdigen Bewegungsregeln des Szenarios ein bisschen biegen konnte). So, genug generdet. (Wobei wir „GT’ler“, also die Gesellschaftstheorie-Studierenden, uns schon auch sehr nerdig vorkommen, wenn wir vorm Kiosk diskutieren, ob Agnoli nun eine saubere Verstand- und Vernunft-Trennung verwendet, sich dabei an Kant orientiert oder wie er diese Begriffe verstand-en wissen will.)

Warum ist das hier immer so lang?

Ich weiß es auch nicht. Tut mir auch leid. Ich wende tatsächlich gar nicht viel Zeit dafür auf; eigentlich beschäftige ich mich mit anderen Dingen und fasse sie dann hier nochmal kurz zusammen (oder kopiere etwas aus dem Zettelkasten, also Obsidian, raus, wie das obige Butler-Zitat). Wie das meiste im Blog dient das eher der eigenen Reflexion.

5 Gedanken zu „Woche Fünf: Konzert, Theater, erster Schnee“

  1. Du erlebst ja wirklich sehr viel. Es freut mich, dass du dein Sabbatical anscheinend genießt und sehr viele Anregungen für dich daraus ziehst.
    Deinen Blog finde ich sehr schön informativ!

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    • Ach, das Theater in Nürnberg ist ja auch solide. (Nur halt nicht kostenfrei für arme Studierende wie mich!)

      Der Maskenanteil liegt fast überall bei ca. 10-15%, würde ich sagen. Nachdem beim aufregenden Marsch durch das Gebäude (man läuft vom Foyer an Maske, Requisite, Werkstatt vorbei und fühlt sich eher wie in einem Parkhaus!) ein paar Leute kräftig gehustet haben, habe ich meine dann aber doch angelegt. In der ersten Reihe trug ansonsten noch eine Frau eine. In der Reihe hinter mir waren es glaube ich 3 Personen. Pro Reihe schätze ich etwas über 20 Leute.

      Ganz generell habe ich nicht das Gefühl, dass es noch viel Sensibilität für eventuelle Ansteckungen gibt. (Ob es da einen Zusammenhang mit krankheitsbedingtem Personalmangel, geschlossenen Mensen und geringerem ÖPNV-Takt gibt …?)

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  2. Zu „verunsichert mich, zwar nicht in meiner prinzipiell religionsaversen Haltung, aber in der Pauschalität“: Pauschalität hatte ich dir bei diesem Thema ja schon immer vorgeworfen. Schön, dass ein solides Studium jetzt Wirkung zeigt ^^

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    • Pfffff, da gesteht man ein Mal möglicherweise mangelnde Reflexion ein …

      Aber das heißt ja nur, dass ich jetzt nicht mehr pauschal urteilen muss, sondern differenziert religionsavers argumentieren kann 😛 Ich freu mich drauf.

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