Weird Harmonies (2): „Music of the Stars“ und „Mud“

A wave of cold horror swept me as the awful melody and counter-melody rose to a higher pitch. The instrument quivered and screamed as with agony.
Duane Rimel: Music of the Stars

Im ersten Teil dieser Artikelreihe zur Rolle übernatürlicher Musik im Cthulhu-Mythos haben wir uns „The Music of Erich Zann“ näher angeguckt. Bevor wir uns der Frage nähern, wie Mythos-Musik „funktioniert“, sammeln wir noch ein wenig Material aus Primärquellen. Über die Auswahl habe ich im ersten Artikel berichtet; sie ist natürlich kontingent und könnte auch anders aussehen. Mir scheinen aber die folgenden beiden Geschichten, „Music of the Stars“ (1943) von Duane Rimel und „Mud“ (1997) von Brian McNaughton, repräsentativ für Musik als Mythos-Element.

„Music of the Stars“ (1943) von Duane Rimel

Die kurze Geschichte „Music of the Stars“ (Volltext) erschien 1943. Der Erzähler, Rambeau, berichtet darin, wieso er sich im Jahr 1940 gezwungen sah, seinen Freund Frank Baldwyn zu töten. Die beiden verband eine Freundschaft „nourished by avid mutual interests in weird music and literature“ – wobei Rambeau anmerkt, dass er sich dabei stets im Schatten Baldwyns fühlte:

Baldwyn was a pianist of great ability, and I admired the talent which dwarfed my own musical skill. The wild, weird music he loved often drove me into fits of melancholy I could not fathom. It is indeed a pity that none of those original manuscripts were saved, for many of them were classics of horror, and others so fantastic that I would hesitate to call them music at all.

Die eigentliche Geschichte setzt ein, als Rambeau seinen Freund besucht und dieser ihm von „several combinations of musical tones that disturbed him“ berichtet. Eine Kostprobe versetzt auch den Erzähler in Aufruhr:

There was a weird cascade of sound as he ran the whole-tone scales from one end of the piano to the other, followed by a series of intricate variations that startled and amazed me. I had never heard anything to compare with it; it was utterly “out of the world.”

Eine Ganztonleiter war um 1940 nicht mehr völlig „unerhört“ – Beispiele finden sich schon im Barock und in der Romantik, vor allem als Spannungselement –, aber sicherlich noch nicht so vertraut wie für heutige (Jazz-) Hörerinnen und Hörer. Trotz des Rambeau offenbar zu Gebote stehenden musikalischen Begriffsapparats versagt seine Sprache dann aber doch vor der Musik:

The strains were eerie and unearthly, and stirred the very reaches of my soul. It resembled no standard classical music such as Rachmaninoff’s “Isle of the Dead,” or Saint-Saens’ “Danse Macabre.” It was tortuous, musical madness. At last the thing ended with a crash of discord, and a strained silence fell over the shadowy room.

Die Einordnung der beiden Stücke als „standard classical music“ lassen wir hier mal unkommentiert, siehe dazu auch den Exkurs zu Rimels Essay „Weird Music“ weiter unten. Die Musik zeitigt jedenfalls Wirkung: In den Wänden (Delapore, ick hör dir trapsen!) ist plötzlich das Geräusch trippelnder Ratten zu hören. Baldwyn vergleicht sich mit dem magischen Rattenfänger von Hameln („Pied Piper“) und triumphiert:

I’m going to compose the music that makes men go mad, learn the music of the stars . . . even if I have to use special instruments to do it.

Zum „special instrument siehe unten. Rambeau will widersprechen, ist aber von der Musik und ihrer Wirkung zu sehr gebannt. Und nun folgt der erste Mythos-Bezug, mit dem der Erzähler vor den Lesenden rechtfertigt, nicht einfach das Haus zu verlassen und Baldwyn seinen Illusionen zu überlassen:

We had read that strange story of Erich Zann and the fate he met tinkering with musical threads of the ultimate void. Nor were we ignorant of the savage music with which certain tribes in Haiti summon their evil Gods.

Das Mythos-Buch: „Chronike von Nath“ und die wildesten Rhythmen

Nun werden einige Mythos-Werke wie das Necronomicon „genamedroppt“, eine Brieffreundschaft mit Lovecraft wird (zum zweiten mal) impliziert und das eigene Mythos-Buch „Chronike von Nath“ eingeführt:

On one of my rounds of book-shops in Spokane I had found, by sheer accident, an English translation of the Chronike von Nath by the blind German mystic, Rudolf Yergler, who in 1653 finished his momentous work just before his sight gave out. […] As Baldwyn gradually disclosed his scheme for composing the music of the stars, he referred again and again to passages in the Chronicle of Nath. And this frightened me, for I too had read it, and knew that it contained odd musical rhythm patterns designed to summon certain star-born monsters from the earth’s core and from other worlds and dimensions. For all that, Yergler had not been a musician, and whether he had copied the formulae from older tomes or was himself their father, I was never able to find out.

Hier haben wir lediglich eine Referenz auf „komische musikalische Rhythmus-Muster“ als einzige Beschreibung des Buchinhalts, was etwas dünn anmutet.

Die „Lunachord“

Rimel macht uns aber gleich klar, dass Baldwyn eventuelle Lücken in der „Anleitung“ durch technisches Genie kompensieren könnte:

He said the preliminary work would require solitude for a week, at least. That would give him sufficient time to decipher the sinister formulae in the ancient book, and to make adjustments on his Lunachord upstairs. He was a master technician, and had found on his instrument tonal combinations that baffled fellow musicians. Milt Herth, of radio fame, has done the same thing on a Hammond Organ, which the Lunachord closely resembles. Since a Lunachord’s tones are actually electrical impulses, controlled by fifteen dials on the intricate panel above the two keyboards, and capable of imitating anything from a bass horn to a piccolo, the variations are endless. Baldwyn estimated that there were roughly over a million tonal possibilities, although many would possess no distinction. I wondered at first how he had planned to invent such outre music on a mere piano; but here, ready-made, was the solution—a scientific achievement awaiting exploration.

Was wir hier lesen, ist die Beschreibung eines analogen Hardware-Synthesizers. Man beachte auch die Erwähnung der Hammond-Orgel, die erst 1935 produziert wurde. Aus damaliger Sicht muss ein derartiges Gerät ungeahnte und schwer vorstellbare musikalische Möglichkeiten repräsentiert haben.

Die Erstaufführung der „Music of the Stars“

Das einzige, was Rambeau auf dem Heimweg beruhigt, ist, dass er an Baldwyns Plan trotzdem noch zweifelt: „Indeed, what earthly music—i.e., musical tones audible to the human ear—could call from the gulf something totally unearthly?“ Es kommt dann aber natürlich, wie es kommen muss. (Die Geschichte ist relativ vorhersehbar, was aufgrund der Kürze aber nicht viel ausmacht.)

Nach einer Woche ist Baldwyn sichtlich gealtert, völlig verbraucht und wirkt nicht mehr ganz zurechnungsfähig. Bevor er Rambeau seine Komposition präsentiert, lässt er es sich aber nicht nehmen, eine kurze, alternative Musikhistorie zu skizzieren:

You see, at the very beginning there were two altogether different types of music—the type we know and hear today, and another one that isn’t really earthly at all. It was banned by the ancients, and only the early historians remember it. Now, the negro jazz element has revived some of these outré rhythms. They’ve almost got it! These polyrhythmic variants are close; boogie-woogie has a touch.

Auch hier wird also wieder ein rhythmisches Element betont. Einerseits passt das gut zu einem Tasteninstrument wie der Lunachord. Andererseits scheint deren Stärke ja darin zu liegen, dass sie vor allem die Klangfarbe, vielleicht auch die Tonhöhe im mikrotonalen Bereich beeinflussen kann.

Baldwyn setzt jedenfalls an, zu spielen, was den aufgebrachten Erzähler von seinem Plan abbringt, die Aufführung doch noch zu verhindern:

He had started to play, and the whispering chords silenced me quicker than a hand clapped over my mouth. I had to listen; genius will permit nothing else. […] The music swelled, following strange rhythm patterns I had never heard before and hope never to hear again. They were unearthly, insane. […] It was madness; the rhythms were older than the dawn of mankind, and infinitely more terrible. They reeked of a nameless corruption. It was evil—evil as the Druid’s song or the lullaby of the ghoul.

Und nun haben wir auch eine latente Beschreibung der Form des Stückes (Melodie und Gegenmelodie) – sowie des Timbres der Töne, die die Lunachord hervorbringt:

A wave of cold horror swept me as the awful melody and counter-melody rose to a higher pitch. The instrument quivered and screamed as with agony.

Ein Schrecken mit Ende (?)

Die beiden sind während der Aufführung plötzlich von Poltergeistphänomenen umgeben, das Dachfenster birst und die Sterne sind zu sehen. Etwas dringt in das Musikzimmer ein, „a flaming eye, a slimy tentacle, and a grisly paw extending downward“, und packt Baldwyn. Ein Gerangel bricht los, Baldwyn bricht über der Lunachord zusammen. Er kommt noch einmal zu sich, geblendet, und bittet Rambeau, ihn zu erschießen – was dieser nach einigem Zögern tut.

Nach dem schrecklichen Konzert wird Rambeau inhaftiert; die Unterlagen Baldwyns sind vernichtet:

All of Baldwyn’s manuscripts were burned—including the copy of Yergler’s evil book—by a special court order. It seems the neighbors heard the screams and the savage music.

Rambeau wartet auf seine Hinrichtung, geplagt von Reue – und wiederkehrenden Visionen des Horrors, den Baldwyn beschworen hatte …

Zusammenfassung des Musik-Motivs bei Rimel

Die meisten Eigenartigkeiten und Eigenarten der Musik, die Baldwyn spielt, sind oben bereits ausgeführt. Blicken wir trotzdem noch einmal zusammenfassend auf die Beschreibungen und Funktionen.

Beschreibung der Musik

Wie so oft wird die Musik vor allem durch ihre Wirkung auf den Erzähler Rambeau, und sekundär auch auf den Interpreten Baldwyn geschildert. Der Einfluss ist gleichzeitig hypnotisierend und verheerend – eine Melange aus Lust und Angst. Und dann hat die Musik logischerweise auch noch eine übernatürliche Wirkung: Sie beschwört etwas von den Sternen herab, das physische (mechanische, olfaktorische, visuelle, …) Auswirkungen auf den Raum und die Beteiligten hat.

Zudem erfahren wir in der Geschichte etwas darüber, wie die Musik klingt: dissonant und schrill, vor allem gegen Ende hin in den höheren Registern angesiedelt. Formal erfahren wir nur, dass es sich um „melody and counter-melody“ handelt – möglicherweise also ein kontrapunktisches Stück?

Viel wichtiger ist aber die zentrale Bedeutung des Rhythmus‘. Das Mythos-Buch „Chronike von Nath“ enthält „odd musical rhythm patterns designed to summon certain star-born monsters from the earth’s core and from other worlds and dimensions“. Die Rhythmen werden mit „negro jazz elements“ und „boogie-woogie“ verglichen, aus heutiger Sicht ein arg beschränkter Vergleich: Es gibt inzwischen Stücke mit Takten wie „1/√π/√⅔“ (No. 41a der ‘Study for Player Piano’ von Conlon Nancarrow, natürlich für ein automatisches Instrument, das Player Piano, geschrieben). Wer mehr über „odd time signatures“ lesen möchte, findet hier eine Hitliste. Und in diesem Video untersucht Adam Neely ein populäres Stück mit sehr irritierenden „micro rhythms“.

Aber zurück zu unserer Geschichte: Jazz und Boogie-Woogie mögen der weißen Mittelklasse der 30/40er Jahre als exotisch und fremdartig vorgekommen sein. Synkopen und Polyrhythmen mögen den Hörgewohnheiten widersprochen haben. Derartiges ist heutzutage in jedem zweiten populären Radio-Song zu hören, sodass man die Beschreibung tatsächlich zeitgebunden verstehen muss. (Man beachte auch den rassistischen Unterton: „They’ve almost got it!“ – hier wird einerseits angedeutet, dass die schwarze Musik beinahe furchtbare mythosmusikalische Auswirkungen gehabt hätte; andererseits, dass sie das in ihrer intuitiven Naivität dann eben doch nicht geschafft hat und auf das weiße Genie warten musste. Puh.)

Leider kann man sich dann, allen Vergleichen zum Trotz, die entstehende Musik doch nicht recht vorstellen. Wir wissen, dass sie recht schnell sein muss – vor meinem inneren Ohr zieht eine komplexe Bach-Fuge mit seltsamem Rhythmus und vielen Dissonanzen vorbei, gespielt auf einem modularen oder additiven Synthesizer. (Was Bach nicht absprechen soll, vielfach merkwürdige Taktarten und dissonante Reibungen verwendet zu haben!) Ob sich Rimel das auch so vorgestellt hat? Hat er es sich vorgestellt?

Die Notation der „Music of the Stars“

Es wird, wie meist bei Mythos-Büchern, nur angedeutet, was der Inhalt des Buches „Chronike von Nath“ ist. Klar ist, dass darin nur theoretische Überlegungen stehen – keine fertigen Partituren. Die aufführbare magische Komposition kommt nur durch a) den Mythos-Text, b) Baldwyns kompositorisches Genie und c) die klanglichen Möglichkeiten der Lunachord zusammen. Das Resultat ist offenbar aufführbar, aber nicht notierbar:

Lancaster warns me repeatedly against playing the music he’s afraid I’ve written. Actually, it can’t be written—there are no such symbols! It would require a new musical language.

Neue musikalische Sprachen (und Schriften) wurden in der Tat von der Avantgarde des 20. Jahrhunderts eingeführt. Das führt uns nun aber zu notationstheoretischen Fragestellungen, denen wir vielleicht im dritten Teil dieses Artikels nachgehen können, die hier aber den Rahmen sprengen.

Duane Rimels Essay „Weird Music“

Eine spannende Randnotiz sei an dieser Stelle erlaubt: Rimel verfasste 1936 zusammen mit Emil Petaja einen Essay über „Weird Music“ (erschienen im „Phatagraph“, Volltext bei archive.org), in dem die beiden die Geschichte „weirder“ Musik nachzeichnen:

The savage voodoo drums of Africa; the harsh strains of Oriental rhythms; the tango of South America; the classics, and even much modern jazz—are filled in varying degrees with an unmistakable weirdness.

Sie verstehen unter „weird“ nicht etwa emotionale Wirkungen (wie Trance und „Besessenheit“), sondern vor allem Melodien und Akkordwechsel „portraying fear, sorrow, remorse, or other gloomy moods of human nature“ – und sie betonen, dass „Weirdness“ in der Musik leicht erkennbar, aber schwer zu definieren sei. Das trifft auch auf unsere Mythos-Musik zu: Meist wird eine unverwechselbare Wirkung auf die Hörenden beschrieben, selten aber die Kompositions- oder Spieltechnik, die dazu führt.

In zwei knappen Absätzen zeichnen sie von Saint-Saens bis Tchaikowsky vor allem eine romantische Traditionslinie, erwähnen kurz die „Rhapsody in Blue“ von Gershwin und schließen mit der Feststellung: „it would take many volumes to cover and adequately describe all of the music of this type“.

In der „weird literature“ spannen sie den Bogen von Poes „The Bells“ (1849) über (natürlich!) „The Music of Erich Zann“ bis zu “Bells of Oceana” von Arthur J. Burks (1927, Rezension). Auch die Lovecraft-Gedichtvertonungen von Farnese (s.a. hier) sowie andere „Begleitkompositionen“ zu Weird Tales werden erwähnt.

Insgesamt macht der Essay aber eher den Eindruck, dass schnell etwas zum Thema geschrieben werden sollte – und dass insbesondere Petaja einen Bezug zu seinem damaligen hauptsächlichen Schaffensfeld, der Lyrik, konstruieren wollte:

Much weird verse is closely akin to music of the same nature–and the two are very often combined with marvelous results.

Passagen wie „reminding one of the drowsy Aoelian measures of Debussy’s Afternoon of a Faun“ legen jedenfalls eine gewisse musiktheoretische Grundbildung mindestens eines der beiden Nahe (ich vermute hier eher Rimel, aber diese Frage harrt einer Bearbeitung; Petajas „The Music-Box From Hell“, 1945, ist weniger explizit in den musiktheoretischen bezügen). Vermutlich entstammt der Essay der gleichen Phase und den gleichen Recherchen Rimels wie „Music of the Stars“.

„Mud“ (1997) von Brian McNaughton

Springen wir nun etwa 60 Jahre in die Zukunft. In Stephen Mark Raineys Anthologie „Song of Cthulhu“, von der noch zu reden sein wird, sind 18 Kurzgeschichten versammelt – alle mit mindestens losem Bezug zum Mythos und fast alle mit Musik als zentralem Motiv. Eine davon ist Brian McNaughtons „Mud“, die offenbar für diese Anthologie entstand. McNaughton ist leider bereits 2004 gestorben, weitere musikalische Stories dürfen wir von ihm also nicht erwarten. Schade: Diese Geschichte war einer meiner Favoriten während der Recherchen zu dieser Artikelreihe.

Die bei Chaosium erschienene Anthologie ist übrigens vergriffen – ich habe 70 Euro bezahlt, um dann von einem „Our price: 9.99$“-Aufkleber auf dem Cover verhöhnt zu werden … Aber das Buch war sein Geld wert.

In den Schützengräben – und im ‚Mud‘ …

Im Wesentlichen handelt es sich bei „Mud“ um eine Kriegsgeschichte in den französischen Schützengräben des (Ersten) Weltkriegs. Der Protagonist und Ich-Erzähler, im zivilen Leben Konzert-Cellist, kämpft als britischer Soldat gegen „Jerry“, also die Deutschen. (Die Verwendung des Terms „Jerry“ suggeriert bereits am Anfang der Geschichte, dass sie erst während oder nach dem Zweiten Weltkrieg notiert wird, da er erst hier zu größerer Popularität kam.)

Die Geschichte hebt an mit einer metaphysischen Analyse: Die Welt besteht nur noch aus „Mud“ – ein Begriff, den ich seiner multiplen Übersetzbarkeit (Schlamm, Schlick, Schmutz, Dreck, Morast, aber auch Kot) wegen im englischen Original verwenden werde. Die Deutschen sind nur dessen krabbelndes, alles durchseuchendes Werkzeug; der wahre Feind aber ist der Mud. Der Mud war immer da; der Krieg hat ihn nur aus einem uralten Gefängnis befreit, in das ihn „far wiser men in the dim past“ gesperrt hatten. Diese kosmische und pessimistische (aber nicht zwingend nihilistische) Metaphysik des Schmutzes erscheint während der Lektüre ausgesprochen plausibel – deutet aber natürlich auch auf einen zerrütteten Geist des Erzählers hin.

Der Aufbruch

Unser Protagonist erleidet einen Nervenzusammenbruch während eines Angriffs – was sich aber als Glücksfall herausstellt: Durch sein Zögern lockt er hunderte Deutsche in sein Maschinengewehrfeuer und wird als Held gefeiert. Er soll daraufhin, den Brief mit der Empfehlung seiner Auszeichnung in der Tasche, einige Verwundete abtransportieren.

Dabei gerät er auf Abwege: Ein Vogellied, das ihn an das musikalische Motiv „La Folia“ erinnert, führt ihn aus dem Mud – und zu einer umkämpften Stadt. Die Verwundeten, die er eskortieren soll, sterben, und auch seine Begleittruppe wird die Geschichte nicht überleben. In der Stadt angekommen, entdecken sie, dass deutsche Truppen die Bewohner massakriert haben. Die verbliebenen Deutschen werden gerade von ihren offenbar verrückt gewordenen Kameraden unter Feuer genommen, und durch diese Ablenkung gelingt es dem Rest unseres britischen Stoßtrupps, die letzten Deutschen auszuschalten.

Die Kathedrale von St. Nigoureth

Nach den Gefechten finden sie in einer Kathedrale Unterschlupf, die allerdings nicht sonderlich christlich anmutet. Stattdessen wird hier offenbar eine Fruchtbarkeitsgöttin namens St. Nigoureth verehrt. (Es wird Freundinnen und Freunden des Mythos nicht schwer fallen, zu erahnen, um welche Große Alte es sich dabei handelt.)

It seemed less an image of a saint than of an ancient fertility goddess from the Levante, all brown breasts and bum, but wearing a pair of hairy black trousers. It might have passed muster for decency if one didn’t inspect it closely, but I did, and this garment did little to cenceal her swollen pudendum. It would have done even less had the labia not been black as the surrounding hair.

Diese unheilige, latent eklige Gottesdarstellung ist zudem schwanger und bläst auf (oder saugt an) einer gewundenen schwarzen Flöte – ein ganz und gar abstoßendes Bild, und passenderweise bringen Blut und Körpersekrete der Gefallenen auch plötzlich den Mud in diese Stadt. (Vielleicht wird sich unser Erzähler durch das „Heiligenbild“ auch erst der Anwesenheit des Mud bewusst.).

Die wenigen überlebenden Briten richten sich ein provisorisches Lager ein, nähren sich von Meßwein und Brot, und inspizieren die Kathedrale – vor allem, um der Frage nachzugehen, was die Deutschen so weit hinter den französischen Linien suchen. Die Antwort findet sich in einer Krypta: Offenbar haben die Deutschen einen Bleisarg, der die widerwärtige Gottheit zeigt, ausgegraben und aufgebrochen. Sie konnten ihr Werk aber anscheinend nicht vollenden – denn das gesuchte Artefakt findet sich noch in diesem Sarg: eine schwarze, seltsame Flöte, wie auf dem Unheiligenbild zu sehen. (Man beachte die Parallelen zum Indiana-Jones-Plot „SS jagt Bundeslade“.)

Die Flöte von St. Nigoureth und ihre herausfordernde Spielweise

Nun erwartet uns eine Schilderung des Mythos-Instruments:

A dual bulb at the bottom suggested a gourd, although I believed the instrument had been carved from a single piece of very heavy, black wood. Curving upward from this, a thick shaft was perforated with holes that seemed too large and awkwardly spaced for human fingers. These were ringed with gold, and the mouthpiece was of gold, too, but that could’nt account for the value the huns had put upon it. The hole in the mouthpiece itself seemed too narrow to inject a sufficient volume of air to make music.

Die Flöte übt auf den Protagonisten – nicht aber auf seine Begleiter – eine starke Faszination aus. Er zögert allerdings, sie zu spielen, und daher versucht sich sein Begleiter Atkins daran. Statt einen Ton zu erzeugen, wirft dieser die Flöte aber angewidert von sich und behauptet, sie habe sich bewegt. Der Protagonist hat mehr Glück, und die Flöte erzeugt einen Ton – und beim Spielenden einen Schub massiver Euphorie, sodass er vermutet, die Flöte trage noch eine alte Droge oder ein Gift.

Er versucht sich dann erst an „La Folia“, merkt aber, dass die Stimmung der Flöte das Lied offenbar nicht hergibt; mit der verfremdeten „La Folia“ des Vogellieds klappt es aber. Und prompt ziehen Regen und Wind auf. Und der Erzähler bemerkt noch eine Besonderheit der Flöte: Die Musik erklingt nicht aus dem Instrument, sondern aus der Umgebung.

Der Mud kommt zurück – und die Deutschen

Die Stadt wird langsam aber sicher vom Mud erobert, und der Protagonist verliert den Rest seiner Truppe an schlammige Massen in den Straßen. Um den Kirchturm sammeln sich schwarze Wolken – ein Avatar der Göttin, und der Protagonist „had no doubt that I had called up this thing“. Gleichzeitig rückt Gefechtslärm näher: die deutsche Kavallerie, die bald beginnt, „Iä! Iä! Shub-Niggurath!“ zu skandieren.

Eine humanistische „Rettung“

Faszinierend ist die Technik und Darstellung seiner Flucht aus dem Schlamassel: Um den Shub-Nigurrath-Hymnen der Deutschen etwas Ebenbürtiges entgegenzusetzen, durchforstet er sein Hirn nach einer Melodie.

A cellist in a string quartet before the war, I had known a hundred melodies, a thousand, but none of them … and then I remembered the very last thing I had played before the Mud flowed over the world, the final Theme of Bach’s Art of Fugue. All his life he had used his work to praise God, but in that last work he had dropped the mask of Christian humility and taken all the credit with a flourish: I, Bach, a mortal man, did this.

Gemeint ist das berühmte B-A-C-H-Motiv, mit dem sich Bach auch „motivisch“ in die Musikgeschichte zu schreiben versuchte, und nur scheiterte, weil sein Tod ihn von der Vollendung dieser „Selbstbezüglichkeit“ von Werk und Künstler abhielt. Das Zitat größtmöglichen menschlich-musikalischen Genies zeitigt als Exorzismus Wirkung: Der Mud weicht zurück, und der Avatar Shub-Nigguraths zerdrückt die Kathedrale. Diese Passage ist ein gewisses schriftstellerisches Wagnis, sie könnte leicht billig, anthropozentrisch, wie ein „deus ex machina“ wirken, fügt sich aber recht nahtlos in den Motivkanon der Geschichte ein.

Der Protagonist wird wenig später in dieser Stellung aufgefunden, das Ereignis als verzweifelter Verteidigungskampf der Kathedrale interpretiert – und unser Erzähler korrigiert die Interpretation nicht. Die Flöte wurde offenbar von den Deutschen erbeutet.

Epilog: 20 Jahre später

Die Flöte hat im Deutschen Reich ihre Wirkung getan:

The sudden collapse of his (Jerry’s, Anm. DS) war machine, the famine and plague and anarchy that seized his homeland, suggested forces even more sinister than human incompetence and confusion.

Und sie wirkt fort:

And now this Hitler chap – he does tend to rave on […] about blood and soil, doesn’t he? We know what that combination can produce. I fear he may believe Germany’s last attempt to regress the human race to primal slime failed only because not enough blood was added to the mix.

Der Erzähler ist wieder als Cellist tätig. Er und andere Musiker müssen während eines Mozart-Konzerts in den Bunker, und der Gast-Violinist Fritz Kreisler erkennt unter dem Luftalarm die Vogel-Melodie mit Parallele zu „La Folia“. Als Kreisler die Melodie zu spielen beginnt, wird er vom Erzähler niedergeschlagen, der damit seine Hoffnungen auf eine weitere musikalische Karriere abschreibt. (Das mag erzählerische Freiheit sein, meinen Recherchen zu Folge war Fritz Kreisler während des Luftkriegs gegen London in den Vereinigten Staaten.)

Musik bei McNaughton

Fassen wir kurz zusammen, was wir gerade über Verwendung und Funktion von Musik in „Mud“ festgestellt haben:

Die Flöte und ihre Musik: Die Musikmotive in „Mud“

Bis zuletzt bleibt partiell offen, welchem Zweck die Flöte dient. Abgesehen davon, dass es sich offenbar auch um ein Phallussymbol handelt und mit ihr gespielte Töne magische Wirkungen entfalten, bleibt sie für mich etwas rätselhaft. Es ist nicht klar, welche Musik auf ihr gespielt werden soll, außer dem Vogellied. Und es ist nicht klar, was die Deutschen mit ihr wollen: Eine Flöte ist anders als ein Horn oder eine Posaune kein klassisches Instrument, das der Führung einer Truppe dient – die Jagd von deutschen Kultisten nach dem Artefakt dürfte daher andere als militärische Zwecke haben.

Wir wissen nicht, ob sich der Protagonist die Vogelmelodie, die ihn an „La Folia“ erinnert, nur einbildet; ob ihm die beiden Motive nur Symbole sind: ein Hoffnungszeichen der Zivilisation, des alten menschlichen Kulturerbes bzw. dessen furchtbares Zerrbild. Gegen die These, dass er sich die Melodien nur einbildet, spricht, dass am Ende der Geschichte auch Fritz Kreisler die Vogelmelodie im Lärm der Kriegsmaschinerie entdeckt.

In jedem Fall ist die Flöte offenbar in der Lage, das B-A-C-H-Motiv zu spielen und zu einer ihrem eigentlichen Wesen als Artefakt Shub-Nigguraths konträren Wirkung zu bringen. Insgesamt kann man aber festhalten, dass die Geschichte weniger die Primärwirkung von Mythos-Musik thematisiert, als vielmehr musikhistorische Bezüge als Symbole setzt und mit diesen operiert:

„La Folia“ dient als Zivilisationszeichen, als Rückbindung an europäische Kultur. Die verfremdete Melodie, die er dem Vogellied entnimmt, steht für die Perversion dieser Kulturgeschichte. Sie steht damit für den Mud und die Kriegsmaschinerie, und schließlich auch für Shub-Niggurath.

Die Deutschen singen nicht, sie skandieren, um ihrer Blut- und Boden-Göttin zu huldigen. Und schließlich kann der Erzähler (mindestens in seinem Denken) dem Wahnsinn des Krieges und des Mud J.S. Bach entgegensetzen. Das B-A-C-H-Motiv steht für humane Selbstermächtigung, egal, wie vergebens sie sein mag.

Musikdarstellung

Die Musik ist nicht in jedem Fall menschengemacht: Das Vogellied und die Melodie unter dem Luftalarm haben keinen (erkennbaren) menschlichen Auslöser, und in der Wahrnehmung des Erzählers klingt die Flötenmelodie auch ohne Spielenden fort: „that damnable tune always seemed to hover just underneath the roar of the wind and rain“. Die Musik ist delokalisiert; die erklingt nicht aus dem Instrument, sondern aus der ganzen Mud-getränkten Umwelt.

Besonderheit: musikalisch gebildeter Protagonist

Hervorzuheben ist, dass der Erzähler von „Mud“ musikalisch gebildet ist, sowohl analytisch als auch interpretativ. Er findet sich im symbolischen Dschungel der verschiedenen Motive zurecht, und nur seine musikalische Vorbildung erlaubt ihm, eine (für ihn) rettende Idee im Fugenmotiv zu finden und dieses auszuführen.

Davon abgesehen hilft uns die Bildung des Protagonisten nicht wirklich weiter: Wir werden durch seine Ausführungen nicht wesentlich schlauer und das Geheimnis der Flöte bleibt ungeklärt.

Zwischenfazit vor einer Typologie der Mythos-Musik

Wir haben nun drei Geschichten analysiert: Lovecrafts „The Music of Erich Zann“ (Teil 1), Duane Rimels „Music of the Stars“ und Brian McNaughtons „Mud“. Die Geschichten weisen einige Parallelen auf, aber auch markante Unterschiede. In jedem Fall haben sie uns dazu verholfen, im nächsten Schritt einen Katalog von Eigenheiten von Mythos-Musik-Geschichten skizzieren zu können.

Natürlich decken wir mit diesen Geschichten noch nicht das gesamte Spektrum von Techniken, Funktionen und Plots ab, die in Mythos-Musik-Geschichten Anwendung finden. Diese werden wir im Folgenden dritten Teil an passender Stelle betrachten.

Weiter geht’s in Weird Harmonies (3): Eine Typologie übernatürlicher Musik im Cthulhu-Mythos. Hier geht’s zum Inhaltsverzeichnis aller Artikel der Reihe.


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3 Gedanken zu „Weird Harmonies (2): „Music of the Stars“ und „Mud““

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