Die zweite Woche: Zoom, Subversion und Seminare

„Autoren werden zu Klassikern, wenn feststeht, daß das, was sie geschrieben haben, unmöglich stimmen kann: denn dann muß man einen anderen Grund finden, sich mit ihnen zu beschäftigen, und der kann nur sein: daß andere sich mit ihnen beschäftigen.“
Niklas Luhmann, WidF…, S. 6

Die zweite Woche neigt sich dem Ende zu, incl. einer Zugfahrt, einem Blockseminar und Tutorien.

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Veranstaltungen

Das Programm umfasste dieselben Vorlesungen und Seminare wie in der ersten Woche, allerdings fanden ein paar mehr Sachen coronabedingt remote statt, es gab keinen Lektürekreis (der ist zweiwöchentlich), aber dafür zwei Tutorien und ein Blockseminar.

Eine leicht befremdliche Erfahrung stellte ein Seminar per Zoom dar, dem ich wegen plötzlich sehr schlechter Internetverbindung nur zu 20% lauschen konnte. (Zum Glück hatte ich anfangs schon etwas gesagt. Check!) Seltsam, denn am Tag zuvor hatte das mit einem Remote-Seminar noch hervorragend funktioniert, keinerlei Probleme. Der Nachteil an geteilten WLANs? Ruckelndes Zoomen macht jedenfalls keinerlei Spaß. Das kann man sich fast schenken (es hat aber auch etwas Archäologisches, aus Soundfragmenten Sinn zu erkennen zu versuchen).

Zum Thema Live: Das Masketragen ist übrigens nicht aus der Welt, aber die Quote liegt selten über einem Drittel der jeweils Anwesenden.

Tutorien

Das erste Tutorium, das ich besuchte, gehört zur Ringvorlesung Gesellschaftstheorie. Wir haben vor allem eine ausführliche Vorstellungsrunde veranstaltet und uns über unsere fachlichen Hintergründe ausgetauscht. Zum Kennenlernen nicht schlecht. (Ich habe eher auf meine 10 Jahre Berufstätigkeit abgestellt als auf mein damaliges Studium, es aber ein bisschen soziologisch einzuordnen versucht – das Wort „Entfremdungserfahrung“ fiel recht oft …) Insgesamt bin ich sehr gespannt auf die Diskussionen innerhalb solch interdisziplinärer Gruppen: Das kann gut funktionieren und bereichern, aber auch – wie ein Teilnehmer einwandte – leicht zum Aneinander-Vorbei-Reden in den Jargons der jeweiligen Disziplin führen.

Das zweite Tutorium, zur Ethik-Vorlesung, werde ich wohl ob des Freitagstermins nur sporadisch besuchen, aber es hat sich gelohnt. Erstens entdeckt man durch die Diskussion noch diverse weitere Facetten an Texten, zweitens kommt man den eigenen Fragen näher (wenn auch nicht zwingend den Antworten …) und drittens deckt man eigene Denkfehler auf. (Gut, dass ethische Letztbegründungen kein Schwerpunkt dieses Blogs oder meines Jobs sind.)

Blockseminar „Auf dem Weg zu einer Gastlichkeit der Sprache“

Atmosphärenote: 1 mit Sternchen. In einer angenehmen Gruppengröße (ein knappes Dutzend) diskutierten wir im Freien, bei Oktobermilde und Sonnenschein, Freitagnachmittag und Samstag(nach)mittag, was wir so in die Texte und aus den Texten von Jacques Derrida und Walter Benjamin lasen. So muss Philosophie sein. Eine wesentliche Wirkung: Infragestellung aller sprachlichen Mitteilungsfähigkeit (der Sprache selbst, des „Subjekts“ durch die Sprache, Derridas, …). Diese beiden Autoren werden eher nicht meine neue Bettlektüre, aktuell übrigens „The Collected Short Fiction“ von Thomas Ligotti, aber der Ausflug macht Spaß.

„Der Mensch ist, was er isst“ (Feuerbach). Erdnuss-Mayo.

Wer sich selbst bzgl. der Heimischkeit/Hei­me­lig­keit, Gastlichkeit, Anverwandlung, Verfügbarmachung, Eigentümlichkeit von Sprache verunsichern lassen will, kann ja mal hier anfangen:

Lektüren

Kant

Natürlich geht es mit Kant weiter, und dabei z.B. mit der Behauptung, dass nur solches Handeln ’sittlich‘ ist, das sich aus Pflicht und Achtung vor dem Gesetz speist; also ist auch nur dort Sittlichkeit überhaupt zu verorten, wo eine Handlung nicht nur oder nicht auch zugleich aus Neigung passiert.

Das Ganze erinnert mich sehr an die Theorien Charles Taylors, auf die sich Hartmut Rosa immer wieder bezieht, dass Handeln zwischen starken und schwachen Wertungen (verkürzt: Was ist wichtig? vs. Was macht mir Spaß?) einzuordnen ist. (Das ist bei Rosa durchaus relevant, da er Resonanzbeziehungen nur da annimmt, wo auch starke Wertungen ins Spiel kommen.)

Agnoli: „Subversive Theorie: Die Sache selbst und ihre Geschichte“

Die Einleitung ist vor allem eine Verteidigung der Theorie gegenüber der „revolutionären Tat“. Subversion lässt sich auch durch Theorie erreichen, und zwar auch schon heute, trotz utopischen Anspruchs. Als „die Sache selbst“ würde ich nun erstmal annehmen: die Umwälzung der Gesellschaft, um Erniedrigung abzuschaffen.

Über die Recherchen zu Agnoli bin ich auch auf die „linke Literaturmesse Nürnberg“ gestoßen, von der Agnolis Verlag „ça ira“ 2008 (also 5 Jahre nach Agnolis Tod) verbannt wurde:

2008 wurde der ça ira-Verlag von der in Nürnberg stattfindenden Linken Literaturmesse ausgeschlossen. Die an der Messe teilnehmenden Verlage sahen mehrheitlich keine Grundlage mehr zur Zusammenarbeit mit dem Freiburger Verlag. Hauptgrund war ein vom ça ira-Verlag verlegtes Buch, „in dem Kriegspolitik befürwortet wurde“. [Wikipedia]

Diese Messe findet zufällig in einer Woche wieder statt, und nachdem ich sowieso ein Nürnberg-Wochenende geplant habe, werde ich da wohl mal hingucken.

Der Pietismus und die Frauen

Für das Seminar „Religion und Geschlecht in der Moderne“ gab es einen Text über die Rolle von Frauen in pietistischen und Frömmigkeits-Vereinigungen. Ein schönes Fundstück (Dora Rappard):

„Frauenrecht“, zitiert nach Ruth Albrecht: „Frauen“. In: Glaubenswelt und Lebenswelten, Bd. 4 der „Geschichte des Pietismus“, Hrsg. Hartmut Lehmann

Hier ist es dann natürlich mit einer subversiven Wirkung der Religion auf den erniedrigten weiblichen Bevölkerungsteil nicht weit her.

Körper der Gesellschaft: Norbert Elias

Dazu bin ich vor lauter Seminaren noch nicht gekommen, nur zur Lektüre passender Wikipedia-Einträge. Vielleicht passt hier das einleitende Luhmann-Zitat, wenn man sich die „Kontroverse mit H. P. Duerr“ anguckt?

Studienorga, Technik und Methoden

Das Setup mit Obsidian gefällt mir bislang recht gut: Exzerpte und Lektürenotizen kommen in einen separaten Lektürezettel, dessen relevante Passagen dann in der Projektnotiz des jeweiligen Seminars eingebunden werden. Wichtige Gedanken, die für meine eigenen Gedankengänge und eventuelle Studienarbeiten relevant sein könnten, kommen auf eigene Zettel (ohne direkten Bezug zu den „Projekten“, also Veranstaltungen). Ich plane, zumindest die Projektnotizen am Ende des Studiums (vielleicht auch schon des Semesters) zu archivieren oder wegzuwerfen.

Was mir auch in der zweiten Woche auffiel: Viele Studierende lehnen eBooks und PDFs ab. Sie wollen „richtig lesen“. Vielleicht ist das eine Reaktion auf ein ansonsten permanent an Bildschirmen verbrachtes Leben? Ich bin als Pendler jedenfalls froh um alles, was ich nicht (wie den Kant) in Printform mit mir führen muss. (Die Rosa-Ausgabe aus dem Beitragsbild liegt in Nürnberg – das ist natürlich zum Zitieren doof, wenn man nur ein EPUB hat.) Allerdings gibt es auch Leute mit elaborierten E-Ink-Tablets, und relativ viele ThinkPads und MacBooks.

Kontrast zur Arbeit

Ein recht wesentlicher Aspekt dieses Sabbaticals ist ja das Sabbatical. Ich arbeite ja gerade nicht, und das jetzt schon seit über 3 Wochen. Das ist insgesamt recht ungewohnt, weil die Routinen der letzten ca. 5 Jahre fehlen, und u.a. auch die intuitive Gewissheit, wo man sich morgen/nächste Woche/nächsten Monat aufhalten und womit man sich beschäftigen wird. (Es fällt mir momentan schon schwer, mich zu erinnern, wo ich vor 7 Tagen war …) Langsam etabliert sich aber auch eine „Gastlichkeit“ in der neuen Zeitstrukturierung.

Zeitwahrnehmung und Fomo

Insgesamt ist meine Zeitwahrnehmung deutlich verschoben: Es gibt keinen so starken Fokus mehr auf die Dichotomie Wochenende/Werktage; eher schon teilt sich das Leben in „Abstand zur nächsten Veranstaltung“ (also Lese-Deadline) ein, etwa wie bei beruflichen Projekten, nur mit mehr Turnus.

Dadurch, dass ich hier in Jena die meiste Zeit alleine verbringe, sieht auch die Tagesgestaltung anders aus. Dank digitaler Kommunikationstechniken und einem allgemein recht „digitalen Leben“ auch zu Freizeitzwecken ist der Unterschied aber gar nicht soooooo groß. (Auch eine spannende Erkenntnis.)

Was ich hier aber mehr habe als daheim: das Gefühl, etwas zu verpassen; sei es in der Breite (Zusatzkurse, Kolloquien, …) oder in der Tiefe (lässt sich aus diesem Text noch mehr rausholen?). Die gewöhnliche Lohnarbeit hegt sich durch Kommunikation, Zeitstrukturierung und Hierarchien selbst stärker ein. Freiheit kommt eben mit Verantwortung (auch zur Lücke).

Freiwilligkeit und Freiheit

Klar, ab der mittleren Jugend ist eigentlich alles „freiwillig“: Keine und keiner muss mehr in der Schule sitzen, muss studieren, muss arbeiten. Die Abstufungen der Freiheit sind aber graduelle – hinter allem dräut ja für fast alle der Verwertungszusammenhang der Lohnarbeit, dem man ein bisschen ausweichen, aber nicht entgehen kann. Oder anders: Also irgendwas tun muss der Mensch ja, und das irgendwas ist eigentlich immer (auch verbunden mit) Arbeit.

Das ist hier ein bisschen anders: Wie schon mal erwähnt, glaube ich, dass das ungefähr so viel Aufwand wird, wie man sich machen will. Das ist ein Unterschied zum Arbeitsleben, wo einem jemand anderes das Pensum aufgibt (auch wenn es da wiederum große Unterschiede je nach Unternehmen, Job, Projekt, Saison gibt). Das sorgt einerseits auch für die oben genannte Fomo, aber andererseits ist diese Selbstbestimmtheit mit einem großen Moment der Freiheit verbunden.

Jena, Wohnen und Pendelei

Insgesamt gefällt mir die Stadt auch infrastrukturell recht gut: Bahnen und sogar manche Busse fahren rund um die Uhr (nachts halt nur noch stündlich). Und als Studierendes ist man nie weit weg von Schließfächern, Mensa-Kaffee und WLAN.

Die zweite Pendelfahrt verlief tadellos. Allerdings kann ich mein Zimmer in der ehemaligen Deutschordens-Hochburg Zwätzen gerade nicht nutzen, sodass ich eine Ferienwohnung im Zentrum habe. Das ist schon komfortabler: Kein Seminarraum ist weiter als 5 Minuten weg … Am Montag geht es zurück in die Hügel des Stadtrands.

Die Wohnungssituation

Ich habe ein bisschen mit dem Fewo-Vermieter geplaudert und mich in den letzten Tagen auch mit meinen neuen Mitstudierenden über die Wohnsituation in der Stadt unterhalten, und die Tendenz (mit Ausnahmen!) ist: Das ist aktuell (Kommilitoninnen und Kommilitonen) wie auch seit Jahren (Vermieter) ein gewaltiges Problem. Es gibt einfach zu wenig Wohnraum oder zu viele Studienplätze, wie herum man es jeweils betrachten will.

Der Fewo-Vermieter erzählte noch, dass er immer überrascht sei, wie leicht sich Leute, die bei ihm für ein paar Tage mit Besichtigungen unterkommen, die Suche vorstellten – und wie oft sie dann enttäuscht von dannen zögen. Und einige Mitstudierende sind einfach z.B. in Leipzig oder Erfurt wohnen geblieben und pendeln nun.

3 Gedanken zu „Die zweite Woche: Zoom, Subversion und Seminare“

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