Weird Harmonies (4): Literatur und Anhänge

After (1) the declaration of indescribability, and (2) the description, comes (3) the unvisualisable. For all their detail, […] Lovecraft’s descriptions do not allow the reader to synthesize the […] adjectives into a mental image.
Mark Fisher: The Weird and the Eerie, 2016

Wir haben in den vorhergehenden Teilen einige Mythos-Musik-Geschichten näher betrachtet: „The Music of Erich Zann“ im ersten und „The Music of the Stars“ sowie „Mud“ im zweiten Teil. Im dritten wurden dann diverse weitere Mythos-Musik-Geschichten in unterschiedlichem Detailgrad besprochen, um einen Thesenkatalog zu belegen und zu erweitern, der Beschaffenheit und Funktion von Musik in Mythos-Geschichten beleuchtet.

Abschließend möchte ich noch einige Anmerkungen zu den verwendeten Quellen und weiteren Geschichten anfügen. Die erste Frage, der wir uns zuwenden, ist: Wie lässt sich überhaupt entscheiden, ob eine „Mythos-Musik-Story“ vorliegt?

Mythos-Musik-„Kanon“

Aufgrund der unterschiedlichen Beschaffenheit und Ausgestaltung der verschiedenen Geschichten ist ein „Kanon“ schwer zu erstellen. Zudem erscheinen zunehmend immer mehr Texte mit Bezug auf den Cthulhu-Mythos, sodass die Quellenlage immer unübersichtlicher wird. Und schließlich müsste man relativ rasch auch andere Verbreitungsmedien als literarische Texte betrachten: Was passiert in cthuloid inspirierten Computerspielen mit dem Motiv Musik? Wie gehen Filme, die sich mit Mythos-Musik befassen, damit um, dass diese prinzipiell nicht hör- und darstellbar ist?

Literatur, die ich von der Analyse (und damit aus meinem „Kanon“) ausgeschlossen habe

Trotzdem sind mir im Zuge meiner Recherchen einige wenige Beispiele untergekommen, die ich für mich von der Analyse ausgeschlossen habe – ein untrügliches Zeichen für einen zumindest subjektiven Kanon. Dazu zählt „The Dirge of Reason“ (Graeme Davis), eine Arkham-Horror-LCG-Novelle. Der Mythos-Bezug ist nur gegeben, da es sich um ein Supplement für ein Mythos-Kartenspiel handelt und ansonsten recht dünn. Ein Musikbezug ist allerdings durchaus gegeben, es geht schließlich um ein magisches Klagelied und einen verrückten Dirigenten. Graeme Davis ist laut ISFDB ein recht produktiver Autor von Horror und Fantasy.

Insgesamt schien mir die Novelle eher ein Spiele-Produkt als eine literarische Geschichte. Davis schreibt u.a. auch für die „World of Darkness“ und „Dungeons and Dragons“, und ich werde den Eindruck nicht los, dass es sich hier eher um Marketing-Beiprodukte für eine Spielereihe als um literarische Schöpfungen handelt. (Vielleicht liegt das auch daran, dass mir die Geschichte mit ihrem pulpigen „Wirf Dynamit auf das Mythos-Monster!“-Ende nicht gefallen hat.) Alle Arkham-Horror-Romane und -Novellen, die ich bislang gelesen habe, waren für mich als Spieler des Kartenspiels zwar amüsant zu lesen, aber ich habe sie nicht als „ernsthafte“ Beiträge zum Cthulhu-Mythos oder als „Weird Fiction“ lesen und werten können. Mir ist aber klar, dass dieses Argument sehr angreifbar ist.

Zudem nicht in die Kandidatenliste für meine Analysen aufgenommen habe ich Rollenspielprodukte. Zwar findet sich in „Arcana Cthulhiana“, dem Zauber-Quellenband zu „Cthulhu“ von Pegasus, eine ganze Reihe von musikbezogenen Zaubern; und es gibt auch Musik-Abenteuer (z.B. „The Music of the Spheres„). Für mich lag der Fokus in dieser Analyse aber auf Literatur und nicht nur auf Text.

Auch „The Legacy of Erich Zann“ von Brian Stableford fand ich unterhaltsam, aber schwierig als „ernsthafte Mythos-Fiction“ zu interpretieren. Vielmehr scheint es eine Häufung aus Motiven der Musik- und der Philosophiegeschichte, des Cthulhu-Mythos, der abendländischen Mystik; alles zusammengehalten durch Auguste Dupin und einen eher kriminalistischen Plot. Die Geschichte wurde mehrfach erwähnt, weil sie Anschlüsse für Elemente der Lovecraft-Geschichte zu Erich Zann bietet. Aber ich würde keine der Setzungen, die die Geschichte macht, in meine künftige Lovecraft-Lektüre übernehmen.

Drei Kriterien

Wenn man etwas ausschließen will, braucht man eine Definition mit ein paar Kriterien. Ich habe daher in meinen Recherchen immer mit dem folgenden Kurzkatalog gearbeitet:

  1. Die Geschichte muss klar dem Erzähluniversum des Cthulhu-Mythos zuzuordnen sein, z.B. den Kriterien Joshis folgend. Deshalb kamen „Threnody“ und Co. von Stephen Mark Rainey nicht in die zentrale Auswahl: Der Mythos-Bezug ist relativ dünn, eigentlich handelt es sich hier eher um Geistergeschichten, in denen eben auch noch ein Angehöriger der Zann-Familie erwähnt wird. (Laut Vorwort zu „Song of Cthulhu“ übrigens wohl ein Geschwister Erichs. Wieso ein deutscher Komponist einen Bruder mit Namen Maurice haben sollte, sei dahingestellt.)
  2. Die Geschichte muss ein tatsächlicher Beitrag zur Mythos-Literatur sein. Dieses Kriterium ist etwas schwammig, das ist mir bewusst, und benötigt selbst wiederum Kriterien. Eine Veröffentlichung in einer Mythos-Anthologie wie „Song of Cthulhu“, die Autorschaft durch etablierte Schreibende des Mythos (Rimel) sind auf jeden Fall hinreichende Kriterien. Das Erscheinen in einer Produktlinie eines mythos-bezogenen Spiels wie „Arkham Horror“ nicht. (Tatsächlich fällt mir dabei auf, dass ich das Spiel zwar liebe, Setzungen des Spiels alleine aufgrund der mangelnden Historizität aber nicht als Setzungen für literarische Geschichten akzeptieren würde – Stichwort „Darstellung der Geschlechterverhältnisse“: Hierbei setzt Arkham Horror immer wieder selbst heutzutage utopische Verhältnisse als Normalität der Zwanziger. Das verschenkt u.a. Entfremdungs- und damit Horror-Potenzial.)
  3. Die Geschichte muss sich zentral mit Musik auseinandersetzen. Musik darf nicht nur ein Epiphänomen, Nebenprodukt oder Atmosphäre-Tool sein. Sie muss ein zentrales Motiv oder Mythos-Artefakt sein.

Wie nennen wir das Kind?

„Mythos-Musik-Geschichte“ ist ein eher sperriger Begriff. Ich hatte überlegt, einen Begriff wie „Cthuloid Harmonies“ o.ä. einzuführen, aber der wäre zu erklärungsbedürftig – und weiterhin sperrig. „Der Zann-Zyklus“ oder „Zann Cycle“, wie Stephen Marc Rainey die Mythos-Musik-Geschichten im Vorwort zu „Song of Cthulhu“ nennt, scheint mir zu kurz zu greifen. Die ISFDB listet neben Lovecrafts Geschichte nur Fred Chappells „In the Rue d’Auseil“, Thomas Ligottis Essay „The Dark Beauty of Unheard Horrors“ sowie ein Gedicht. („The Legacy of Erich Zann“ fehlt hier.)

Ich bin daher, der Sperrigkeit zum Trotz, erst einmal weiter bei „Mythos-Musik-Geschichten“ geblieben. Einen kleinen Catch hat die Bezeichnung im Deutschen noch, denn natürlich meinen „Geschichten“ hier „stories“, nicht „histories“. Insbesondere im Singular kann das etwas verwirren.

Anhang: Liste musikbezogener Mythos-Geschichten

Kommen wir nun aber zum Korpus dessen, was ich als meinem „Kanon“ zugehörig verstehen würde. Und zwar beginne ich mit meiner „Top Ten“ der Geschichten, die mir begegnet sind. Dabei spielt der Unterhaltungswert eine größere Rolle als die Kanon-Nähe, wie man an „Threnody“ sehen kann.

Top Ten der Mythos-Musik-Geschichten

  1. Brian McNaughton / Mud  (1997)
  2. H.P. Lovecraft / Music of Erich Zann (1922)
  3. Robert Weinberg / Chant (1997)
  4. Duane Rimel / Music of the Stars (1943)
  5. E.A. Lustig / The Enchanting of Lila Woods (1997)
  6. Gregory Nicoll / How Nyarlathotep Rocked Our World (1997)
  7. Stephen Mark Rainey / Threnody (1987)
  8. Tom Piccirilli / Water Music for the Tillers of Soil (1999)
  9. Ramsey Campbell / The Plain of Sound (1964)
  10. Rob Suggs / The Next Big Thing (1997)

Alle Geschichten

Diese Geschichten wurden teilweise in den ersten drei Artikeln erwähnt, teilweise nicht:

AuthorTitleYear
Lovecraft, H.P.The Music of Erich Zann1922
Kuttner, HenryThe Bells of Horror1939
Rimel, DuaneMusic of the Stars1943
Campbell, RamseyThe Plain of Sound1964
Rainey, Stephen MarkThrenody1987
Rainey, Stephen MarkThe Spheres Beyond Sound1988
Rainey, Stephen MarkThe Last Show at Verdi’s Supper Club1992
Rainey, Stephen MarkFugue Devil1992
Rainey, Stephen MarkThe Devil’s Eye1996
McNaughton, BrianMud
Suggs, RobThe Next Big Thing1997
Weinberg, RobertChant1997
Lustig, E.A.The Enchanting of Lila Woods1997
Nicoll, GregoryHow Nyarlathotep Rocked Our World1997
Kiernan, Caitlín R.Paedomorphosis1998
Piccirilli, TomWater Music for the Tillers of Soil1999
Cave, Hugh B.Intruders2001
Smith, James RobertListen2001
Chappell, FredIn the Rue d’Auseil2001
Monteleone, Thomas F.Yog-Sothoth, Superstar2001
Berglund, Edward P.The Flautists2001
Trotter, William R.Drums2001
Meikle, WillianDark Melodies (Anthology)2012
Stableford, BrianThe Legacy of Erich Zann2012
Langan, JohnOutside The House, Watching For The Crows2016
Besson, AaronThe Black Metal of Derek Zann (in: Urban Temples of Cthulhu)2016
David, GrameThe Dirge of Reason2018

Sehr viele dieser Geschichten sind in der oft erwähnten Anthologie „Song of Cthulhu“ erschienen.

Anhang: Bücher, Essays und Aufsätze zum Thema

  • Thomas Ligotti / The Dark Beauty of Unheard Horrors (1992)
  • Duane W. Rimel & Emil Petaja / Weird Music (1936)
  • Isabella van Elferen / Hyper-cacophony: Lovecraft, speculative realism, and unheard materialism (2016?)
  • Gary Hill / The Strange Sound of Cthulhu (Rezension und Playlist)

Anhang: Mythos-Autorinnen und -Autoren mit Musik-Bezug

Bei einigen Autorinnen und Autoren sind mir Musikbezüge aufgefallen, die ich hier nicht unterschlagen möchte:

  • S.T. Joshi, der große Lovecraft-Biograph, ist auch als Komponist tätig. Beispiele: Songs from Lovecraft and Others
  • Stephen Mark Rainey hat im College Gitarre gespielt. Er hat zudem wohl auch in anderen Werken wie „Symphonia Maledictus“ Musikbezüge eingewoben (hier handelt es sich aber wohl nicht um eine Mythos-Geschichte).
  • Thomas Ligotti hat mit „Current 93“ einige Stücke aufgenommen, u.a. als Gitarrist (Wikipedia).
  • Gregory Nicoll ist auch als Musikkritiker tätig.
  • Caitlín R. Kiernan war als Sängerin aktiv.
  • William R. Trotter hat eine Biographie des Komponisten Dmitri Mitropoulos verfasst und gilt als „classical music expert and collector, owning one of the largest collections of vinyl and CD recordings in the Southeast“ (Wikipedia).
  • Ramsey Campbell gilt als Liebhaber klassischer Musik (Wikipedia).

Mit diesem Teil endet die Artikelreihe rund um Musik im Cthulhu-Mythos. Hier geht’s zum Inhaltsverzeichnis aller Artikel der Reihe.


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2 Gedanken zu „Weird Harmonies (4): Literatur und Anhänge“

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