Cthulhu-Mythos: Warum „resoniert“ der kosmische Horror? (Resonanzreflexion)

Heute fragen wir uns, wieso der Cthulhu-Mythos und die damit zusammenhängenden Ideen, Werke und Vergegenständlichungen (lies: Produkte) für viele Menschen – mich eingeschlossen – offenbar eine Resonanzachse darstellen. Warnung: Dieser Artikel ist lang und vielleicht eher die populär-schnodderige Skizze einer wissenschaftlichen Arbeit.

Theoretisches Framework: Resonanztheorie

Wer sich nicht für die Resonanztheorie interessiert, kann natürlich die wenigen entsprechenden Begriffe ausklammern und statt „resoniert“ vielleicht „fasziniert mich“ sagen. Wer sich aber für das theoretische Framework dieser Analyse interessiert, kann die Grundlagen hier nachschlagen.

Resonanzkriterien und -achsen

Kurz gesagt untersuchen wir folgende Kriterien:

  • Selbstwirksamkeitserwartung,
  • Affizierung,
  • Dialog (etwas spricht mich an und hört mich an),
  • (doppelte) Transformation,
  • Unverfügbarkeit all dieser Kriterien (weder kann ich sie oder die Resonanzbeziehung erzwingen noch habe ich die Wirkungen ganz in der Hand). Alles, was wir begehren, hat immer ein Moment von Unverfügbarkeit. Denn hätte ich es schon voll und ganz verfügbar, würde ich es ja nicht begehren.

Diese Kriterien zeichnen nach Rosa eine resonante, „glückende“ Beziehung zur Welt, in diesem Fall zu einem Erzählkosmos, aus. Dieser Erzählkosmos erstreckt sich über die drei von Rosa unterschiedenen Resonanz-Dimensionen:

  • vertikal (zu abstrakten, „höheren“ Konzepten und Ideen, wie zu einem Gott oder der Natur) besteht eine Beziehung zu den generellen Ideen und zur „kosmischen“ oder „kosmizistischen“ Philosophie;
  • diagonal (zu Dingen und Gegenständen) besteht sie zu den Büchern, Rollenspielprodukten, Filmen, Musikstücken, Statuen, Würfeln, Requisiten, Tarot-Decks (um nur zu nennen, was mir gerade im Blickfeld liegt);
  • horizontal (zu anderen Menschen) besteht sie einerseits zu den Schöpferinnen und Schöpfern „des Mythos“, also den Urhebenden; andererseits aber auch zu den anderen Menschen, die sich für die gleichen Dinge begeistern.

Eine Resonanzbeziehung erfordert also immer, wie das musikalische Bild nahelegt, von beiden Polen „Schwingungsfähigkeit“. Das heißt, beide müssen a) stabil genug sein, eine Eigenschwingung zu haben, und b) offen genug sein, auf die Schwingung des anderen zu reagieren. (Musikalisch könnte man das z.B. durch Obertöne erklären.)

Entfremdungsbeziehung

Das Gegenbild zur Resonanz- ist eine Entfremdungsbeziehung zur Welt. Entfremdung ist gekennzeichnet durch ein Grundgefühl, in eine feindliche oder indifferente Welt geworfen zu sein. Eine entfremdete Weltbeziehung ist eine, in der die Welt stumm und leer ist: Sie hat einem nichts zu sagen; sie hört einen nicht an; ich erwarte nicht, ihr gegenüber wirksam sein zu können; sie ist starr und ich bin starr, ohne Chance auf Verwandlung. Stumm kann die Welt durch zu viel oder zu wenig Verfügungsgewalt über sie werden: Wenn ich sie zwinge und zwänge, hat sie keine eigene Stimme mehr; wenn sie chaotisch und willkürlich ist, verliere ich meine (wirksame) Stimme.

Im Folgenden möchte ich meine Gedanken dazu ordnen, warum sich anhand der Resonanztheorie besonders gut und gewinnbringend analysieren lässt, worin die Faszination des Mythos und seiner Erzeugnisse liegt (also: warum das mit mir resoniert, in mir etwas zum Schwingen bringt). Vorab müssen wir aber klären:

Was macht den Mythos aus?

Nachdem wir uns nun einen losen theoretischen Rahmen gesucht haben, müssen wir noch das empirische Material ordnen, auf das wir sie anwenden wollen. Das ist gar nicht so leicht, denn zum Cthulhu-Mythos gehören ja etwa 100 Jahre Literatur- und mindestens 70 Jahre Popkultur-Geschichte, die sich über diverse Medien erstrecken: Romane, Kurzgeschichten, Filme, Musikstücke, Dramen, Brettspiele, Kartenspiele, mindestens 40 verschiedene Rollenspielsysteme, jede Menge Props, Requisiten und Collectibles, Kunstwerke, Alltagsgegenstände usw. usf.

Bevor wir uns im Folgenden einen detaillierten Arbeitsbegriff des Cthulhu-Mythos erarbeiten, eine kurze Definition und Erklärung vorab: Mit dem „Cthulhu-Mythos“ wird für gewöhnlich ein Geschichtenzyklus bezeichnet, der auf den amerikanischen Autor Howard Phillips Lovecraft (1890–1937) zurückgeht. Im Fokus der Geschichten stehen außerweltliche „Götter“ und Monstren, deren irdische Kulte und meistens ein eher unbedarfter, überraschter Protagonist. Neben Lovecraft haben – zu dessen Lebzeiten und auch später – diverse andere Autorinnen und Autoren zum Cthulhu-Mythos (im Folgenden meist einfach „Mythos“) beigetragen. Im weiteren Sinne meint der Mythos aber auch die Inhalte dieser Geschichten: Die erwähnten Götter und Monstren, die fiktiven Bücher und ihre Inhalte usw.

Elemente einer Mythos-Story

Um in diese 100+ Jahre Geschichte etwas Ordnung reinzukriegen, fangen wir mal bei den Ursprüngen an: den Geschichten. Der große Lovecraft-Biograph und Essayist S.T. Joshi analysiert die Bestandteile einer Mythos-Geschichte wie folgt (in „Lovecraft and a World in Transition: Collected Essays on H. P. Lovecraft“):

[I]t was only in “The Call of Cthulhu” (1926) that the Cthulhu Mythos, as such, can (retroactively) be said to have come into genuine existence; for it was only here that all the four subsidiary icons—topography, occult lore, gods, and cosmicism—are first conjoined into a coherent whole.

Diese vier Kategorien definiert er im Folgenden ausführlicher:

(1) a vitally realised but largely imaginary New England topography;
(2) an ever-growing library of occult books, both ancient and modern (and, in consequence, a band of scholars who seek out these texts, either to carry out the spells and incantations contained in them or to combat them);
(3) the “gods,” their human followers, and their monstrous “minions” or acolytes; and
(4) a sense of the cosmic, both spatial and temporal, that often links the Mythos more firmly with science fiction than with the supernatural.

Zur vierten Kategorie: An anderer Stelle interpretiert Joshi das ganze Oeuvre Lovecrafts eher als Ausdruck einer kosmischen Philosophie („cosmicism“), weniger als reine Horror-Literatur, die versucht, die Lesenden in Schrecken zu versetzen.

Für die moderne Erweiterung des Mythos würde ich der zweiten Kategorie noch andere „Artefakte“ hinzufügen – beginnend beim schon von Lovecraft beschriebenen leuchtenden Trapezoeder Nyarlathoteps bis hin zur „Lampe des Alhazred“ in Arkham Horror. Außerdem bin ich versucht, eine fünfte Kategorie „historische Zeit“ einzuführen, die aber nur retrospektiv gilt. Die meisten Geschichten sind in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts angesiedelt und werden auch für diesen Bezug geschätzt und geliebt. Es hat sich eine ganze Welt aus 20er-Jahre-„Cosplay“-Events ausgebildet.

Die Kategorien in der Anwendung

Wie helfen uns diese Kriterien jetzt in der Praxis? Den Mythos erwähnt auch z.B. Umberto Eco, im „Foucault’schen Pendel“, allerdings nur sehr kurz und ohne jeden Bezug zu einem kosmischen Element (Kategorie 4), sodass ich das nur als „Mythos-Referenz“, nicht als „zum Mythos gehörend“ betrachten würde. Das gleiche gilt für die „Illuminatus“-Trilogie von Wilson und Shea: Hier stehen weder der Kanon der Mythos-„Götter“ noch ein kosmisches Element im Vordergrund; ähnlich, wie Lovecraft immer wieder „Listen“ okkulter Werke in die Geschichten einflicht, werden hier einfach allerlei okkulte Bezüge „gedropped“. U.a. eben auch der Mythos (und Lovecraft als Nebencharakter).

Ganz anders die Erzählwelten von Arkham Horror, dem Cthulhu-Rollenspiel und cthuloiden PC-Games. Hier dreht sich alles um die vier genannten Kategorien, vom Setting bis zu den behandelten Story-Elementen und Topoi. Zwar mag man sich manchmal an anderen Orten und in anderen Zeiten befinden, aber die Bezüge zum Original bleiben stark. Diese Welten zähle ich also klar zum Mythos.

Ein erster Grenzfall sind die Geschichten und Einordnungen von August Derleth, der versuchte, den Mythos in sein christliches Weltbild einzufügen und einen Kampf Gut gegen Böse daraus zu machen. Dies überschattete die Lovecraft-Rezeption bis in die 70er Jahre. Die Entscheidung, ob hier jeweils ein „Mythos“-Werk vorliegt oder nicht, sprengt den Rahmen dieses Artikels, ist aber exemplarisch. Denn ein loser, offener Katalog wird im Einzelfall viele Schwierigkeiten mit sich bringen.

Verwobenheit: Ein „Universum“

Lovecraft hat seine Geschichten „offen“ angelegt (zu Implikationen dessen kommen wir unten). Er hat sich bei anderen Autorinnen und Autoren bedient, und seine Schöpfungen wiederum frei zur Verfügung gestellt. Jede und jeder konnte und sollte das Necronomicon, Yog-Sothtoth und die Stadt Arkham in eigenen Werken aufrufen und verwenden.

Das Resultat: Schon zu Lovecrafts Lebzeiten entstanden diverse Bezüge zwischen verschiedenen Geschichten aus verschiedener Feder. Diese Offenheit, dieser Netzwerkgedanke aus Relationen von Story-Elementen, war unschätzbar für den Erfolg des ganzen Erzähluniversums – und, wie ich unten argumentieren werde, auch ein wichtiges Kriterium für die Herausbildung einer „Resonanzachse“ zum Mythos.

Den Mythos begreift man am besten als ein Universum, in dem man bestimmte Dinge kennt, andere nicht kennt und einige nicht kennen kann. Man kennt Geschichten, Produkte, Spiele, Filme, also diverse fiktionale Erzeugnisse des Mythos; man kennt vielleicht auch Essays und wissenschaftliche Arbeiten über den Mythos, also reale Meta-Texte; aber man weiß auch, man kann nie alles in diesem Universum kennenlernen, dafür reicht die Lebenszeit nicht; und es gibt einige fiktive Elemente, die man naturgemäß (und zum Glück!) nie kennen wird: das Gefühl einer erfolgreichen Anrufung Shub-Nigguraths; den wirklichen Inhalt von Seite 222 des Necronomicon; die Empfindungen eines Bewusstseins in einem Gehirnzylinder.

Zwischenfazit: Mythos-Arbeitsbegriff

Ich werde ab jetzt mit folgendem „Mythos“-Arbeitsbegriff weitermachen:

„Der Mythos“ meint ein Erlebnis- und Erzähluniversum (eine shared world), das sich auf eine bestimmte Gruppe von v.a. literarischen Erzählungen bezieht, deren Initiator H.P. Lovecraft war. Es kennt keinen abschließend definierten inhaltlichen oder medialen Kanon: Jede Form von interaktivem oder rein rezeptivem Medium oder Gegenstand kann „zum Mythos gehören“, wenn es hinreichend viele Kriterien eines (vermutlich nicht abgeschlossenen) Katalogs erfüllt. Diese Kriterien umfassen vor allem a) (fiktive) Settings, b) Bezüge zu etablierten fiktiven Büchern, Artefakten und Entitäten und c) den Rückbezug auf eine kosmische oder „kosmizistische“ Stimmung oder Philosophie. Es gibt aber weder notwendige noch hinreichende Einzelkriterien für „Mythoszugehörigkeit“. Naturgemäß wird es daher regelmäßig Grenzfälle geben, die sich nur schwer in den Mythos einordnen oder aus diesem exkludieren lassen.
Erschwert wird die Definition des Begriffs „Mythos“ oder „Cthulhu-Mythos“ dadurch, dass dieser innerhalb der Geschichten explizit oder implizit als solche thematisiert wird: Der Begriff bezeichnet sowohl einen realweltlichen Produktkatalog wie auch eine grauenhafte Metaphysik innerhalb der von diesen Produkten erzählten Geschichten.

Wenn ich von „der Mythos“ oder einer Beziehung zu „dem Mythos“ spreche, meine ich damit die Gesamtheit der diesen Kriterien genügenden Werke. Eine konkrete Beziehung hat man meistens natürlich nur zu einem Exemplar dieser Gruppe (einer Erzählung, einem Spiel, einer Statue, einem Musikstück): Ich habe eine diagonale Resonanzachse (s.o.) zu einem „Arkham Horror LCG“-Szenario mit all seinen Elementen, oder eine horizontale Resonanzachse zu einem Mitspieler.

Ich würde aber behaupten, dass „der Mythos“ als offene, abstrakte Idee auch bestimmt und konkret genug ist, um eine vertikale Resonanzachse zum „Mythos an sich“ zu ermöglichen. Im Folgenden werde ich alle diese drei Dimensionen der Resonanzbeziehung verwenden und betrachten.

Was macht nun also die besondere Beziehung aus, die Menschen zum Mythos haben?

Am Anfang steht die empirische Gewissheit, dass Resonanzbeziehungen zum Mythos möglich sind; ich selbst habe eine, und ich bin Mitglied ausreichend vieler Gruppen und Vereine, um sagen zu können, dass das nicht nur auf mich zutrifft. Eine kurze Detailanalyse:

  • Der Mythos spricht mich an, hat mir etwas zu sagen:
    • Ich fühle mich bei jedem Entdecken eines Mythosbezugs in meiner (Um-)Welt „angerufen“ und reagiere entsprechend. (Oft durch eine Konsumentscheidung …)
    • Affizierung: Einen Mythosbezug zu entdecken, löst positive bis euphorische Emotionen bei mir aus.
  • Ich habe dem Mythos etwas zu sagen:
    • … einerseits durch Diskussionen in Foren (DLG, YSDC, …); mit Artikeln wie diesem; und andererseits natürlich musikalisch.
    • Und „der Mythos“ hört mich an: Ich habe zwar keine Illusionen, dass diesen Artikel mehr als 2 Leute lesen und meine Musik mehr als 15 Leute hören werden. Aber ich empfinde das dennoch als einen Beitrag, der mich und den Mythos bereichert.
    • Transformation: Ich verändere dadurch den Mythos (im sehr Kleinen)
    • Selbstwirksamkeits- und Resonanzerwartung: Ich kenne mich im Mythos aus und habe keine Berührungsängste mit Personen, Themen oder Systemen, die mit dem Mythos in Verbindung stehen. Das steigert meine Selbstwirksamkeitserwartung. Ein Beispiel: Einem neuen Regelwerk für ein cthuloides Rollenspiel trete ich mit der Erwartung entgegen, dass ich es leicht und vielleicht sogar intuitiv verstehen werde. Das wäre bei einem Superhelden- oder SciFi-System nicht so. Ich weiß, dass mich eine Mechanik zu geistigem Schaden oder Wahnsinn erwartet. Dass es nicht ums Gewinnen geht. Dass ich in-time von Dingen überrascht werde, die ich out-time schon kenne. Dass viele Systemelemente auf Atmosphäre und Stimmung zielen usw. usf. Und ich gehe davon aus, dass es mir gefallen wird (im Vergleich zu einem SciFi-System, zum Beispiel).
  • Der Mythos spricht mit eigener Stimme: Da das Erzähluniversum Mythos einer dauernden Evolution ausgesetzt ist, es sich dabei um ein lebendiges Universum handelt, sagt es immer ein bisschen was anderes – auch wenn der Kern „Mythos“ bleibt. (Das ließe sich auch systemtheoretisch analysieren: Mythos-Operationen sind als solche beobachtbar, vor allem durch das System Mythos selbst, d.h. unterscheidbar von seiner Umwelt – etwa der Umwelt Fantasy, der Umwelt Horror, der Umwelt SciFi usw. Genau dadurch bringt sich das System Mythos selbst hervor.)
  • Ich wurde und werde durch den Mythos verändert – in meinen ästhetischen Präferenzen, philosophischen Annahmen, in meiner Freizeitgestaltung, meinen Hobies und Interessen.
  • Dabei bleibt sehr vieles unverfügbar: Ich weiß nicht, wie die Beziehung weitergeht; ich bin mir nicht sicher, ob mir die zunehmende Etablierung des Mythos als Motiv der Mainstreamkultur gefällt; ich kann nicht sagen, wie genau mich der Mythos verändert hat und weiß auch nicht, ob er mir morgen noch genug zu sagen hat, um mich zu verändern – aber ich gehe davon aus.

Sehen wir uns nun an, warum der Mythos für derartige Beziehungen prädestiniert scheint. (Hier muss ich vielleicht einschieben: Natürlich ist keines der hier folgenden Kriterien dem Mythos exklusiv eigen. Sie gelten auch für andere Rollenspielwelten und Erzähluniversen. Ich glaube aber, dass im Mythos eine eigene Melange an diesen Kriterien zusammenkommt. Der Mythos strahlt weiter als andere Fantasywelten ins Leben der Anhänger hinein.)

Anschlussfähigkeit der Geschichten zur eigenen Fantasie und anderen Werken

Wenn ich mich hinsetze und eine Geschichte in Westeros schreibe, ist das „Fan Fiction“. Wenn ich mich aber hinsetze und eine Geschichte mit von Junzts „Unaussprechlichen Kulten“ schreibe, an deren Ende herauskommt, dass gar kein böser Dämon meine Nachbarschaft umbringt, sondern ein seltsamer Pilz, der sich gerade in den Erdkern zurückzieht, dann ist es ein legitimes Stück des Mythos. (Und sogar kosmisch, wenn der Pilz extraterrestrischen Ursprungs ist.)

Ein so anschlussfähiger Erzählkosmos gelingt nur, wenn man vieles offen lässt; wenn man keine Heldenreise erzählt, wo jede Station relevant und potenziell „unstimmig“, „nicht kanonisch“ ist; wenn man eher mit Versatzstücken arbeitet – beziehungsweise, und für diese Sichtweise optiere ich, wenn man mit Beziehungen statt Entitäten arbeitet. „Azathoth“ bezeichnet weniger ein „Wesen“, das man in seiner Geschichte auftauchen lassen kann (anders als Jon Snow). Es ist eher eine Adresse für lose Assoziationen (von Untergang, Wahnsinn und dem Schlaf der Gerechten). Es ist ein Symbolkanon, und Symbole sind variabel und flexibel. Der Symbolkanon ist der „Keim“ einer „generativen“ Welt (mit Brian Eno gesprochen).

Das sorgt dafür, dass der Mythos extrem anschlussfähig in anderen Werken und auch in der eigenen Fantasie ist – was jede und jeder weiß, der oder die schon einmal ein eigenes Cthulhu-Abenteuer geschrieben oder improvisiert hat. Diese Form der Anschlussfähigkeit zeichnet sich natürlich auch durch eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung aus: Jede und jeder kann mitwirken und „legitim“ zum Mythos beitragen. Man kann gehört werden. Und diese Eigenschaft gibt dem Mythos auch etwas Unendliches: Es kann niemals die „letzte Mythos-Geschichte“ geschrieben, die „Serie“ niemals abgeschlossen werden. Die Anschlüsse sind also immer gewährt.

Hinreichend unbestimmt

Nehmen wir als Beispiel eine Stadt wie Arkham. Sie ist hinreichend bestimmt: Sie liegt in New England, hat einen (fiktiven) Fluss, eine Universität, eine Bahnlinie nach Boston; die verschiedenen Stadtviertel, ihre Lage und Soziodemographie sind dokumentiert. Damit lässt sich etwas anfangen, daran lässt sich anknüpfen.

Gleichzeitig ist sie hinreichend unbestimmt, um jede Begebenheit, jedes denkbare Fachgeschäft, jede Berufsgruppe unterzubringen. Klar, im Lauf der Jahrzehnte und vor allem durch (Rollen-) Spiele haben wir ein detaillierteres Bild von Arkham gewonnen. Es wäre eher unpassend, in Arkham plötzlich ein großes Kloster oder eine Automobilfabrik unterzubringen; das bräche mit der tradierten Stimmung. Aber die meisten für die eigene Fantasie oder eine Geschichte notwendigen Elemente lassen sich hier gut verorten.

Das lässt eigenes Wirken zu – verhindert aber auch Verfügbarmachung: Keine Firma, kein Franchise, kein Spielsetting kann Arkham „vereinnahmen“ oder sich gänzlich aneignen. Es führt hier zu weit, die verschiedenen Dimensionen der Welt-Aneignung auszuführen, die in Rosas „Unverfügbarkeit“ diskutiert werden. Aber in jedem Falle lässt sich Arkham schon aufgrund seiner Unbestimmtheit niemals ganz fassen, und damit auch nicht vollständig verfügbarmachen. Ein Rest-Mysterium bleibt.

Anschluss zu „realer“ Geschichte

Eine neue Dimension, die eher der Lovecraft-Rezeption als Lovecrafts Werk zuzuordnen ist, ist die Beziehung moderner Rezipierender zur Epoche HPLs. Lovecraft sagte zwar von sich selbst, eher im 18. Jahrhundert zu leben (was angesichts von Elementen der entwickelten Moderne in seinem Schaffen fragwürdig ist). Assoziiert werden mit ihm aber – zurecht – die 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Nur kurz umrissen: Das Zeitalter zwischen den Weltkriegen, die Goldenen Zwanziger, die Zeit der Großen Depression (die Lovecraft im späten Lebensalter zum Sozialisten werden ließ), die Geburtsstunde von Swing und Jazz, eine zerrissene Zeit auf dem Höhepunkt der Moderne.

Genau zu dieser Epoche bildet sich bei gegenwärtigen, spätmodernen Mythos-Rezipierenden nun auch eine Faszination, eine Resonanzbeziehung, die die Zeitgenossen Lovecrafts natürlich (noch) nicht haben konnten. Zu vielen Mythos-Events gehören 20er-Cosplay, historische Referenzen und die passende Musik. Ein sehr Lovecraft-affines Musikgenre ist der „Dark Jazz“, in dem harmonische und melodische Ideen dieser Epoche mit modernen elektronischen Soundscapes zusammenkommen. (Playlist) Auch für Tisch-Rollenspiel werden Sound-Atmosphäre und „Props“ und Requisiten verwendet, die in die 20er passen oder aus diesen stammen. (Kurzes persönliches Beispiel: Anhand von einem Kerzenfund habe ich ein wenig Familiengeschichte auf Instagram aufgearbeitet.)

Die Beziehung zum Mythos inkludiert also auch die (vertikale) Resonanzbeziehung zur Geschichte – oder knüpft wenigstens an diese an; und zwar an eine besondere, ambivalente und spannende Epoche. Ich kenne einige Menschen, deren Geschichtsbild und -bildung stark von den RPG-Quellenbänden zu Cthulhu geprägt wurde. Da diese oft ausgesprochen detailverliebt und solide recherchiert sind, ist das vermutlich kein schlechter Nebeneffekt.

Mit Materialismus gegen die Entzauberung

Ein Entfremdungsmerkmal, das sich durch die Moderne zieht, ist die Entzauberung (Max Weber). Der Begriff „Entfremdung“ ist vermutlich zu unspezifisch und auch zu leicht auf alles, was negative Emotionen weckt, zu generalisieren. Aber wenn wir ihn als Gegenbegriff zur Resonanz verstehen, können wir ihn ein bisschen enger definieren. Entfremdung bezeichnet eine Weltbeziehung, in der unser Dialog mit ihr stumm geworden ist. Entweder hat sie uns nichts mehr zu sagen, oder wir selbst können uns der Welt gegenüber nicht mehr verständlich machen. Bürokratische Zwangssysteme, sinnlose Arbeitsinhalte,  aber auch eine an sich „öde“ Welt lassen uns entfremdet zurück.

Lovecraft und der Mythos bieten uns nun eine fiktionale Wiederverzauberung der Welt an. Diese ist zwar schrecklich; aber im subjunktiven „Als-ob-es-Nyarlathotep-gäbe“ bietet es zumindest einen Ausweg aus der drögen Alltagswelt. Und der besondere Clou: Wir müssen gar nicht annehmen, dass es die Großen Alten und das Necronomicon wirklich gibt. Es genügt, das für eine Spiel-Session oder die Lektüre einer Geschichte einfach zu setzen. Somit haben wir einen fiktionalen Mysterienkult mit fiktiven Mysterien, der nicht mit dem Materialismus bricht, den Lovecraft hochmodern vertrat.

Lovecraft war sich ja der Fiktionalität seiner Texte bewusst. Sie machten ihm nur Spaß, weil er wusste, dass er keine Realität beschreibt. („But the whole secret of the kick is that I know damn well it isn’t so”, Selected Letters 3.140.) Er wollte keinen echten Mysterienkult begründen – Dinge wie das „Simon-Necronomicon“ hätte er genauso abgelehnt, wie die meisten Fans des Mythos das Machwerk ablehnen. Das ist explizit kein Bestandteil des Mythos. Offenbar stört es die Resonanzbeziehung, wenn die Fiktivität des Mythos in Zweifel gezogen wird, denn sonst stehen wir wirklich vor der singenden, tanzenden Leere von Azathoths Thron.

Damit erfüllt der Mythos übrigens auch noch exemplarisch eine moderne Funktion der Kunst: die Religion abzulösen. Zwar können die Kunst im Allgemeinen und der Mythos im Besonderen nicht die sinnstiftende Funktion erfüllen, die die Religion früher auszeichnete. Aber sie kann eine zweite wichtige Religionsfunktion erfüllen, nämlich die nach einer Formung der Weltbeziehung, hoffentlich in Richtung einer resonanten.

In der Praxis: Kunst, Spiel, Soziales und Konsum

Die Praxis des „Hobbys Mythos“ gliedert sich im Wesentlichen in vier Bereiche. Jeder dieser Bereiche scheint mir eigene Anknüpfungspunkte für Resonanzbeziehungen zu bieten:

  • Kunst: Das meint im Wesentlichen den passiven Genuss von Werken: Literatur, Filme, Serien. Aber natürlich auch das eigene Kunstschaffen, s.o.
  • Spiel: Sowohl Rollenspielsysteme (von denen es inzwischen über 40 große und kleine mit Mythos-Bezug gibt) wie auch Brett- und Karten-, Computer– und Konsolenspiele.
  • Soziales: Die meisten der Spiele, aber auch viele andere Aktivitäten enthalten soziale Elemente. Beispiele: Online-Diskussionen, Conventions, Kickstarter-Kampagnen.
  • Konsum: Die wenigsten Mythos-Fans kaufen sich einen Lovecraft-Sammelband und sind dann „fertig“. Siehe den Abschnitt „Kommodifizierung und Sammeln“.

Der Mythos lädt – u.a. aus den oben ausgeführten Gründen – zum kollektiven Erzählen ein. Daher spielen Erzählspiele (wie Rollenspielrunden) eine große Rolle. Ich kenne keine Zahlen (und bezweifle deren Existenz), aber eingefleischte Mythos-Fans kommen früher oder später mit dem Rollenspiel oder kollaborativen Spielen wie Arkham Horror in Berührung. Generell sind viele Mythos-Medien interaktiv – und zusehends „Multiplayer“. Die eher rezeptiven Medien Film, Literatur, Musik werden (These!) tendenziell von Fans der interaktiven Medien konsumiert.

Daher spielen im weiteren Sinne „soziale“ Aktivitäten – kommunikativ mit Anwesenden und Abwesenden – im Mythos-Fandom eine große Rolle. Und dies eröffnet Möglichkeiten, horizontale Resonanzbeziehungen (zu anderen Menschen) auszubilden.

Zugehörigkeit zu einer Subkultur

Die Sozialdimension des Mythos verdient noch eine kurze, eigene Betrachtung. Denn als Mythos-Fan gehört man „automatisch“ zu einer Subkultur, auch wenn nicht alle Fans diese Zugehörigkeit ausleben. Neben dem abstrakten Interesse „am Mythos“ pflegt man meist noch mehr Gemeinsamkeiten: So gibt es klare Überschneidungen der Mythos- mit musikalischen Subkulturen (Goth, Metal), mit der Rollenspielszene, Mystery- und Horror-Fandom, Historical Cosplay und vielem mehr. Generell wird man hier eher mehr „Nerds“ als in der generellen Mainstream-Kultur finden. (Lovecraft war auf seine Weise ja selbst ein gewaltiger Nerd, social akwardness inklusive.) Und natürlich pflegt man einen gemeinsamen Jargon, der Außenstehende exkludiert und anhand dessen sich Fans gegenseitig erkennen.

Lovecraft selbst fand im Kreis der Amateur Publishing Associations seine (erste) Subkultur. Im Gegensatz zu seinem alltäglichen Umfeld war er hier kein Sonderling, sondern konnte sich sogar zum Präsidenten der UAPA mausern. Der auch sonst sehr lesenswerte Autor Gwern Branwen bringt den individuellen Nutzen von Subkulturen am Beispiel der Wikipedia sehr schön auf den Punkt:

if I decide to commit to the English Wikipedia subculture […] instead of American culture, I am no longer mentally dealing with 300 million competitors and threats; I am dealing with just a few thousand. […] Leaving a culture, and joining a subculture, is a way for the monkey mind to cope with the modern world. [gwern.net, H.v. mir]

Wenn man sich einer Subkultur verschreibt, reduziert man die möglichen Beziehungen auf ein praktikables Maß. Man kann mit zehntausenden anderen Mythos-Fans noch immer nicht in Einzelbeziehungen treten; aber die Weltkomplexität ist reduziert. (Systemtheoretisch gedacht wird dadurch natürlich die Innenkomplexität der Subkultur erhöht. Man verlässt die Breite und geht in die Tiefe.)

Dieses Argument kann man aus dem leicht biologistischen („monkey brain“) Jargon lösen und in unseren resonanztheoretischen Rahmen übersetzen. Durch die Reduktion der möglichen Resonanzbeziehungen, aber auch der resonanzhemmenden „Konkurrenten“ um Status innerhalb einer Gruppe, erhöht sich die Selbstwirksamkeitserwartung. Durch die Einschränkung der möglichen Themen steigert man die Chance, dass der andere, dem man begegnet, einem „etwas zu sagen hat“ und auch, dass „man selbst gehört wird“. (Mentale Notiz: Man müsste einmal untersuchen, wie oft die dialogischen Aspekte der Resonanztheorie und die Luhmann’sche Anschlussfähigkeit überlappen.)

Einschub: Ritual, Spiel und Grenzen in einer chaotischen Welt

Diese anhand der Gruppengröße erörterte Theorie der Komplexitätsreduktion taucht auch in anderen Kontexten auf. So zum Beispiel bei der Frage, inwieweit die kurzfristige Betrachtung des Cthulhu-Mythos als (subjunktive, „als-ob-„) Realität hilft, sich in einer überkomplex-chaotischen Welt zurechtzufinden. Das betrachtet u.a. Justin Mullis in seinem Essay „Playing Games with the Great Old Ones: Ritual, Play, and Joking within the Cthulhu Mythos Fandom„.

The performance temporarily creates for Mythos fans a world that makes sense, a world in which all the rules and boundaries are known, reinserted, and understood in contrast to the confusing, chaotic world in which such fans live their day-to-day lives.

Diese quasi-religiöse Funktion ist zwar noch immer von religiöser Sinnstiftung recht weit entfernt (s.o.), aber sie kommt immerhin einem Rückzug aus der chaotischen Welt entgegen – paradoxerweise eben in eine noch viel chaotischere. (Der Essay ist interessant, hat aber einige Mängel; ich weiß nicht, ob der Autor Seligman und Wellers „Ritual and its Consequences“ so ganz richtig verstanden hat und er bezeichnet Huizinga als „German“. Aber mit ein wenig kritischer Distanz ist er gut zu lesen.)

Kommodifizierung und „Sammeln“

Mit Blick auf den Geldbeutel (und aus kapitalismuskritischen Gründen) muss ein Punkt erwähnt werden: die Konsumseite. Das Angebot von Cthulhu-, Lovecraft- und sonstig Mythos-gebrandeten Produkten ist inflationär geworden, wenn man weiß, wo man gucken muss (oder die Algorithmen wissen, dass man guckt). Es gibt nicht nur Plüsch-Cthulhus. Allein aus meiner Sammlung kann ich beitragen:

  • Statuen und Statuetten der Großen Alten und auch von HPL selbst
  • Tarot-Decks mit Story-Motiven
  • Würfel mit Mythos-Sigillen
  • Würfelbeutel mit Mythos-Sigillen
  • Schlüsselanhänger
  • T-Shirts
  • Votivtafeln der Großen Alten
  • Schmuckstücke
  • Poster („Where’s Cthulhu?“)

Das rechnet explizit nicht die ca. 70 Rollenspiel- und 50 Story-Bücher, die Computerspiele in meiner Steam-Library, die 2000 Arkham-Horror-Karten, RPG-Props usw. ein. Ich kaufe schon länger Cthulhu-Produkte, als ich mein aktuelles GnuCash-Haushaltsbuch führe, daher kann ich das nicht in Geld beziffern. Aber es ist viel. Es ist eben ein Sammel-Hobby.

Ich schwanke in meiner resonanztheoretischen Beurteilung des Sammelns immer ein bisschen. Einerseits ist es eine Tätigkeit der Anverwandlung, gerade, wenn man durch das Sammeln viel Zeit mit einem Thema und geliebten Gegenständen (diagonale Achse!) verbringt. Die nie zu stillende Sammellust ist ein Paradebeispiel für „Die Unverfügbarkeit des Begehrens und das Begehren des Unverfügbaren“, wie ein Kapitel in Hartmut Rosas „Unverfügbarkeit“ heißt.

Andererseits verkommt es auch oft zur reinen Aneignung, verführt zur verbissenen Jagd nach Vollständigkeit und lässt das Erleben gegenüber dem Besitzen verschwimmen. Die Gefahr von Kommodifizierung statt Konsum (lies: resonanzförderlichem Genuss) ist beim Sammeln stets gegeben. Wer blind kauft, wird zum Sklaven des eigenen Begehrens und tritt diesem nicht mit eigener Stimme gegenüber. Aus dem Beziehungsbegehren zu einer faszinierenden Erzählwelt wird ein Objektbegehren nach Repräsentationen dieser Welt.

Aber dieser Artikel ist lang genug – zum Thema „Sammeln und Resonanz“ sollte mal ein eigener folgen.

Wiedererkennen

Ähnlich wie die Jagd nach Sammlerstücken gehört zum Hobby Mythos auch die Jagd nach Anspielungen. Umberto Eco und Shea/Wilson wurden ja schon erwähnt; aber Mythos-Referenzen finden sich überall in unserer (Pop-) Kultur. Alleine die Wikipedia listet unter dem Lemma „Cthulhu Mythos in popular culture“ hunderte Werke. Und diese Anspielungen halte ich für relevante Elemente der Resonanzbeziehung zum Mythos – wie auch zu den Medien, die ihn referenzieren.

Nehmen wir als Beispiel mal die erste Staffel „True Detective“. In einen düsteren Hillbilly-Meth-Kindesmissbrauchs-Plot sind hier einige Mythos-Anleihen eingewoben (ich möchte diese aber nicht spoilern). Der Plot würde auch ohne funktionieren; diese Staffel ist im Gegensatz zu den späteren einfach verdammt gutes Fernsehen. Aber die zarten Hinweise, das Namedropping, beschwören eine weitere Dimension an Atmosphäre. Mythos-Fremde kommen damit in Berührung mit dem Mythos – und Mythos-Fans freuen sich über die Referenzen und ihr „Wiedererkennen“.

In diesem Wiedererkennen liegt einerseits ein Moment der Selbstwirksamkeit, des Stolzes. Andererseits „spricht“ die Serie nochmal ganz anders zu einem. Und da man die Anspielungen erkennt, hat man auch das Gefühl, dass man gemeint ist, „gehört“ wird – im Sinne von: „Das machen die extra für mich“. (Soweit das bei einem zunächst einseitigen Kommunikationskanal wie dem Fernsehen eben möglich ist. Sobald man dann via Social Media darauf Bezug nimmt und die Macherinnen und Macher des Werks dies als Würdigung erfahren, wird ja tatsächlich ein Dialog daraus.)

Einschub: Radikal Unverfügbares

Unverfügbarkeit ist Kriterium für eine Resonanzbeziehung, aber radikal Unverfügbares entzieht sich jeder Beziehung. Es kann mich niemals anhören, ist nicht erreichbar, ich kann ihm gegenüber nicht (selbst-) wirksam werden.

Lovecrafts Erzähler wie auch seine Erzählungen, die erwähnten Bücher und Dokumente und erst recht die geschilderten Wesenheiten sind ja ausgesprochen unzuverlässig. Es gibt in diesem Erzähl-Universum keine Fixpunkte, an denen man so etwas wie Wahrheit festmachen könnte. Jede erzählte Begebenheit, jede scheinbare Wahrheit steht sofort unter Verdacht. Daher gibt es am Mythos innerhalb der Erzählwelt überhaupt nichts, was nicht radikal unverfügbar wäre. Nun stellt sich die Frage, ob die radikale Unverfügbarkeit der Inhalte des Mythos nicht einer Resonanzbeziehung entgegensteht.

Innerhalb der fiktiven Welten des Mythos kann es niemals eine Resonanzbeziehung zu diesem geben. Der Inhalt der Mythos-Bücher, des Necronomicon wie des De Vermis Mysterii, entzieht sich alleine schon dadurch jeder Beziehung, als die Lesenden durch die Lektüre wahnsinnig werden. Die einen halten dem zersetzenden Einfluss des Mythos länger stand, die anderen drehen gleich durch, aber niemand kann das „total Andere“ des Mythos hinreichend erreichbar machen, um einen Dialog zu beginnen. Dasselbe gilt für die Entitäten. Keine Protagonistin, kein Kultist kann jemals eine Resonanzbeziehung zu Azathoth oder Nyarlathotep aufbauen. (Allerdings wird zumindest Nyarlathotep sehr genau wissen, wie man die Kultistin glauben macht, dass man da etwas sehr Besonderes, Resonantes miteinander hat.)

Zu den fiktionalen Werken aber, zu deren realweltlichen Autorinnen und Autoren wie auch zu den als fiktiv erkannten Inhalten ist eine solche Beziehung freilich problemlos möglich. Die Kultistin geht am Mythos zugrunde; die Leserin kann ihn genießen.

Tentakel sind einfach cool! Die Ästhetik des Mythos

Natürlich spielt eine gewisse Ästhetik des Mythos in die Resonanzbeziehung hinein. Das merken wir vor allem da, wo die Ästhetik die Beziehung stört: Viele Mythos-Fans können etwa mit den schon erwähnten Plüsch-Cthulhus nichts anfangen. (Ich habe welche.)

Die Ästhetik des Mythos ist wichtig, um Dinge als zum Mythos gehörend erkennbar, sinnlich fassbar zu machen. Zwar sind Tentakel vielleicht auch an sich cool, aber sie werden vor allem zu einem coolen Sinn(es)-Anker, wenn wir ihren Bezug zu etwas Größerem – eben zum Mythos – verstehen.

Ohne diese sinnliche Komponente fehlt etwas. In der Literatur werden immer wieder verschiedene Sinne angesprochen, aber was die Mythos- von sonstiger Horror-Literatur unterscheidet, sind Symbole, Chiffren und Motive, die zum Kanon des Mythos gehören. In aller Horror-Literatur gibt es merkwürdige Geräusche, Gerüche und Gesichte. Aber die Tentakel Cthulhus und die flatternden Fetzen des Königs in Gelb deuten immer darauf, dass es hier noch mehr zu erkennen gibt, dass sich gerade noch etwas entzieht. Sie sind Symbole, die hinreichend bestimmt, aber eben auch hinreichend unbestimmt und offen bleiben.

Der Plüsch-Cthulhu entnimmt diese Ästhetik und transferiert sie in eine andere, kindlich assoziierte Sphäre. Vielleicht stören sich deshalb viele „serious mythos“-Fans daran. Er verwirrt die Sinnes- und Sinn-Einordnung. Und vielleicht stellt der Plüsch-Cthulhu auch einen Versuch dar, den Horror zu zähmen, verfügbar zu machen. (An diesem ästhetischen Komplex sollte ich noch weiterdenken, mir scheint das noch nicht ergründet.)

Anschlussfähigkeit der kosmizistischen Philosophie

Kurz umrissen besagt die kosmische oder kosmizistische Philosophie, die in den Werken des Mythos ausgedrückt wird: Der Mensch steht nicht im Mittelpunkt des Seins. Es gibt keine höhere, auf den Menschen ausgerichtete Intelligenz. Es gibt keinen Heilsplan, in dem der Mensch zentral oder auch nur peripher vorkommt. Die Mächte des Kosmos sind uns gegenüber vollkommen indifferent. Was die Religionen versprechen, kann in der Wirklichkeit nicht gehalten werden. Wenn es „höhere Mächte“ gibt, interessieren sie sich nicht für unsere Belange. Unser Leiden und unser Glück sind letztlich sinnlos.

„Höhere Mächte“ kamen in Lovecrafts außer-fiktionaler Meinung ohnehin nur in Form der Naturgesetze vor. Insofern sind die Gottheiten des Mythos, für die wir so relevant sind wie für uns ein paar Ameisen am Wegesrand, auch Symbole für „blinde“ evolutionäre Prozesse und mechanische Gesetzmäßigkeiten, unter deren Räder wir kommen. Der Mensch ist bedeutungslos. Dieses Motiv der Bedeutungslosigkeit passt sehr gut zum spätmodernen omnipräsenten Gefühl, abstrakten Systemen hilflos ausgeliefert zu sein. (Man denke jetzt wahlweise an die letzte Steuererklärung, den Klimawandel oder den Erfolg rechtspopulistischer Positionen in unseren politischen Systemen.)

Diese Philosophie passt auch ausgesprochen gut zu einer generell eher pessimistischen Grundhaltung. (Ist aber natürlich auch zu einem Utilitarismus oder Eudämonismus/Hedonismus anschlussfähig.) Daher überschneiden sich Mythos-Begeisterung und die Zugehörigkeit zu eher „düsteren“ Subkulturen (Goth!) oft.

Der Mythos schafft es, uns gleichzeitig eine (zuweilen schreckliche) Wieder-Verzauberung der Welt zu versprechen wie auch eine fiktionale „Erklärung“ für tagtägliche Repulsionserfahrungen. Und in Form von Geschichten und Rollenspiel dient er auch der Flucht aus dieser repulsiven Welt. Diese Weltflucht passiert zwar nur in eine noch schlimmere Welt, aber das scheint nichts auszumachen – wie auch der Erfolg von Geschichten über tragische Schicksale vor Augen führt. Und natürlich den Erfolg der im nächsten Abschnitt behandelten diversen Horror-Genres.

Resonanz und Horror

Eigentlich meint man, dass das Genre Horror als Ausdruck des Affekts Angst eher Repulsion als Anziehung, eher Entfremdung als Resonanz erzeugen sollte. Die Empirie spricht aber dagegen: Es gibt viele eingefleischte Horror-Fans, die offenbar nicht genug vom eingehegten Schrecken bekommen können.

Der Horror selbst basiert ja oft auf der Unmöglichkeit einer Resonanzbeziehung. Im Psycho-Thriller ist es aufgrund der seelischen Struktur des (Serien-) Mörders unmöglich, von diesem gehört zu werden. Für außerirdische Monster, Killer-Roboter und Zombies gilt dasselbe. Die meisten Monstren spielen auch mit unseren Begierden (besonders der Vampir kommt hier in den Sinn) und verkehren diese in ein grauenvolles Gegenbild, sie pervertieren quasi eine resonante Beziehung und formen sie um zu einer Gewaltbeziehung.

Fremdheit und Angst im Mythos

Der Mythos ist sogar noch fremdartiger. Hier sind teilweise gar keine menschlichen Interpretationen der Handlungen (?) von Entitäten und Monstren möglich. Lediglich die menschlichen Mythos-Diener, Kultisten, Hexen, Zauberer lassen Reste von Identifikation zu. Cthulhu, Yog-Sothoth und Tsathoggua aber entziehen sich jedem menschlichen Verständnis; sie operieren nicht im gleichen Sinn-Medium wie wir.

Wir können im Mythos auch die vier Grundformen der Angst wiederfinden, die Rosa in Anlehnung an Riemann und Durkheim analysiert und auf Formen der entfremdeten Weltbeziehung überträgt:

  • Das konturlose Selbst: Viele Protagonistinnen und Kultisten der Geschichte verlieren sich im Mythos, werden wahnsinnig (schizoider Typ nach Riemann).
  • Das starre ich: Der Mythos lässt die, die mit ihm in Berührung kommen (nicht: in eine echte Beziehung treten!), oft isoliert und einsam zurück und stürzt sie in Depression (depressiver Typ)
  • Die konturlose Welt: Wir können im Mythos keine Ordnung sehen, er muss uns als vollkommen chaotisch erscheinen (zwanghafter Typ)
  • Die starre Welt: Diese Dimension ist beim Mythos aus meiner Sicht am schwächsten ausgeprägt – sie beschreibt die Angst vor Überregulierung und Enge der Welt. Diese Angst ist aber oft Auslöser der Beschäftigung mit dem Mythos (hysterischer Typ)

Wie also kann ein Erzählkosmos, dessen Kern ein Marionettentheater der Ängste ist, resonanzförderlich sein?

Fiktivität der Entfremdung ermöglicht Resonanz

Wie oben schon beim Thema „radikal Unverfügbares“ ausgeführt, gelingt das natürlich nur über die (Unterstellung von) Fiktivität. Wäre der Mythos real, wäre der Spaß schnell vorbei. Die Distanzierung vom Mythos durch die Schranke Realität/Fiktion erlaubt aber eine Beziehung nicht nur zu den fiktionalen Welten, sondern auch zu deren fiktivem Inhalt.

Mythos-Geschichten sind oft ja gar keine Horror- oder Gruselgeschichten im klassischen Sinne, die von Schock-Effekten, Ekel, Brutalität oder auch von der Darstellung und Fühlbarmachung von Fürchten oder einer abstrakten Angst leben. Oft transportieren sie eher eine pessimistische oder indifferente, eben kosmische Philosophie, die sie an Wesen und Artefakten verankern. Das ist ihre Art, Entfremdung als Zentralkategorie von Horror darzustellen.

Resonanz durch die Darstellung von Entfremdung?

Vor allem in Bezug auf Punk und Heavy Metal analysiert Hartmut Rosa in „Resonanz“ (S. 495) die Eigenheit moderner ästhetischer Erzeugnisse, zunächst oder auch ausschließlich die entfremdete, repulsive Seite der Welterfahrung zu schildern, ohne diese Entfremdung gleich aufzulösen oder zu versöhnen. Nur so bleiben die Erzeugnisse glaubwürdig – auch in einer eventuell angebotenen Überwindung der Entfremdung, einer Resonanzhoffnung. Ansonsten laufen sie Gefahr, süßlich, sentimetal, „romantisch“ zu werden.

Ich füge an: Während viele Genres am Ende doch noch bei einer Auflösung, einer Versöhnung anlanden oder diese gleich einmischen, hält sich der Horror hier zurück: Er „suspendiert“ die Auflösung und die versöhnte Weltbeziehung. (Was im Fall des Mythos auch nur bedingt stimmt. Denn die Bilder von gemütlich in ihren Ohrensesseln schmökernden Gelehrten liefern ja durchaus eine Resonanzhoffnung und ein Identifikationsbild für die Lesenden.)

Wir malen, was wir fürchten

Gleichzeitig dient die künstlerische Bearbeitung von Dingen, vor denen wir Angst haben, ja auch deren Bearbeitung. Damit schafft sie Möglichkeit zur Anverwandlung von repulsiven Irritationen aus unserer Umwelt. Das könnte schon seit frühester Vorzeit ein bedeutender Treiber von Kultur gewesen zu sein, wenn man John Cage glaubt (bei ca. 2:05 Minuten). Ich weiß nicht, was gegenwärtige Anthropologinnen und Anthropologen von der These halten, dass „primitive people“ sich an „animals that frightened them“ gewöhnten, indem sie sie malten, aber ich finde sie überzeugend. (Auf das Cage-Interview wurde ich übrigens durch eine Disquiet-Junto-Aufgabenstellung aus dem Juli aufmerksam.)

Insgesamt können wir festhalten: Die Grundverhältnisse Angst/Furcht und Entfremdung vs. Begehren/Bedürfnis und Resonanz sind eben nicht ganz starr. Es gibt ein Bedürfnis nach dem Fürchten und eine Furcht vor dem Begehrten.

Fazit

Lovecraft rettet uns den Horror ins materialistische Zeitalter und (er-)findet dafür etwas haltlos Schreckliches. Der Mythos transportiert, im Kern, eine radikale Weltsicht, die den Menschen seiner Bedeutsamkeit beraubt. Er stellt Entfremdung in der vielleicht radikalsten Form dar, wie sie die (Pop-) Kultur kennt. Trotzdem und gerade deswegen kann daraus, in der ästhetischen Bearbeitung und der Anverwandlung durch Rezipierende, eine Resonanzachse entstehen.

Der Mythos ist an vielen Stellen als sehr offene Erzählwelt angelegt, die unzählige Anschlüsse erlaubt. Dabei bleibt er aber konkret genug, um eine Identität mit sich zu haben. Das schafft er durch einen faszinierenden Symbol-Kanon. Das erlaubt horizontale und vertikale Resonanzachsen. Und es stellt sicher, dass der Mythos und seine Anhängerinnen und Anhänger sich stets weiterentwickeln, verwandeln können.

8 Gedanken zu „Cthulhu-Mythos: Warum „resoniert“ der kosmische Horror? (Resonanzreflexion)“

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