Mitten in den Semesterferien …

»Eine Vorstellung, wie die Gesellschaft gut oder auch nur besser sein könnte, habe ich gar nicht. Ich finde, dass unsere Gesellschaft mehr positive und mehr negative Eigenschaften hat als jede frühere Gesellschaft zuvor. Es ist heute also zugleich besser und schlechter.«
(Luhmann, AuW, 139)

Die Zeit verfliegt. Im August waren wir einige Tage wandern — bei 30° und meist praller Sonne, also schon ab dem Vormittag durchgeschwitzt. Das war schön, aber ich würde nächstes Mal wieder eher auf eine Oktoberwanderung bauen (sobald „Oktober“ nicht mehr „Semesterstart“ bedeutet, freilich).  Danke, Sabine, für die Urlaubs-Orga 🙂 Generell mag ich Sommer ja sehr gern, und der momentane Herbsteinbruch gefällt mir gar nicht. Aber sei’s drum, die Arbeitsatmosphäre ist vermutlich konzentrierter so …

Im August passierte hier nicht allzuviel, aber falls es jemandem durchs Aufmerksamkeitsraster gerutscht sein sollte: Ich habe ein bisschen was zu Luhmanns Biographie gebloggt. Außerdem habe ich inzwischen (positives, aber auch im besten Sinne kritisches und vor allem ausführliches) Feedback zu meiner Blavatsky-HA aus dem Wintersemester bekommen.

Und: Ich plane, im September zur musiksoziologischen Tagung „Musik in der spätmodernen Gesellschaft: Krisen – Chancen – Transformationen“ nach Weimar zu fahren und habe mich für Workshop 3 („Funktionen und ästhetische Dimensionen von Musik in der Spätmoderne“) angemeldet. Ich werde berichten!

Das Programm fürs Wintersemester

Wenn alles glatt läuft, werde ich 4 (nominell: 5, aber 2 davon sind zur gleichen Zeit) Seminare besuchen, von denen ich eigentlich nur 2 brauche und nur in einem eine Prüfungsleistung ablegen muss. Und zwar:

  • Sprache und Gesellschaft, Di 16-18
  • Zur Funktion und Bedeutung des Fußballsports in der (Spät-)Moderne, Mi 10-12 (nur belegt, weil bei Hartmut Rosa!)
  • Theorien des Geschlechts, Mi 10-12 (leider überschneidet sich das mit dem Fußballseminar)
  • Knappheit und Überfluss, Mi 12-14 (das kann man noch gar nicht belegen, denn es ist „unter Vorbehalt“ im VL-Vz. Ich weiß nicht, warum.)
  • Wissenschaftstheorie und Kritik der politischen Ökonomie, Fr 10-12

Briefe-Arbeit

Wer die Arbeit lesen mag, möge sich melden.

Backroom Games und Liminal Spaces

The entire point of the backrooms is that you’re supposed to be terrified of the idea of an impossible, endless, EMPTY labyrinth of recognizable nauseating rooms and the fear of the unknown keeping you wondering whether or not you’re alone. (reddit)

Kaum steht eine Hausarbeit (s.u.) an, beginnen plötzlich andere Dinge, mein psychisches System zu faszinieren und Aufmerksamkeit abzuziehen. Es gibt ein kleines, kurzes Flick Flack zu „Liminal Spaces: Die Gruselräume im Internet“, was sich v.a. auf Backrooms Games bezieht.

Das Phänomen begann mit einem creepypasta-Post über unheimliche (oder besser: eerie, mit Mark Fisher?) Räume. Unheimlich, weil sie unpassend leer oder verlassen wirkten. Daraus wurde dann ein erfolgreiches Horror-Kurzvideo („Found Footage“) und es entstanden jede Menge Games dazu. Kein Wunder: Man braucht nicht allzu viel dafür — ein paar bröckelige Texturen und eine Idee, wie man endlos große Levels produziert, reichen.

Anschlüsse und Assoziationen

Warum ist das nun erfolgreich? Es mag tiefe psychologische Gründe geben (s. die Künstlerin im Flick Flack-Beitrag), aber ich vermute, es liegt auch an den explorativen (und ansonsten wenig anspruchsvollen) Mechaniken und dem offenen Erzähluniversum (s. Resonanzreflexion). Jedenfalls kann man darüber viel nachdenken, da kommen Mark Fisher (weird/eerie), Anthropologie (Liminalität, Übergangsriten), Lovecraft (weird, cosmic) und der Mythos (Tindalos!), Derrida (Hauntology), Lacan/Zizek (the „Real“), Hofstadter (strange loop!), Heterotopie (und damit Einsamkeit und Exklusion, obwohl es eigentlich eine falsche Inklusion ist — und auf schreckliche Weise gar nicht einsam), Alice in Wonderland (rabbit hole!), Populär-Metaphysik (Inception, Matrix, ggf. Half-Life), Einsamkeit/Verbindungslosigkeit/Depression, … in den Sinn. Passenderweise sprach ich mit Vince gerade auch über Räume als emotionale Atmosphären …

Weiterlesen

Wer weiterdenken mag:

  • Philosophie-Post auf reddit
  • A Maze of Terror – The Backrooms Series Explained
  • Verwandtes Phänomen: Die SCP Foundation (quasi Warehouse 13 on Speed und mit einigen Parallelen zur letzten AHLCG-Kampagne, „The Scarlet Keys“)
  • Ein „Guide“, jeweils in die Innensicht des Backrooms-Mythos und eine Außensicht aufgeteilt
  • [Update 2024] Bei NON gibt es einen sehr kurzen Artikel, der die Backrooms interpretiert als „represent[ing] the reproduction of capitalism into the imaginary“.

Die Flick Flack-Sendung ist auf jeden Fall ihre 4 Minuten wert. Ein weirdes Phänomen. Und: Ich frage mich jetzt, warum ich mich in meinem Zimmerchen für eine gelbe Tapete entschieden habe …

Theosophie: Annie Besant, Match Girls‘ Strike, Faschismus als politische Form des Okkultismus

Es geht dank Bibliotheks-Session (Wiso) voran, auch wenn dieser Blogpost hier das Gegenteil suggeriert … Die Fragestellung: Wie positioniert sich das politische Denken Annie Besants zwischen Religion und Sozialismus?

Das ist spannend, denn aus der ehemals säkular-antireligiösen (eigentlich: antichristlichen) Feministin Besant wurde dann eine wichtige Person der Theosophie und Führungsfigur der Theosophical Societey (Adyar, also der Zweig, der von Blavatsky und Olcott herrührt). Meine These ist nun: Sowohl am Anfang, als sie in britischen Gewerkschafts- und Streikzusammenhängen agitierte, als auch später, als sie gegen das imperialistisch-koloniale Raj-Regime in Indien opponierte, blieben ihre Überzeugungen und Zielsetzungen „sozialistisch“.

Arbeiterinnenrechte, Verhütungsmittel, Konversion

Zurück zu den Anfängen und ihrem Kampf für Birth Control, Zugang zu Verhütung etc:

Besant “probably knew the views of the working classes better than all the other leading socialists of her day put together.” And, as the country’s first major figure to publicly endorse birth control, she was also one of the first socialist thinkers to count housework and childcare as part of the labor both for which women should be rewarded and from which they should be freed. (Jacobin)

Eine interessante historische Verortung. Der Artikel würdigt Besant als Arbeiterinnenrechtlerin, verschweigt aber das für mich zentrale Thema: die Konversion zur Theosophie. Diese ereignete sich interessanterweise nur kurz nach dem (vielleicht von ihr orchestrierten) „Match Girls‘ Strike“ 1888, nämlich 1889, als sie ein Buch Blavatskys rezensierte. Genau dieser Wendepunkt und die sich damit befassenden Selbstzeugnisse Besant werde ich mir als nächstes vornehmen.

Danke an Sabrina für den Tipp, in diesen GaG-Podcast zum Match Girls‘ Strike reinzuhören!

Timeline Annie Besant

Außerdem habe ich eine kleine Timeline gebastelt:

EreignisReligionPolit. ZieleWo
1847GeburtC?UK
1867Heirat mit einem anglikanischen Pastor, zwei KinderC?UK
1873verlässt den Pastor nach u.a. GlaubensstreitigkeitenC?UK
1874beginnt, für National Secular Society zu schreibenSecFemUK
[1875][Gründung der Theosophical Society durch Blavatsky und Olcott]UK
1877kämpft für Recht auf Geburtenkontrolle, publiziert Verhütungs-Apologetik – und wird dafür verfolgtSecFemUK
[1877][Isis Unveiled erscheint]
1878Verliert das Sorgerecht an ihren Kindern an den Ex-Mann, v.a. wegen ihrer areligiösen und feministischen AnsichtenSecFemUK
1879ffStudium (v.a. Naturwissenschaften)SecFemUK
Ab 1885Identifikation als Sozialistin (fabianistisch, weniger marxistisch)SecFem, SozUK
1885Publikation: „Autobiographical Sketches“
1887Beteiligung am Bloody Sunday (irischer Aufstand)SecSoz, Irish HRUK
1888Beteiligung am Match Girls’ Strike (Aufstand von Streichholzfabrikantinnen); wird ins London School Board gewähltSecFem, SozUK
[1888][The Secret Doctrine erscheint]
1889Berichtet über London Dock Strike (eher streik-avers); rezensiert Blavatsky und konvertiertThFem, SozUK
1890Trifft BlavatskyThFem, SozUK
1891Blavatsky stirbt; Besant wird zu einer der wichtigsten Führerinnen der TSThFem, SozUK
1893Reist nach Indien; die TS spaltet sich (US vs. Adyar)ThFem, SozIndia
1893Publikation: „An Autobiography“
1894flernt Leadbeater kennen; v.a. mystische Orientierung;ThFem, SozIndia/UK
1898erste Schuldgründung in IndienThFem, SozIndia
1902Beschäftigung mit weiblicher Freimaurerei, mehr MystikThFem, SozIndia/UK
1906Leadbeater-Skandal (Apologetik der Masturbation, Homosexualität, …)ThFem, SozIndia/UK
1907Olcott stirbt, Besant wird Präsidentin der TS
1909/10Lernt Krishnamurti kennen und nimmt sich seiner an („World Teacher“)ThFem, SozIndia
1914Beginnt, sich für Indische Unabhänigkeit zu engagieren; WWITh, HIHR,India
1916Mitgründung der Indian Home Rule League, Widerstand gegen den RajTh, HIHR, Fem, SozIndia
1917Verfolgung und Inhaftierung; Gandhi schreibt für ihre Freilassung; Dezember: Erste Präsidentin des Indian National CongressTh, HIHR, SozIndia
1919Laut Wessinger 2013: Ende der politischen Karriere in Indien nach missverstandenen Kommentaren zum britischen Amritsar-MassakerTh, H?
1929Krishnamurti lehnt Rolle als „World Teacher“, die beiden bleiben aber bis 1933 befreundetTh, H?India
1933Stirbt in IndienTh, H?India

C = Christentum
Sec = Säkularismus
Th = Theosophie
Hin = Hinduismus
IHR = Indian Home Rule
Fem = Feminismus
Soz = Sozialismus


Featured Image: Kurz vor Harburg.

2 Gedanken zu „Mitten in den Semesterferien …“

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