Weird Harmonies (3): Eine Typologie übernatürlicher Musik im Cthulhu-Mythos

They danced insanely to the high, thin whining
Of a cracked flute clutched in a monstrous paw,
Whence flow the aimless waves whose chance combining
Gives each frail cosmos its eternal law.
H.P. Lovecraft: Fungi From Yuggoth (1929/30)

In den vergangenen beiden Artikeln haben wir drei Stories analysiert: Lovecrafts „The Music of Erich Zann“ (Teil 1), Duane Rimels „Music of the Stars“ und Brian McNaughtons „Mud“ (beide in Teil 2). Damit haben wir genug Material gesammelt, um uns unseren Themenfragen zu widmen: Was macht die Musik als Element von Mythos-Stories aus? Wie lässt sich Mythos-Musik typologisieren? Was ist der Idealtypus einer Mythos-Musik?

Mythos-Musik: Eine Typologie in 14 Thesen

Das Folgende ist ein loser Katalog von Thesen und Erkenntnissen über Mythos-Musik. Eine tiefergehende Exploration und Anwendung auf konkrete Geschichten schließe ich unten an. Die folgenden Punkte sind quasi auch das tl;dr der gesamten Artikelreihe.

  1. Die Musik im Mythos ist schwierig oder gar nicht beschreibbar.
  2. Sie hat trotz oder gerade wegen ihrer Unbeschreibbarkeit verschiedene Wirkungen in der Welt, vor allem eine psychologische und eine magische.
  3. Wenn eine Beschreibung der Musik vorkommt, umfasst sie meistens Parameter wie Tonhöhe, Timbre, „unerhörte“ Harmonien, seltsame Rhythmen. Die primäre Wirkung der Beschreibung ist ein Gefühl der Entfremdung bei Lesenden.
  4. Mythos-Musik wird häufig von einem Instrument hervorgebracht, das von einem Menschen gespielt wird.
  5. Die Musik ist ein akustischer Reiz, wird aber oft begleitet von visuellen, seltener olfaktorischen Sinnesreizen und multisensorischen Trübungen.
  6. Die Mythos-Musik hat auf ihre Schöpferinnen, Interpreten und Zuhörenden auch eine soziale Wirkung der Isolation, Absonderung und des „Ausstiegs aus der Gesellschaft“. Das eint sie einerseits mit anderen Wirkungen des Mythos, aber auch andererseits mit stereotypen Wirkungen des Kunstschaffens.
  7. Häufig sind die reinen „Kompositionen“ (also die erdachte/notierte Musik) gar nicht an sich wirksam. Erst im Zusammenspiel von Instrument(en), Komposition und eventuell Übernatürlichem, also in der Aufführung, entsteht die eigentlich „wirksame“ Mythos-Musik.
  8. Wie alle Musik ist Mythos-Musik flüchtig, im Wesentlichen nur im Moment der Aufführung erfahrbar.
  9. Ob die Mythos-Musik zu vervielfältigen ist (auf Tonträgern, in Netzwerken etc.), variiert von Geschichte zu Geschichte. Generell ist hier vor allem der technische Stand der Realität zum historischen Setting der Geschichte entscheidend.
  10. Musik im Mythos ist nicht gegen andere Artefakte oder Entitäten austauschbar, so wenig ein Gott gegen ein Buch oder ein Kult gegen ein Monster ausgetauscht werden kann.
  11. Es geht selten um „apollinische“ Musik, also nicht um strenge Form und Kompositionsschemata; allermeistens geht es um dionysische Musik.
  12. Mythos-Komponistinnen und -Komponisten sind ein Pendant zu Forschenden – ein bisschen Archäologin, ein bisschen Chemiker. Sie sind gleichzeitig natürlich Kunstschaffende.
  13. Durch die Darstellung eines körperlich-sinnlichen Eindrucks, der aber aus geistig-kompositorischer Betätigung rührt, werden alle Wahrnehmungsebenen des Menschen angesprochen: von den Trieben über die Emotio bis zur Ratio. Sie weist symbolisch aber darüber hinaus auf Unnennbares und Unerfahrbares.
  14. Mythos-Musik muss musikalisch genug sein, als Musik durchzugehen, aber fremdartig und „unmusikalisch“ genug, um Faszination, Verwirrung und vielleicht auch Repulsion zu erzeugen.

Detailanalysen

Im Folgenden gehe ich auf diverse „Sub-Thesen“ des obigen Katalogs ein und diskutiere die Thesen noch etwas weiter, teils mit Bezug zu weiteren Stories. Im vierten Teil der Reihe versuche ich mich noch an einem Überblick über die verschiedenen Geschichten, die mir als Quelle gedient haben.

Unsagbarkeit

  • Die Musik im Mythos ist schwer oder nicht beschreibbar.
    • Das liegt auch, aber nicht nur am musikalischen Unverständnis der (meisten) Protagonisten.
    • Es liegt vor allem an ihrer prinzipiellen Unverständlichkeit für den „normalen“ menschlichen Geist.
    • Daran schließt ein Unsagbarkeitstopos an. Explizit oder implizit sagen uns die erzählenden Charaktere, dass sie uns etwas nicht sagen können, und verweisen dabei immer auf das Unnennbare, the Unnamable oder Unknown, oder mindestens ein Versagen der Sprache. (Man vergleiche das mit dem Topos in anderen Ausprägungen der romantischen Traditionslinie. Wagner etwa meinte, dass Musik da anfange, wo die Möglichkeiten der Sprache enden. Bei Erzählungen über Musik entsteht also eine doppelte Unsagbarkeit: Die Sprache versagt, die Musik setzt ein; in diesem Fall aber nur sprachlich vermittelt – und damit doppelt scheiternd.)
    • Die Musik ist vermutlich auch innerhalb der Fiktion nicht wirklich hörbar, oder nicht hörbar, ohne davon wahnsinnig zu werden. Wer sie gehört hat, kann also nicht mehr als „zuverlässige“ Erzählfigur bestehen; wer sie nicht gehört hat, kann nichts über sie sagen, nur über ihre Wirkung auf andere.

Der Erzähler in „The Music of Erich Zann“ betont seine musikalische Unbildung; auch der Erzähler von „The Music of the Stars“ stellt seine musikalischen Fähigkeiten zumindest als deutlich schwächer dar als die seines Freundes Baldwyn. Dieses Motiv zieht sich durch viele weitere Mythos-Stories rund um Musik: Der Erzähler von S. M. Raineys „Threnody“ (s.u.) sagt, er sei „not well versed in musical theory“. In „The Legacy of Erich Zann“ von Brian Stableford gibt der amerikanische Dupin-Sidekick (ein Alter Ego E.A. Poes?) zu, dass er bedeutend weniger von Musik versteht als Dupin (und natürlich auch von allem anderen).

Da, wo Protagonistinnen und Protagonisten etwas von Akustik oder Musiktheorie verstehen, hilft ihnen dies meist nicht weiter: Sogar der Erzähler von „Mud“ kämpft damit, die Musik zu fassen. Obwohl er musikalisch gebildet ist, kann er nicht genauer bestimmen, was das Vogellied von „La Folia“ unterscheidet. (Zugegeben: Das mag auch an der musikalischen Bildung McNaughtons liegen.) Lila Woods in E.A. Lustigs „The Enchanting of Lila Woods“ (in „Song of Cthulhu“) kennt sich zwar mit (Computer-) Akustik aus, kann aber dennoch die Wirkungen verschiedener Musiken in der Geschichte nicht einordnen.

Die größte Musikkompetenz, die ich in den Geschichten feststellen konnte, lag beim Erzähler von Tom Piccirillis „Water Music for the Tillers of Soil“ (1999, ebenfalls in „Song of Cthulhu“). In dieser postapokalyptischen Horrorgeschichte komponiert und dirigiert besagter Erzähler eine Sinfonie für den endgültigen Weltuntergang und bootet dabei sogar seine Dirigenten-Konkurrenz aus. Seine Meisterschaft über die Harmonien des Mythos verschiebt ihn aber eigentlich vom „Ersatzbeobachter“ hin zu einem Mythos-Wesen oder Kultisten. In Rollenspielterminologie: Er ist kein Spielercharakter mehr, sondern ein NSC.

Wirkungen der Mythos-Musik

  • Sie hat trotz oder gerade wegen der Unbeschreibbarkeit verschiedene Wirkungen in der Welt, vor allem eine psychologische und eine magische.
    • Sie hat psychische und psychologische Wirkungen.
      • Vor allem entwickelt sie oft eine starke Sogwirkung auf die Erzählenden (die „surrogate observer“), durch deren Ohren wir die Geschichten erleben. Sie kann hypnotisieren und sirenengleich becircen.
      • Gleichzeitig hat sie eine beunruhigende Wirkung auf die menschliche Psyche, wirkt fremdartig und verstörend.
      • Diese beiden Wirkungen stehen in einem Spannungs- und Wechselverhältnis. Es geht sozusagen immer um die beiden Grund-Triebfedern des Handelns: Lust und Angst, Eros und Thanatos usw.
    • Die Mythos-Musik hat zudem eine übernatürliche, magische Wirkung.
      • Diese beruht nicht immer und nicht nur darauf, dass das verwendete Instrument ein magisches Artefakt oder der Interpret ein Zauberer ist. Das Geheimnis liegt meist (auch) in den „Frequenzen“, den „Noten“ oder den „Harmonien“ – ist also ein musikalisches.
      • Die Wirkung umfasst Schadenszauberei, Kommunikation mit übernatürlichen Wesenheiten, deren Beschwörung oder auch deren Bannung.
      • Vielfach sind die Wirkungen auch nicht klar zuzuordnen.
    • Durch evozierte Emotionen, vor allem Entfremdungsgefühle, hat die Mythos-Musik daher auch Auswirkungen auf die Lesenden.

Zu den teils anziehenden, teils abstoßenden Wirkungen auf Protagonisten der Geschichten wurde bereits in den Analysen das Meiste gesagt. Aber noch einmal zusammengefasst: Die Musik, gerade auch die dissonante, zieht die Erzählenden der Geschichten magisch an, verstört sie gleichzeitig und stößt sie ab. Das ist recht leicht mit den Emotionen der Lesenden zu parallelisieren: Horrorgeschichten scheinen Lust und Angst, Begierde und Furcht, Faszination und Ekel so zu kombinieren, dass ein (mindestens für Fans des Genres) eher resonantes als repulsives Geschehen entsteht. (Vgl. dazu auch Resonanz und Horror.)

Magische Wirkungen

Die wichtigsten magischen Wirkungen der Musik sind ähnliche wie bei anderen Ritualen und Zaubern des Mythos. Allen voran stehen Beschwörungen (Evokationen, Invokationen, Kommunikationen) auf dem Programm, häufig von Großen Alten wie Shub-Niggurath, Nyarlathothep oder Anbetungen Azathoths.

Ebenfalls recht häufig kommt Schadenszauberei zum Einsatz – meist mit gravierenden Folgen für die Zuhörenden. In „The Last Show at Verdi’s Supper Club“ (1992, Stephen Mark Rainey, enthalten in der Anthologie „Song of Cthulhu“) ist der Protagonist offenbar von einer Mythos-Wesenheit besessen, die ihn alle paar Jahre oder Jahrzehnte zwingt, in einem grausigen musikalischen Ritual seine „Freunde“ zu opfern. Der Mythos-Bezug rührt hier vor allem aus der Zugehörigkeit zu besagter Mythos-Anthologie.

Bannzauberei bzw. Exorzismen kennen wir bereits von Erich Zann: Er mag das Wesen, das hinter seinen Fensterläden lauert, beschworen haben, aber seine Musik dient vor allem dessen Beruhigung. Auch in der Geschichte „The Enchanting of Lila Woods“ weckt Musik einen Avatar Shub-Niguraths auf, dient aber auch zu dessen Besänftigung.

Wo wir gerade bei Shub-Niggurath sind: Pervertierte orgiastische Fruchtbarkeitsriten oder schlichte Orgien der Zerstörung spielen immer wieder eine Rolle, zum Beispiel in „The Next Big Thing“ (2000, Rob Suggs, in „Song of Cthulhu“) in Form eines Musikfestivals. Dieses endet in einer Art Bürgerkrieg in Arkham, im Zuge dessen es zu Mord, Kannibalismus, Vergewaltigung kommt. Siehe hierzu auch die These zur dionysischen Musik.

Eine weitere Wirkung, die sporadisch zum Einsatz kommt, ist psychologische Kriegsführung, vor allem durch Trommeln. In der passend „Drums“ genannten Geschichte von William R. Trotter (2001, ebenfalls in „Song of Cthulhu“ enthalten) setzt ein Tcho-Tcho-Stamm einer Militäreinheit mit Trommeln zu. Das Trommeln dient letztlich auch der Beschwörung von Dholen und einem Avatar Chaugnar Faugns (?), aber die vorherige Primärwirkung ist Zerrüttung und Angst.

Beschreibung der Mythos-Musik

  • Die Beschreibung der Musik umfasst meistens Tonhöhe, Timbre, „unerhörte“ Harmonien, seltsame Rhythmen, um ein Gefühl der Entfremdung zu erzeugen.

Das Vokabular zur Beschreibung von Mythos-Musik ist generell sehr farbig, aber meist auf die Schilderung von Fremdartigem, Dissonantem, Repulsivem fokussiert. Insbesondere sehr tiefe und sehr hohe Lagen werden betont, also die Stimmlagen, in denen menschliche Sprache nicht operiert. Tiefe Töne werden oft als Brummen beschrieben und wirken weniger hör- als  vielmehr fühlbar. Hohe Töne, etwa das Pfeifen der Flötisten Azathoths, wird oft als schrill beschrieben.

Ein schönes Beispiel stammt aus „The Plain of Sound“ von Ramsey Campbell (1964, auch in „Song of Cthulhu“). Campbell, großer Freund und Sammler klassischer und romantischer Musik, schildert darin einen Wanderausflug dreier Studenten. Diese langen an ein großes, freies Feld mit einer einsamen Hütte an und hören dort grauenhafte Musik,

incessantly fluctuating through three notes. Behind it were other sounds; a faint bass humming […] and others – whistlings and high pitched twangs[.]

Timbre

Das Timbre, die Klangfarbe der Töne, ist oft unwirklich oder unmenschlich (ätherisch, synthetisch, animalisch). Mythos-Kompositionen greifen auf ungewohnte oder unmögliche Klangfarben zurück. Wo es Vergleiche mit realer Musik gibt, werden oft neue und wilde Klangzusammenstellungen beschrieben, so etwa wiederum in „The Next Big Thing“ von Rob Suggs. Der Autor erfindet hier eine neue Musikrichtung, „Rant“ (to rant = schimpfen, toben, poltern):

Rant bands usually have two lead singers, one who is called a chanter, kind of descended from the rapper. […] The other singer, the wailer, serves as an extra musical instrument. [The] voice can be bluesy, ethereal, maybe even melodic – but more often eerie and disturbing. The singers are accompanied by bands of various combinations, but percussion is by far the most important element.P rimal, thundering rhythms are key.

In der Aufführung klingt das dann u.a. so:

The drums and percussion were now pounding furious counter-rhythms. Guitars and sythesizers soared to acoustic clashes.

Mikrotonalität und „ungewöhnliche“ Stimmungen

Wie die letzte These des o.g. Katalogs betont, muss aber auch immer ein harmonisch fassbares Gegengewicht vorliegen, das die Dissonanzen und das Ungewohnte überhaupt erst zur Geltung bringt. Die Auguste-Dupin-Geschichte „The Legacy of Erich Zann“ von Brian Stebleford behilft sich hier mit dem Trick, dass die Geige, ein Erbstück von Erich Zann, mitten im Spiel selbstständig ihre Stimmung ändert, also ein spontanes, selbstständiges Scordatura durchführt.

Tonale Verschiebungen spielen auch im Asberry-Zyklus von Stephen Mark Rainey eine Rolle. Den Geschichten liegt ein neues Mythos-Buch zugrunde, „The Spheres Beyond Sound“ von einem Maurice Zann, dessen Verbindung mit Erich Zann niemals ausgesprochen, aber vorausgesetzt wird. Der Zyklus umfasst die Geschichten „Threnody“ (1987), „The Spheres Beyond Sound“ (1988), „Fugue Devil“ (1992) und „The Devil’s Eye“ (1996), wobei nur die beiden erstgenannten sich explizit und zentral mit Musik auseinandersetzen.

Im erwähnten Mythos-Buch findet sich eine Anleitung, wie man eine Gitarre passend „verstimmt“: auf Des, Ais, E, His, C, Es. (Das ergibt natürlich keinen Sinn, wenn wir von unserer modernen gleichstufigen Stimmung ausgehen – die vierte und fünfte Saite wären beide auf C gestimmt; vielleicht ist das ein Lapsus des Autors, ein Witz oder es ist bedeutungstragend im Sinne einer fremdartigen Stimmung. Da S. M. Rainey in Collegetagen Gitarre gespielt hat, vermute ich letzteres.)

Die Frage, welche Harmonien und Timbres als fremdartig und ungewohnt erscheinen, ändert sich naturgemäß auch mit den Hörgewohnheiten. Daher sind die Beschreibungen und Vergleiche in „The Music of the Stars“ andere als bei späteren Mythos-Musik-Geschichten. In unserer heutigen Musikwelt, in der es ganze Playlists mit mikrotonaler Musik auf Spotify gibt und die merkwürdigsten Mikro-Rhythmen sogar im Pop akzeptiert werden, muss man sich naturgemäß weiter aus dem Fenster lehnen. Von den möglichen Klangfarben dank verschiedenster Synthesewege (modular, additiv, subtraktiv, frequenzmodulierend, ringmodulierend, …) gar nicht zu reden: Uns kommt kaum noch etwas fremd und unerhört vor.

Form und Genre

Wir haben uns hier noch nicht mit musikalischer Form auseinandergesetzt. Meistens fällt diese aber auch relativ schnell in sich zusammen: Es gibt nahezu kein Mythos-Musikstück, das bis zum Ende (falls es ein solches überhaupt gibt) gespielt wird. Im Asberry-Zyklus wird das dämonenbeschwörende Stück „Fugue“, also Fuge genannt, und auch, was Erich Zann dem Erzähler vorspielt, nennt dieser eine Fuge. Im letzteren Fall handelt es sich aber ja gerade nicht um die Mythos-Musik. Zum Fugen-Begriff äußert sich Stephen Mark Rainey in einem Interview:

A few of my stories either directly or indirectly relate to each other, and “Fugue Devil” — a novelette I wrote in 1991 — shares its history with several other of my tales in which music plays a distinctive, supernatural role. A fugue struck me as the perfect musical means of “summoning” the particular entity at the center of the novelette. So “Fugue Devil” it became.

Was sich vielleicht festhalten lässt, ist dass die Stücke nahezu alle eben keine klassische musikalische Form (Song, Sonate, Tanz) abbilden, sondern durch Länge, Wiederholung, dauerhafte Improvisation oder ein Ende mit Schrecken alle hergebrachte Form sprengen.

In den wenigsten Geschichten haben wir eine klare Genrezuordnung, sieht man vom fiktiven Genre „Rant“ in „The Next Big Thing“ ab. Einige Musik in neueren Geschichten ist grob dem Rock („Last Show at Verdi’s Supper Club“, S.M. Rainey; „How Nyarlathotep rocked our World“, Greg Nicoll), Metal oder Industrial zuzuordnen, ab und an auch dem Gothic („Paedomorphosis“ von Caitlin Kiernan). Das meiste lässt sich aber eher der Orchester- oder Kammermusik zuordnen, vielleicht auch der experimentellen elektronischen Musik. (Ich warte noch darauf, dass jemand einen modularen Synthesizer als Mythos-Artefakt beschreibt. Die passenden Module gibt es bereits zu kaufen.)

… not „pleasant, soothing, or even vaguely harmonic“

Die Musikwissenschaftlerin Isabella van Elferen fasst zusammen:

H. P. Lovecraft’s stories contain many allusions to and descriptions of sound, but none are pleasant, soothing, or even vaguely harmonic.

Durch derartige Beschreibungen hat die Mythos-Musik letztlich auch eine verstörende Wirkung auf die Lesenden.

Klingt Mythos-Musik anders als andere Horror-Musik?

Eine der m.E. besten modernen Horror-Kurzgeschichten rund um Musik ist Thomas Ligottis „Music of the Moon“ (1987). Sie handelt von einem Insomniegeplagten, der nachts durch die Stadt streift und dabei fast einem unerhörten Konzert lauscht. Fast, weil er sich aus Angst dazu entschließt, es nur durch eine Tür anzuhören, statt sich ins Publikum zu setzen. Die Musik wird hier so beschrieben:

At first there seemed to be only a single note wavering alone in a universe of darkness and silence, coaxing its hearers to an understanding of its subtle voice, to sense its secrets and perhaps to hear the unheard. The single note then burst into a shower of tones, proliferating harmonies, and at that exact moment a second note began to follow the same course; then another note, and another. There was now more music than could possibly be contained by that earlier silence, expansive as it may have seemed. Soon there was no space remaining for silence, or perhaps music and silence became confused, indistinguishable from each other, as colors may merge into whiteness.

Diese Musik hat keine dissonanten, unangenehmen oder repulsiven Wirkungen; sie ist nur fremdartig und allumfassend. Eine spannende Anschlussfrage für weitere Forschung ist daher, ob es eine Tendenz gibt, dass Mythos-Musik einheitlicher als verstörend oder entfremdet dargestellt wird als Musik in anderen Horror-Geschichten.

Einen weiteren Themenkomplex möchte ich hier nur anreißen: Beispielsweise in den Sagen des klassischen Altertums und in romantischen Erzählungen kommt immer wieder ein Motiv vor, das ich stellvertretend als Sirenenmotiv bezeichne. Magisch anziehende Musik (oft von weiblichen Wesenheiten hervorgebracht) reißt die Zuhörenden (klassisch: Männer) in ihr Unglück (Sirenen, Loreley etc.). Oft ist das Verhängnis schlicht die See oder das Wasser. Tiefe und elementare Gewalten, die ja auch klassisch weiblich assoziiert werden, lassen hier (ähnlich beim unheimlichen, düsteren Keller) recht einfach psychologische oder psychoanalytisch Deutungen zu.

Randnotiz: Eine ungemein fesselnde (im doppelten Sinn!) Interpretation des Sirenenmotivs gibt es im Finale der dritten Staffel von „Love, Death and Robots“ (Serien-Rezension), Jibaro. Das Motiv wird dadurch innovativ uminterpretiert, als der Protagonist gehörlos ist – und damit für den Sirenengesang unempfänglich. Das spielt sicherlich auch in eine männlich-rationale vs. weiblich-sinnliche Symbolik, die zudem durch Gold gegen Eisen, Wasser gegen Land ergänzt wird. 15 Minuten, die sich lohnen!

Instrumentierung

  • Mythos-Musik wird häufig von einem Instrument hervorgebracht, das von einem Menschen gespielt wird.
    • Dennoch klingt sie oft polyphon oder orchestral, als wäre sie von einem ganzen Ensemble hervorgebracht.
    • Es gibt auch zahlreiche Beispiele für Bands, Ensembles oder Orchester. Solo-Interpretierende sind aber der (schwache) Regelfall, in jedem Fall aber ein eigenes Motiv, das eng mit dem Genie-Gedanken verwoben sein dürfte.
    • Musik, die ohne menschliche Beteiligung (z.B. von Mythos-Wesen) erzeugt wird, kommt vor, ist aber eher die Ausnahme.
    • Die Musikinstrumente werden teilweise, aber nicht immer als (magische) Artefakte verstanden.

In der Wahl der Mythos-Musik-Instrumente sind viele Autoren eher traditionell geprägt: Flöten, Geigen, Gamben, Gitarren; aber eben auch die experimentelle „Lunachord“ aus „The Music of the Stars“. Was sich aus heutiger Sicht als Instrument geradezu aufdrängt, ist der Synthesizer. Moderne Synthesizer können nahezu beliebige Änderungen der Klangfarbe in beliebigen zeitlichen Verläufen realisieren. Ihre Stimmung ist auf Hertz oder Cent genau einstellbar. Sie lassen sich als Rhythmus-, Melodie- und Akkordinstrument benutzen. Und sie sind während des Spiels manipulierbar. Damit sind sie einzigartig geeignet, verfremdende Effekte und ungewohnte Klänge zu produzieren. Zusammen mit Effektgeräten (um nur ein paar zu nennen: Reverb, Delay, Stretching, Detune, Fuzz) ist die Palette von „mythosähnlicher Klangerzeugung“ unendlich. Nimmt man noch Sampling und Sample-Manipulation hinzu, ist die Vorstellungskraft der einzig limitierende Faktor.

Was die Instrumente auszeichnet, ist, dass sie oft etwas spielen, was Zuhörende nicht erwartet haben. Zanns Gambe ist weder manipuliert noch kaputt, aber spielt Töne, die ein solches Instrument nie hervorbringen könnte; Tristan Zaba interpretiert dies als Zusammenbruch der Raumzeit und der davon abhängigen Obertonreihe:

When the viol starts “emitting sounds [that no] viol could emit”, we are hearing the breakdown and reestablishment of a new harmonic series, which would completely change the timbre of the instrument and render traditional tonality (and the piece) nonsensical. (Zaba, “Pieces of Reality: Lovecraft’s Innovative Depiction of Music and Relativity”, S. 196)

Menschliche Stimme

Die menschliche Stimme spielt sporadisch eine Rolle, z.B. in „The Next Big Thing“ (s.o.): Chanter und Wailer dienen als wesentliche Instrumente der Gruppe. Auch als „gregorianisch“ beschriebene Gesänge tauchen in verschiedenen Geschichten auf, etwa in „Chant“ von Rob Weinberg (2001, in „Song of Cthulhu“). Hier lesen wir:

A chant is merely another name for an invocation[.]
In „The Enchanting of Lila Woods“ spielen mehrere, teils durch Computerakustik verstärkte, Gesänge eine zentrale Rolle. Meist sind diese Beschreibungen weniger dissonant als bei anderen Instrumenten, vielleicht, weil die menschliche Stimme ohnehin einen starken emotionalen Effekt hat, der bei anderer Instrumentierung erst durch Verstimmung und ungewohnte Eigenschaften erzeugt werden muss.

Instrumente als Artefakte

Einige Instrumente der Mythos-Musik sind klar als Artefakte erkennbar, so die Flöte in „Mud“ als Unheiligtum Shub-Nigguraths. In anderen Fällen, wie der Lunachord Baldwyns in „The Music of the Stars“, ist nicht ganz klar, ob es sich um ein Artefakt oder eine brillante Ingenieursleistung handelt. Über Erich Zanns Gambe wissen wir zu wenig, um eine Entscheidung zu treffen. Brian Stableford wird in „The Legacy of Erich Zann“ zwar suggerieren, dass es sich um eine magische, verlorene Stradivari handelt, aber dieser Setzung würde ich nicht unbedingt folgen. Gerade bei Erich Zann scheint die Mythos-Wirkung eher aus dem verschrobenen Genie Zanns zu entstammen – es ist ein kompositorisches Geheimnis, keine Artefaktmagie.

Beschriebene Sinnesreize

  • Die Musik ist ein akustischer Reiz, wird aber oft begleitet von visuellen, seltener olfaktorischen Sinnesreizen und multisensorischen Trübungen.
    • Beliebt sind ein aus dem Nichts geschaffener Nebel oder visuelle Halluzinationen.
    • Die Musik muss auch nicht aus dem Instrument erklingen, sondern nimmt oft den gesamten Raum ein oder ist delokalisiert.

Die genannten Phänomene sind z.B. in „Mud“ alle vorhanden. Der Erzähler von „The Music of Erich Zann“ erleidet ebenfalls visuelle Halluzinationen. In „The Plain of Sound“ wird (leider) die akustische Ebene durch eine Visuelle ergänzt – vielleicht, weil Ramsey Campbell ansonsten das gruselige Material ausgegangen wäre? Oder weil die reine Schilderung eines „Akustik-Kriegs“ schwer zu fabrizieren gewesen wäre?

Eine Randnotiz zu anderen Sinnen sei an dieser Stelle eingeschoben. Einige Protagonistinnen und Protagonisten verlieren spätestens im Finale ihren Sehsinn: Erich Zann genauso wie der Mönch Yergler und in folge dessen Baldwyn in „The Music of the Stars“; aber auch das Publikum in der Nicht-Mythos-Geschichte „Music of the Moon“ von Thomas Ligotti. (Letztere hat ein sehr durchgängiges Augen-Motiv.) Erich Zann ist zudem bereits zu Beginn der Geschichte stumm.

Wie das zu interpretieren ist, ist sicherlich von der jeweiligen Geschichte abhängig: Hat der Sehsinn gegenüber der Musik seine Bedeutung verloren und wird nicht mehr gebraucht? Haben wir hier ein ödipales Motiv vorliegen? Steht der Sehsinn für Rationalität, einen analytisch-trennenden Verstand, der verloren geht? Braucht Zann keine Stimme, weil er das, was er sagen wollte, ohnehin nicht mit menschlicher Sprache ausdrücken kann? Oder hat ihm der Schrecken des Mythos wörtlich die Sprache verschlagen?

Soziale Wirkung: Isolation

  • Die Mythos-Musik hat auf ihre Schöpferinnen, Interpreten und Zuhörenden auch eine soziale Wirkung der Isolation, Absonderung und des „Ausstiegs aus der Gesellschaft“. Das eint sie einerseits mit anderen Wirkungen des Mythos, aber auch andererseits mit stereotypen Wirkungen des Kunstschaffens.

Dieser Punkt hängt eng zusammen mit der These, dass sich in den Komponistinnen und Komponisten des Mythos auch die Traditionslinie des Genie-Kults fortsetzt: Das Genie ist letztlich immer einsam, ein Topos, der ja auch für Lovecrafts eigene Lebensgestaltung zentral war. Das Genie ist gleichzeitig auch verschroben und gar nicht richtig sozialisierbar.

Zur anti-sozialen Auswirkung der Musik, nämlich dem Zusammenbruch der sozialen Ordnung in reine Anomie, siehe die These zu den Wirkungen, insbesondere zu den dionysisch-orgiastischen.

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile: Zusammenspiel in der Aufführung

  • Häufig sind die reinen „Kompositionen“ (also die erdachte/notierte Musik) gar nicht an sich wirksam. Erst im Zusammenspiel von Instrument(en), Komposition, Zuhörenden und eventuell Übernatürlichem, also durch Aufführung, entsteht die eigentlich „wirksame“ Mythos-Musik.
    • Eine beliebte Interpretation der Ersatz-Beobachter, also der Erzähler, sind Obertöne, die die eigentlich „weirde“ Wirkung ausmachen.
    • Ob es sich dabei nur um den Versuch der Erzählenden handelt, dem Beobachteten einen Sinn zu geben, oder ob tatsächlich „mystische Frequenzen“ als Obertöne entstehen, ist nicht immer klar.
    • Teilweise entsteht die Mythos-Musik auch erst im Zusammenspiel eines lokal erzeugten Tons und einer „Antwort“ aus fremden Welten oder Dimensionen.

Musik ist nahezu immer eine Sache, die erlebt, gehört werden muss. Das ist uns als Lesenden der Mythos-Musik-Geschichten freilich (zum Glück!) nicht vergönnt – wohl aber den „surrogate observers“, den Erzählenden. Und bei fast allen Schilderungen wird klar, dass erst die Aufführung als Zusammenspiel von Komposition und Interpretation die Mythos-Wirkung erzeugt. Selbst notierte Musik (s. die nächste These) entfaltet ihre Wirkung erst, wenn sie interpretiert wird.

Der Erzähler von „Threnody“ hört sich eine Aufzeichnung an, die sein Großvater einst nach dem Buch „Music of the Spheres“ von Maurice Zann angefertigt hat. Zunächst scheint es sich eher um eine Sammlung von auf Instrumenten erzeugten Geräuschen zu handeln, nicht um Musik. Im Laufe der Zeit schälen sich aber „strains of some unearthly harmony“ heraus:

The harmonic overtones of the mandolin, guitar, and dulcimer were producing sounds unlike any I had ever heard, even in the most radical of electronic fusion.

Nur das Zusammenspiel, die Sym-Phonie, ermöglicht hier eine Mythos-Wirkung. Auch die „Music of the Stars“ ist nur durch das Zusammenspiel von Lunachord und den Rhythmen aus der „Chronike von Nath“ möglich, angereichert durch Melodien und Harmonien Baldwyns. Bei Erich Zann haben wir vermutlich keine notierte Musik, hier handelt es sich um eine Improvisation, aber auch sie entsteht erst durch Zann, sein Instrument und die Entität hinter dem Fensterladen, die ja auch antwortet („a shriller, steadier note that was not from the viol“).

Bei Stablefords „The Legacy of Erich Zann“ kommt noch hinzu, dass die Musik nur wirkt, wenn Zuhörende schlafen oder in Trance sind:

When we sleep, our defenses are eroded, but we have countered that erosion by the strategic forgetfulness that dispels our dreams. There are, however, states intermediate between waking and sleep, in which that physiological strategy is far less effective. We enter one such state when we listen to, and respond to, music[.]

In diesem Fall sind Zuhörende natürlich auch Teil des Mysteriums der Aufführung.

Flüchtigkeit, Notation und Vervielfältigung

  • Wie alle Musik ist Mythos-Musik flüchtig, im Wesentlichen nur im Moment der Aufführung erfahrbar.
    • Das heißt: Wir sind in der Literatur nie – im Gegensatz zu den Charakteren der Stories – mit dem „Sound-Objekt“ konfrontiert, sondern nur mit einer sprachlichen Repräsentation, einer Beschreibung. Man könnte sagen: Mit einem Rezept, um den Klang nachzubilden oder zu imaginieren; oft aber nur mit einer Beschreibung ihrer Wirkung. Das teilt sie, naturgemäß, mit allen anderen übernatürlichen Elementen des Mythos wie Büchern, Artefakten und Wesenheiten.
    • Mythos-Musik ist prinzipiell durch Notation tradierbar, aber vermutlich nicht auf herkömmliche Art und Weise. Das passt ausgesprochen gut zu moderner und spätmoderner Notationstechnik.
  • Ob die Mythos-Musik zu vervielfältigen ist (auf Tonträgern, in Netzwerken etc.), variiert von Geschichte zu Geschichte. Generell ist hier vor allem der technische Stand der Realität zum historischen Setting der Geschichte entscheidend.

Eine wichtige Ausnahme zur Flüchtigkeit sehen wir in „Mud“: Hier wabert, „droned“ die Musik endlos weiter, sogar bis in den nächsten Krieg. Vielleicht war sie auch niemals weg …

Notation?

Bei „Threnody“ wissen wir, dass in „The Music of the Spheres“ Musiknoten enthalten sind, wie auch spezifische Anleitungen zur Aufführung.

In „How Nyarlathotep rocked our World“ von Greg Nicoll (2001, in „Song of Cthulhu“) verteilt ein Avatar des kriechenden Chaos die todbringende Partitur – und lehrt den musikalisch unbeleckten Bassisten rasch noch das Notenlesen. Es scheint sich zwar um Pergament („parchment“), ansonsten aber um eine Partitur in gewohnter Notation zu handeln. (Warum es kein Papyrus ist, wissen die Äußeren Götter.)

Eine derartige Partitur gibt es aber in den wenigsten Geschichten. Erich Zann improvisiert, Baldwyn hat seine Musik vermutlich komponiert und einstudiert, der Erzähler von „Mud“ spielt aus dem Gedächtnis bzw. nach Gehör.

Algorithmen, Generative Music, Avant Garde

In „The Enchanting of Lila Woods“ scheint es eine Art Algorithmus oder Rezept zu geben, nach dem die Frauen eines Frauenhauses ihre Gesänge aufbauen. Dieses erinnert an ein Experiment, das Brian Eno in „A Year with Swollen Appendices“ in einem Essay über „The Great Learning“ von Cornelius Cardew schildert:

Cardew’s score is very simple. It is written for any group of performers (it does not require trained singers). There is a piece of text (from Confucius) which is divided into 24 separate short phrases, each of one to three words in length. Beside each phrase is a number, which specifies the number of repetitions for that line, and then another number telling you how many times that line should be sung loudly. […] The singer then moves on to the next line, choosing a new note. The choice of this note is the important thing. The score says: ‘Choose a note that you can hear being sung by a colleague. If there is no note, or only the note you have just been singing, or only notes that you are unable to sing, choose your note for the next line freely. Do not sing the same note on two consecutive lines. Each singer progresses through the text at his own speed.’

Diese Selbstorganisation funktioniert – im von Eno geschilderten Experiment genauso wie in der Geschichte. In „The Enchanting …“ wird diese Musik einen Avatar Shub-Nigguraths aufwecken, der dann erst durch eine Art Wiegenlied wieder in seinen ewigen Schlaf unter Arkham gebannt werden wird. Die Regel, nach der die Frauen singen, scheint den interkulturellen Experimenten der Betreiberin des Frauenhauses zu entstammen.

Mich hat verwundert, wie absent moderne Avant-Garde-Notation in den Geschichten ist. Wenn man sich einige Beispiele bei John Cage, Brian Eno oder Cornelius Cardew ansieht, liegt die Nähe zu Sigillenmagie und Mythos-Büchern ja direkt auf der Hand …

Bildersuche nach Enos Notation für „Music for Airports“

Vervielfältigung

Auch die Frage der technischen Vervielfältigung ist in den Geschichten unterschiedlich gelöst. In „Chant“ ist die ganze Idee der Geschichte, dass eine Gesangsaufnahme die Hitlisten stürmt, um R’lyeh aus den Fluten zu heben. Auch in „Threnody“ ist eine Aufnahme wirkmächtig: Die Original-Aufführung war zu leise gewesen und hatte nichts beschworen; als der Erzähler aber die Aufnahme so laut abspielt, dass die Anlage übersteuert, erreicht er die Lautstärke, die im Mythos-Text gefordert war. Und der „Fugue Devil“ ist aus dem Sack.

In „Paedomorphosis“ von Caitlin Kiernan (1997, in „Song of Cthulhu“) spielen auch Sound-Samples eine wichtige Rolle. Die Musik selbst scheint keine besondere Mythos-Wirkung zu haben, aber die Art und Weise, wie eine junge Musikerin an die Sound-Samples gelangt, hat durchaus Mythos-Bezug.

Bei der meisten Mythos-Musik ist aber durchaus zu bezweifeln, dass sie auch aus der Retorte wirkt. Bei „How Nyarlathotep rocked our World“ ist (wie bei Thomas Ligottis „Music of the Moon“) das Konzert das eigentliche Ritual, um das Publikum in andere Dimensionen zu entführen. Es ist fraglich, ob eine Aufzeichnung überhaupt eine Wirkung. Das Ritual in „How Nyarlathotep …“ ist zudem zeitlich an die Mondphasen gebunden, sodass es vielleicht sogar einen Unterschied machen würde, wann eine Aufnahme abgehört wird.

Der Fantasie zukünftiger Mythos-Schriftstellerinnen ist aber natürlich keine Grenze gesetzt, was Streaming-Mythos-Rituale anbelangt. Die Geschichten zeigen klar, dass neue technische Machbarkeiten auch neue Ideen gebären, wie man den Mythos in musikalische Horror-Geschichten bringen kann.

Eigentümlichkeit von Musik als Motiv

  • Musik im Mythos ist nicht gegen andere Artefakte oder Entitäten austauschbar, so wenig ein Gott gegen ein Buch oder ein Kult gegen ein Monster ausgetauscht werden kann.
    • Musik bringt eigene Erwartungen und Prägungen mit sich, musikalische Symbole reihen sich in einen eigenen Kanon ein.
    • Die Musikgeschichte dient immer wieder als Anknüpfungspunkt für mythos-musikalische Erzählungen.
    • Ein wichtiges Moment ist hierbei die Aufführung: Wäre eine Partitur bereits magisch wirksam, handelte es sich um ein Mythos-Buch. Die in den Geschichten beschriebene Musik ist aber erst durch die Aufführung als (privates) Konzert, Musical, Festival etc. verheerend.

Kompositionen als „Mythos Tomes“

Als ich den DLG-Wiki-Eintrag „Musik im Mythos“ angelegt habe, war ich mir nicht ganz sicher, wie ich ihn kategorisieren soll. Die Kategorie „Musik“ bezieht sich auf reale, hörbare Musik; hier kann das literarische Motiv (als das ich „Musik im Mythos“ vorerst begreifen will) also nicht untergebracht werden. Daher landete er dann in der Rubrik „Artefakte“ – das schien mir dem, wie ich Musik als Mythos-Motiv verstehe, am nächsten zu kommen.

Musik ist in ihrer Abstraktheit, darin, dass sie sich letztlich der Beschreibung entzieht, nicht beliebig gegen Bücher oder andere Artefakte austauschbar. Ein leuchtender Trapezoeder mag visuell schwer beschreibbar sein, erst Recht die „Farbe aus dem All“. Aber letztlich lassen sich ihre Eigenschaften dennoch besser darstellen als diejenige einer erklingenden Mythos-Musik. (Die unbeschreibliche Schwärze vor Erich Zanns Fenster ist nur deshalb ein gutes Motiv in der Geschichte, weil die Musik als Gegenpart existiert. Sonst wäre sie einfach nur abstrakt.)

Schwieriger ist die Abgrenzung zu Mythos „Tomes“, und zumindest bei notierter Musik kann diese durchaus als doppelt wirksames Buch verstanden werden. Sie ist einerseits ein Mythos-Buch, das z.B. bei der Lektüre wahnsinnig machen kann. Andererseits ist sie wie ein Mythos-Buch, das erst durch laute Rezitation, also Aufführung, ihre übernatürliche Wirkung entfaltet. Das erinnert sicher nicht zufällig an den „King in Yellow“, das Wahnsinn verbreitende Theaterstück Robert W. Chambers.

Auch der Inhalt des Necronomicon ist nur durch seine verderbende Wirkung beschreibbar.  Am Versuch, einen Auszug aus dem Necronomicon als Mythos-Geschichte zu verkaufen, scheitern in meinen Augen auch literarische Größen wie Robert M. Price mit „Ghoul’s Tale“: Der Inhalt muss unnennbar bleiben. Aber das Necronomicon als Objekt kann ich mir besser vorstellen als das Sound-Objekt der Musik des Erich Zann.

Musikgeschichte als Anknüpfungspunkt

Einen Ansatz alternativer Musikhistorie haben wir bereits in „Music of the Stars“ gesehen. In „The Next Big Thing“ von Rob Suggs finden wir zudem eine Musikgeschichte, die den Einfluss Nyarlathoteps (?) darstellt: Während die sehr frühe Musik reines Chaos war, die Zivilisation dann aber Ordnung in der Musik erschuf (Platon lässt grüßen), sorgt die Seele der Äußeren Götter im Laufe der Jahrtausende für zunehmende Eskalation, Disharmonie, Dissonanz und letztlich eine Rückkehr zum reinen Chaos (das in einer bürgerkriegsähnlichen Katastrophe endet).

Dionysische Musik

  • Es geht selten um „apollinische“ Musik, also nicht um strenge Form und Kompositionsschemata; allermeistens geht es um dionysische Musik.
    • Diese begründet eine Nähe zu Shub-Niggurath und Fruchtbarkeitskulten.
    • Selbst rational komponierte Mythos-Musik zeitigt eigentlich immer einen schrecklichen Zusammenbruch der apollinischen Struktur und Ordnung.
    • Schon im vielleicht bekanntesten musikbezogenen Bild des Mythos, dem Trommler- und Flötisten-Hofstaat Azathoths, erkennen wir ja die um Dionysos tanzenden Satyrn. Flöten und Trommeln weisen auf antike, rituelle Bezüge. (vgl. Salonia, „Cosmic Maenads and the Music of Madness“)
    • Dazu gehört die Feststellung, dass Rhythmus (und Perkussionsinstrumente) eine prominente Rolle spielen: Es handelt sich oft um Ritualmusik (die realweltlich wie auch im Mythos ja u.a. dazu dient, Trancezustände zu befördern).
    • Mit der rituellen Sphäre der Musik eröffnet sich ein ganz eigener Symbolkanon: Wir denken an Hexenzirkel, den Sabbat, die Dionysien und Bacchanalien, an orientalisch-arabische oder afrikanische Musik, Schamanismus, Stammesriten.
    • Dadurch werden Begierden wachgerufen, nach Orgien, Ausschweifungen, Drogen, Rausch.
    • Diese Symbole verweisen gleichzeitig auf eine Ur-Angst des Menschen vor der enthemmten Horde. Anomie, Massenhysterie, Bürgerkrieg, der Zusammenbruch zivilisatorischer Ordnung wird aufgerufen.

Wir haben uns über einige der dionysischen Implikationen bereits bei den Wirkungen weiter oben Gedanken gemacht. Viel mehr ist dazu auch nicht zu sagen: Es geht bei der Mythos-Musik nicht um die Ordnung und Struktur eines geordneten Kosmos, sondern um deren Störung durch das Chaos. Es führt hier philosophisch vermutlich zu weit, den Mythos abzuklopfen, ob er eher eine monistische oder eine dualistische Philosophie begünstigt. Das könnte aber ein fruchtbarer Ansatz für weitere Artikel sein: Ist das Chaos der dualistische Gegenpol zum Kosmos, oder sind die beiden in einem verwoben und die jeweilige Betonung z.B. nur eine Frage der Beobachtung?

In jedem Fall werden wir hier mit etwas konfrontiert, was man in Anlehnung an den Theologen Rudolf Otto das „mysterium tremendum“, also das Erschütternd-Göttliche, nennen kann. Dieses Göttliche steht im Widerstreit mit dem Göttlich-Faszinierenden: Wir haben hier wieder eine gleichsam anziehende und abstoßende Dualität oder Polarität. Zur weiteren Exploration dieses Gedankens empfehle ich das erste Kapitel von Eric Wilsons „The Republic of Cthulhu“ (2016, Open Access) mit dem Titel „Gods and Monsters“. Wilson schreibt hier:

As Lovecraft’s greatest critic Maurice Levy points out, the overriding aesthetic impulse of the Lovecraftian text is to induce within the post-theistic reader a sense of that primordial dread that was the hallmark of primitive religious experience, the violent and unmediated  encounter with the Wholly Other.

Der „violent encounter with the Wholly Other“ wird in frühen, „primitiven“ Religionen ganz direkt in Form von Kannibalismus, Menschenopfer usw. repräsentiert.

Die Musikschaffenden in den Geschichten

  • Mythos-Musikschaffende sind ein Pendant zu Forschenden – ein bisschen Archäologe, ein bisschen Chemikerin. Sie sind gleichzeitig natürlich Kunstschaffende.
    • Sie entdecken oder entwerfen Neues, das ungeahnte Folgen haben kann.
    • Ihre Motivation ist meistens künstlerisch, explorativ oder unklar. Neugier und Kreativität sind häufige Beweggründe. Aber auch eine direkte Mythos-Wirkung kommt als Ziel vor, ob bannend oder schadend.
    • Der realweltliche, moralische Bezug könnte lauten: Gebt acht, was ihr komponiert, und achtet die Hörenden, auf deren Gefühls-Klaviatur ihr spielt! In einer latent amoralischen, „kosmischen“ Philosophie spielt eine derartige Erwägung natürlich nur eine untergeordnete Rolle.
    • Sowohl Komponierende als auch Interpretierende werden häufig, wohl der romantischen Tradition folgend, als Genies dargestellt (Marotten und Exzentrik inklusive).
    • Unabhängig davon, wie brillant die dargestellten Musikschaffenden sind, sind es letztlich aber eher die Mächte des Mythos, die auf ihnen spielen, als umgekehrt.

Die meisten Mythos-Musik-Geschichten dürften S.T. Joshi gefallen, der schreibt:

What has been happening in weird fiction since Lovecraft is a vast reorientation of focus: ordinary people are somehow regarded as intrinsically important, and the weird phenomena are, very broadly, seen as threats to their middle-class stability. […] I do not think that weird fiction should be about ordinary people. (Joshi, „The Advance of the Weird Tale“)

Gewöhnliche Menschen sind die meisten Protagonisten der Mythos-Musik-Geschichten nicht. Viele zeigen klare Genie-Eigenschaften, mindestens aber charakterliche Absonderlichkeiten. Die Ausnahme unserer drei Hauptgeschichten ist der Cellist und Soldat in „Mud“: Er stolpert in die Geschichte hinein und muss sich dann der Mythos-Kräfte erwehren. Darüber, ob er ein Virtuose oder genialer Musiker ist, erfahren wir nichts. Die Eigenheit, als Musiker in eine Mythos-Musik-Geschichte zu stolpern, hebt ihn aber dennoch über den durchschnittlichen „ordinary middle class“ Protagonisten.

Ganzheitliche Sinnlichkeit und Symbol des Unerfahrbaren

  • Durch die Darstellung eines körperlich-sinnlichen Eindrucks, der aber aus geistig-kompositorischer Betätigung rührt, werden alle Wahrnehmungsebenen des Menschen angesprochen: von den Trieben über die Emotio bis zur Ratio. Sie weist symbolisch aber darüber hinaus auf Unnennbares und Unerfahrbares
    • Dissonanzen und Verstörungen kommen auf allen Ebenen vor: Die Entfremdung durch den Mythos ist umfassend und vollständig, vom Konkreten bis ins Ephemere.
    • Die Musik dient damit als Symbol, das auf das Unbeschreibbare (s.o. These 1) verweist, dabei aber eine „Zwischenstufe“ der Abstraktion betritt. Im Gegensatz zu einer reinen mystischen Erfahrung ist sie in Ansätzen beschreibbar, entzieht sich dann aber doch.
    • Das Unbeschreibbare ist kosmischen Ursprungs (im Sinne einer kosmischen oder kosmizistischen Philosophie).
    • Die Musik ist damit eine latent, aber nicht vollständig abstrahierte, als Sound-Objekt beschriebene Verkörperung der an sich unbeschreibbaren kosmischen Angst.

Funktion von Musik als Thema/Topos/Motiv

Musik erfüllt eine wichtige Funktion zwischen dem „unsagbaren“ Schrecken, der abstraktesten Angst (vor der Leere, vor der Angst selbst), und dem konkreten, monströsen, abgründigen, aber dennoch greifbaren Schrecken. Musik funktioniert als ein Symbol, die die abstrakteste „kosmische“ Angst in ein (flüchtiges) Erleben übersetzt.

Die vielleicht direkteste Umsetzung finden wir bereits bei „The Music of Erich Zann“: Während die krumme und schiefe Rue d’Auseil auf die krumme Statur und die schiefe Psyche Zanns verweist, verweist seine Musik auf die Dunkelheit hinter den Fensterläden. Diese Dunkelheit ist nicht direkt erfahrbar – der Erzähler versucht gar nicht erst, sie zu beschreiben („no semblance of anything on earth“). Aber durch die Zwischenebene der Musik können wir ein bisschen mehr von ihr erfühlen. (Siehe hierzu auch den Essay „The Dark Beauty of Unheard Horrors“ von Thomas Ligotti.)

Eine interessante philosophische Frage tut sich auf: Kann man eine Entität wie Azathoth als ein Ereignis interpretieren – als ein „Ritual“ oder eine Aufführung, die nicht nur von Musik begleitet ist, sondern die tatsächlich aus Musik besteht? Sphärenschwingungen wie bei Pythagoras? Die Zeile aus „Fungi from Yuggoth“ (Lovecraft 1929/30), nach der die Azathoth umgebende Flötenmusik „Gives each frail cosmos its eternal law“, deutet darauf hin. Azathoth wird hier weniger als Subjekt oder mit Bewusstsein ausgestattetes (Lebe-) Wesen, sondern eher als Automat oder „Naturkraft“ dargestellt. (Die Frage nach der Essenz Azathoths überlassen wir aber lieber reddit und /r/lovecraft. Da wird genug darüber philosopiert.)

Symbolkomplex: Sphärenmusik, Schöpfung, Kosmos, Chaos

Wenn Sphärenmusik die Ordnung des Universums repräsentiert, dann zeigt Mythos-Musik eine zentrale Störung dieser Ordnung auf. Das Symbol Musik ist hierfür einzigartig geeignet, da ihr spätestens seit der Antike eine Nähe zur kosmischen Ordnung anhaftet. Fred Lubnow fasst in „Lovecraftian Science“ zusammen:

The “Music of the Spheres” was a term that was originally used to describe the harmonic and mathematical movement of the “planets,” which in the time of Pliny the Elder, Gaius Plinius Secundus, included Saturn, Jupiter, Mars, Sun, Venus and Moon[.]
Pythagoras […] connected the planetary orbits and their associated numerical ratios with musical notes (sounds frequencies) in proportion to the length of string and its associated sound.

Die (zuweilen etwas überladene) Story „The Legacy of Erich Zann“ wartet mit einer noch komplizierteren Musik- und Geistesgeschichte auf. Hier wird aus (neo-) pythagoreischer Zahlenmystik und spätantiker Metaphysik eine ganze musikalische Ontogenese hergeleitet. Alles ist Schwingung, durchwabert vom kriechenden Chaos. (Ich vermute, hier müsste man einige philosophiegeschichtliche Quellen danebenlegen, um das Ganze zu durchdringen – oder zu entlarven.) Ich werde das Gefühl nicht los, dass der Autor hier auch gerne Schopenhauer eingeflochten hätte, was aber nicht geht, da die Geschichte um 1800 spielt.

Zwischen Musik und Krach

  • Mythos-Musik muss musikalisch genug sein, als Musik durchzugehen, aber fremdartig und „unmusikalisch“ genug, um Faszination, Verwirrung und vielleicht auch Repulsion zu erzeugen.
    • Der Ursprung aus der Musik ist meist am Anfang der Geschichte bzw. der erzählten Aufführung noch klar erkennbar.
    • Im Verlauf der Geschichte, spätestens im Finale wird die Musik zu einer unbeschreiblichen Kakophonie, zu reinem Lärm.
    • Meist mischt sich aber bereits zu Beginn Dissonanz und Entfremdung in die Musik.

Damit die Musik als Symbol funktionieren, also greifbar auf etwas anderes verweisen kann, muss sie eine gewisse Rückbindung an etablierte Hörgewohnheiten aufweisen. Diese muss sie dann aber auch brechen. Das funktioniert in manchen Geschichten einfach durch Chronologie: Das Mythos-Konzert steigert sich z.B. in „How Nyarlathotep rocked …“ oder „The Next Big thing“ von etwas annähernd Hörbarem (im doppelten Sinn) zu einer reinen Kakophonie.

Andere Geschichten setzen auf eine Durchdringung der „angenehmen“ und „vorstellbaren“ Frequenzen und Harmonien mit dem Unsagbaren, Unbeschreiblichen und Grauenerregenden (am prominentesten in „The Music of Erich Zann“).

Was macht das Spezifische der Mythos-Musik gegenüber anderer Musik im Horror aus?

Müsste ich ein Spezifikum festmachen, dann wäre es der Verweis auf das Kosmische: Unfassbares erzeugt eine andere Angst als Monster, Mörder, Maschinenwesen: es erzeugt eine Atmosphäre der Angst, ein Gefühl der Angst, eine vielleicht nur selbstbezügliche Angst. Und Mythos-Musik ist ein Motiv, vielleicht das geeignetste, um genau diese Angst darzustellen – und im besten Fall ein bisschen erlebbar zu machen.

Und wie klingt das nun? Realweltliche Musik, die der Mythos-Musik nahekommt

Versuch einiger oberflächlicher Annahmen über die Harmonie von Mythos-Musik

Bei realweltlichen Annäherungen an Mythos-Musik stehen oft „unpassende“ Harmonien im Zentrum, wenn es überhaupt eine klassisch analysierbare Harmonie gibt (was z.B. nicht in allen „Drone“-Stücken der Fall ist). Versuchen wir kurz, ein paar harmonische Annahmen aus der realen Welt auf die Mythos-Musik zu übertragen:

Zu den eher ungewohnten Klängen unserer Dur-Moll-Tonalität gehören verminderte Akkorde, insbesondere, wenn sie auf der Tonika, also dem tonalen Zentrum eines Stückes aufbauen (z.B. C° in C-Dur oder C-Moll). Wesentlich fremdartiger noch wirken übermäßige Akkorde, da sie in den Tonleitern der normalen Dur-Moll-Tonalität gar nicht auftauchen. Und auch unpassende, in der jeweiligen Skala nicht enthaltene Erweiterungen (z.B. eine b9 in Dur) wirken verfremdend – im schlimmsten Fall einfach falsch.

Butter bei die Fische: Wie klingt der Mythos?

Wir wissen, dass wir an der Antwort scheitern müssen, aber wir können versuchen, uns anzunähern. Die Antwort ist zeitabhängig: Während in den 30er Jahren Jazz und Boogie-Woogie in den Sinn kamen, ist es heute vielleicht Heavy Metal (oder Doom Metal, Grindcore, …).

Insgesamt können wir aber wohl mit einigem Recht Folgendes erwarten:

  • als „merkwürdig“, „weird“ empfundene Harmonien; Dissonanzen
  • „fremdartiger“ Umgang mit Form, Aufbau, Tempo, Rhythmus
  • Drone Music, die sich kaum verändert – Zeit und Raum stehen still …
  • religiös inspirierte Musik (Gesänge, Ritualmusiken)
  • sehr experimentelle Musik.

In die letztere Kategorie gehört z.B. die knapp 700 Jahre dauernde Cage-Aufführung in Halberstadt. Vielleicht spielt ein Flötist Azathoths ja nur alle 30 Millionen Jahre einen Ton? Das wäre für menschliche Zuhörende dann vollkommen irrelevant, weshalb die „menschliche Tradition über den Mythos“ naturgemäß auch innerhalb der Fiktion auf andere Musiken fokussiert, die vorstellbar und theoretisch hörbar sind. Oder anders gesagt: Eine Tonänderung alle 30 Millionen Jahre wäre für uns als Lesende in keiner Weise als Musik zu verstehen.

Versuche der Rezeption wurden vor allem in zwei Genres unternommen: im Heavy Metal und in der experimentelleren Ambient-Elektromusik. Zu beiden Bereichen verweise ich auf den Eintrag „Vom Mythos beeinflusste Musik“ im Wiki der Deutschen Lovecraft Gesellschaft, an dem ich eifrig mitgewirkt habe (vor allem im nicht-metallischen Abschnitt). Die passende Spotify-Playlist findet sich noch hier im Blog.

Ausblick?

Ich denke, in der Verwendung von Musik als Mythos-Story-Motiv ist noch Vieles möglich. Die Vorstellungskraft der Mythos-Schaffenden hat sich klar jederzeit vom technisch Machbaren prägen lassen. Prinzipiell am liebsten waren mir die Geschichten, die die genaue Wirkungsweise der Musik in einem Schleier der Verdrängung oder des Vergessen verschwinden ließen.

Ich warte daher nun gespannt auf eine Mythos-Story, die musiktheoretische Erwägungen aus den „Unaussprechlichen Kulten“ mit einem magischen Synthesizer und einer Verbreitung via Bandcamp verbindet. Und alle Gabber-Fans werden wahnsnnig.

Im vierten und abschließenden Teil folgt der Versuch, einen kleinen Kanon der Mythos-Musik-Stories zu liefern.

Weiter geht’s in Weird Harmonies (4): Literatur und Anhänge. Hier geht’s zum Inhaltsverzeichnis aller Artikel der Reihe.


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2 Gedanken zu „Weird Harmonies (3): Eine Typologie übernatürlicher Musik im Cthulhu-Mythos“

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