Weird Harmonies (1): „The Music of Erich Zann“

Eventually there had been a hint of vast, leaping shadows, of a monstrous, half-acoustic pulsing, and of the thin, monotonous piping of an unseen flute—but that was all.
H.P. Lovecraft: The Dreams in the Witch House, 1932

Akustisches ist im Cthulhu-Mythos omnipräsent. Fremdartige Geräusche bauen Atmosphäre auf. Gutturale oder krächzende Stimmen deuten auf Degeneration und Verfall. Ätherische Laute suggerieren, dass etwas nicht mit den rechten Dingen unserer normalen Wahrnehmung und Reflexion zugeht.

Aber an einigen Stellen, in einigen Geschichten verdichtet sich das akustische Grauen zu einer Sinfonie des Kosmos: Musik tritt ins Zentrum, treibt die Story voran, ist Ursache, Symptom oder gar Gegenmittel des Kosmos. Wir begegnen mindestens einer dieser Geschichten bereits bei Lovecraft selbst: „The Music of Erich Zann“.

The Music of Erich Zann (1922)

In „The Music of Erich Zann“ erzählt Lovecraft durch die Augen und Ohren eines namenlosen Protagonisten eine Geschichte musikalischen Grauens. Ob die Geschichte tatsächlich zum Kern der Mythos-Stories zu zählen ist, wird gleich zu diskutieren sein.

Aber kurz zum Inhalt. Der Protagonist und Erzähler, ein „Student der Metaphysik“, wohnte während seines Studiums in einer heruntergekommenen Pension in der mysteriösen Rue d’Auseil. Mysteriös, weil der Protagonist, der die Geschichte mit einigem zeitlichem Versatz aufschreibt, diese Straße weder auf aktuellen noch auf historischen Karten noch gar in der Realität wiederfinden kann.

In seiner Unterkunft hört er sporadisch das merkwürdige, fremdartige Gambenspiel eines Musikers, den er bald darauf als seinen stummen Nachbarn Erich Zann identifizieren kann. Dieser „strange dumb man“ verzaubert ihn durch die „weirdness of his music“, sodass er beginnt, ihm nachzustellen. Zann spielt, um seinen mageren Lebensunterhalt zu verdienen, in einem drittklassigen „theatre“. Eines Abends erlaubt er dem Protagonisten, ihm danach in seiner Klause zu lauschen; er spielt aber nicht die dem Erzähler vertraute „weird music“, sondern eine harmlosere Improvisation:

[he played me] strains I had never heard before; strains which must have been of his own devising. To describe their exact nature is impossible for one unversed in music. They were a kind of fugue, with recurrent passages of the most captivating quality, but to me were notable for the absence of any of the weird notes I had overheard from my room below on other occasions.

Zann erklärt das nach einer unerfreulichen Konfrontation schriftlich:

But he could not play to another his weird harmonies, and could not bear hearing them from another; nor could he bear having anything in his room touched by another.

Der Erzähler beginnt, an Zanns Kammer zu lauschen, um die faszinierende Musik wieder zu hören. Eines Abends hört er dabei schreckliche Geräusche und auch einen „stummen Schrei“ Zanns, sodass er in die Kammer dringt. Zann ist völlig entkräftet, spielt aber von Angst getrieben immer weiter gegen etwas an, was hinter seinen Fensterläden zu lauern scheint. Er schreibt in einem fieberhaften Rausch eine vollständige Erklärung seines Geheimnisses, sozusagen einen Brief, in dem alles steht.

Als aber die Fensterläden brechen und die spärliche Beleuchtung erlischt, werden diese schrecklichen Aufzeichnungen verwirbelt. Der Protagonist tappt im Dunkeln gegen den noch immer spielenden Zann – dessen kalte Haut und dessen erstarrtes Gesicht verraten, dass er wohl längst tot ist. Der Erzähler flieht aus der Rue d’Auseil, um sie nie wieder zu betreten.

Was genau tut die Musik in dieser Geschichte?

Was hier (wie auch bei anderen Mythos-Musik-Geschichten) auffällt, ist, dass die Protagonisten (ja, eigentlich ausschließlich Männer) einen eigenen Bezug zur Musik leugnen. Der Erzähler von „The Music of Erich Zann“ sagt wörtlich:

Knowing little of the art myself, I was yet certain that none of his harmonies had any relation to music I had heard before; and concluded that he was a composer of highly original genius.

Dieser Schluss ist interessant: Der Erzähler fühlt sich von der seltsamen, fremdartigen Musik nicht abgestoßen, sondern wertet seine Befremdung, sein Unverständnis als Zeichen von Qualität.

Zann weigert sich, die „weird notes“, die „weird harmonies“ (man denkt an die „unerhörten“ blue notes des Blues und Jazz!) vor jemand anderem zu spielen, aber die Musik hat eine derartige Sogwirkung auf den Protagonisten, dass er heimlich vor der Tür lauscht.

Gegen Ende der Geschichte wird klar, was man schon die ganze Zeit geahnt hat: dass Zann mit Hilfe seiner Musik etwas zu bannen, zu beruhigen oder zu exorzieren versucht. („He was trying to make a noise; to ward something off or drown something out—what, I could not imagine.“)

Die Musik wird eher in ihrer Wirkung als in ihrer Beschaffenheit beschrieben:

The playing grew fantastic, delirious, and hysterical, yet kept to the last the qualities of supreme genius which I knew this strange old man possessed.

Sie erhält auch etwas Visuelles, lässt Bilder im Kopf des Erzähler entstehen:

In his frenzied strains I could almost see shadowy satyrs and Bacchanals dancing and whirling insanely through seething abysses of clouds and smoke and lightning.

Und schließlich wird sie sogar mit etwas verglichen, was Leserinnen und Leser nachhören könnten:

I recognised the air—it was a wild Hungarian dance popular in the theatres, and I reflected for a moment that this was the first time I had ever heard Zann play the work of another composer.

Das ist offenbar ein Fehler, denn kurz darauf ist Zann – anscheinend – tot, obwohl er weiter wie verrückt fidelt: „When my hand touched his ear I shuddered, though I knew not why—knew not why till I felt of the still face; the ice-cold, stiffened, unbreathing face whose glassy eyes bulged uselessly into the void.“

In Fred Chappells Story „In the Rue d’Auseil“ (2001) wird nicht nur die scheinbare Unauffindbarkeit dieser seltsamen Straße aufgeklärt. Er bietet zudem eine Interpretation an, wieso Zann scheinbar tot weiterspielen kann: Es handelt sich bei ihm nur um einen Roboter, einen Gamben-Automaten – offenbar ohne Sprachmodul. Das passt zu Lovecrafts Schilderung:

His blue eyes were bulging, glassy, and sightless, and the frantic playing had become a blind, mechanical, unrecognisable orgy that no pen could even suggest.

Die Anmerkung „that no pen could even suggest“ impliziert, dass die vorher von Zann gespielte Musik durchaus notierbar sein könnte – sie es nun, im Fiasko-Finale, aber nicht mehr ist.

Gehört Zann zum „Cthulhu-Mythos“?

Handelt es sich nun um eine Mythos-Geschichte? Die von Joshi aufgestellten (und hier von mir zitierten) Kriterien erfüllt sie nur teilweise. Kein Wunder, schließlich datiert sie deutlich vor der ersten „vollständigen“ Mythos-Geschichte, „The Call of Cthulhu“ (1926).

Die Story ist nicht in New England angesiedelt, sondern in Paris – allerdings in einem seltsamen Zwischenreich der Seine-Stadt, das weder auf Karten existiert noch wieder aufgefunden werden kann. Die Stadt ist, wie Joshi es in seinen Kriterien nennt, „vitally realised but largely imaginery“.

Die Geschichte referenziert weder anderweitig bekannte Mythos-Bücher noch bezieht sie sich explizit auf Mythos-Gottheiten und deren Diener. (Das kann sie historisch gesehen ja auch noch gar nicht.) Allerdings kann die Musik Erich Zanns durchaus als ein Artefakt des Mythos verstanden werden; würde sie notiert, könnte man sie als „Mythos tome“ interpretieren; und Zanns Aufzeichnungen, die der Wind (?) am Ende der Geschichte verstreut, könnten kongenial neben dem Necronomicon oder De Vermis Mysteriis stehen. Außerdem haben vermutlich die meisten Leserinnen und Leser der Geschichte eine vage Idee, welche „Gottheit“ hinter den Fensterläden warten könnte.

Das vierte Kriterium einer Mythos-Geschichte nach Joshi, „a sense of the cosmic, both spatial and temporal“, ist dagegen voll erfüllt: Das Grauen, das sowohl den Erzähler als auch den titelgebenden Charakter Erich Zann heimsucht, ist gänzlich unfassbar und unbeschreibbar. Es scheint eher eine kosmische Kraft als ein „Wesen“ zu sein.

Auch die Rezeptionsgeschichte von „The Music of Erich Zann“ deutet klar darauf hin, dass spätere Schöpferinnen und Schöpfer von Mythos-Medien sie als Teil des Cthulhu-Mythos ansahen und ansehen. Die Gambe (oder manchmal auch Violine) ist zu einem Mythos-Symbol geworden, das andere Schreibende regelmäßig aufgreifen und dabei die Setzung durch „The Music of Erich Zann“ voraussetzen und referenzieren. (Natürlich ist das Motiv des „teuflischen Geigers“ nicht nur dem Mythos eigen, sondern kommt in der Fantasy und dem Horror öfter vor.)

Was schließen wir nun daraus? Aus meiner Sicht ist die Geschichte klar Teil zumindest des erweiterten Mythos.

Noch einige lose Gedanken zu Lovecrafts Story

Die Geschichte ist enorm anschlussfähig. Nicht nur setzt sie einige neue Symbole in die Welt des Mythos, die später wieder aufgegriffen werden. Alleine über die merkwürdige Topographie ließe sich ein eigener Artikel schreiben.

Der Nicht-Ort

Die Rue d’Auseil – man denkt unwillkürlich an die Rue Morgue von E.A. Poe, was Brian Stableford zu einem „The Legacy of Erich Zann“ (Rezension) mit E.A. Poes Auguste Dupin in der Hauptrolle animieren wird – ist ein Nicht-Ort. Hier will man sich und kann man sich eigentlich nicht aufhalten. (Die Entfremdung ist noch stärker als im in „The Haunter in the Dark“ geschilderten Providence Robert Blakes.)

Die Architektur der Häuser in dieser Gasse ist widersinnig, wie man am Anfang der Geschichte stimmungsvoll nachlesen kann:

The Rue d’Auseil lay across a dark river bordered by precipitous brick blear-windowed warehouses and spanned by a ponderous bridge of dark stone. It was always shadowy along that river, as if the smoke of neighbouring factories shut out the sun perpetually. […] I have never seen another street as narrow and steep as the Rue d’Auseil. It was almost a cliff, closed to all vehicles, consisting in several places of flights of steps, and ending at the top in a lofty ivied wall. Its paving was irregular, sometimes stone slabs, sometimes cobblestones, and sometimes bare earth with struggling greenish-grey vegetation. The houses were tall, peaked-roofed, incredibly old, and crazily leaning backward, forward, and sidewise. Occasionally an opposite pair, both leaning forward, almost met across the street like an arch; and certainly they kept most of the light from the ground below. There were a few overhead bridges from house to house across the street.

Die erwähnte Flussbrücke fungiert als Schwelle zu einem fremdartigen Reich, das (zum Glück) nicht ganz von dieser Welt stammt. Auch die zeitliche Dimension bleibt rätselhaft: Wenig in der Geschichte gibt uns Anhaltspunkte für eine temporale Verortung. (Stableford datiert die Geschichte aufs späte 18./frühe 19. Jahrhundert. Diese Deutung ist nicht von der Hand zu weisen, da Zanns Instrument, die Gambe oder „viol“, eher bis ins 18. Jahrhundert gebräuchlich war – und erst durch die historische Aufführungspraxis im späteren 20. Jahrhundert wieder bekannter wurde.) Bemerkenswert ist auch der biographische Bezug Lovecrafts zu Saiteninstrumenten. Wie ich hier nachgezeichnet habe, spielte Lovecraft als Kind die Violine, was durchaus eine Rolle bei der Instrumentenwahl gespielt haben dürfte.

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Zann und seine Musik

Der Charakter Erich Zanns bleibt (wie viele Charaktere Lovecrafts) sehr mysteriös. Warum ist er stumm? Was macht ein begnadeter, genialer Musiker wie er in einer heruntergekommenen Herberge? Wie spielt er weiter auf seiner Gambe, nachdem er augenscheinlich keine Lebenszeichen mehr zeigt? Hat Robert Price Recht, wenn er analysiert, dass Zanns Seele am Ende in die fremdartigen Sphären zurückkehrt, in die er gehört?

Auch die Funktion seiner Musik ist ambivalent: Spielt er tatsächlich nur gegen etwas an – oder hat er es auch beschworen? Wieso sonst sollte ausgerechnet er davon heimgesucht werden – er, der ein, wenn auch temporäres, Gegenmittel zu haben scheint? Ist er ein Magier oder Mythos-Kundiger, oder ist er Sklave seines Instruments und ist dieses ein Mythos-Artefakt? Wirkt die Bann-Magie aus seinem kompositorischen Genie, ist es eine Wirkung der „strange harmonies“, der „weird notes“ – oder sind diese wiederum Wirkung eines Rituals oder Zauberspruchs?

Ein quantenmechanischer Ansatz

Was wird durch die Musik daran gehindert, in unsere Welt einzubrechen? Die zerstörerische Macht Azathoths? Und wenn ja: Was genau bedeutet das? Fred Lubnow von „Lovecraftian Science“ spekuliert:

Getting back to The Music of Erich Zann, the forces or entities that Zann held back with his music may have been some form of extra-universal life, trying to filter into our universe. […] Was Zann trying to avoid the annihilation of the cosmos by preventing antimatter from spilling into our universe?

Auch Zanns merkwürdige Physiologie wird erklärt:

We know he was trying to prevent something from entering our universe through the high gable window by playing his strange music.  Was this “something” a force or entity composed of antimatter?  Zann is described as being a small, lean, bent person, having a satyr-like face and nearly bald head – was he suffering from radiation poisoning?

Und sogar das Verschwinden der Rue d’Auseil:

The antimatter “thing” may have briefly entered our universe through the gable window and Zann used his own “matter” and music to annihilate it. The result may have been a quantum fluctuation, which produced an adjustment to our universe. This adjustment essentially removed the house, the street, the locality and Erich Zann from our reality.

Der mysteriöse Erzähler

Schließlich gibt der Erzähler Rätsel auf: (Wie) hat er seine Studien „der Metaphysik“ beendet? Was genau hat er studiert? Was ist ihm nach dem Berichteten widerfahren? Man denkt an den Mathematikstudenten Walter Gilman aus „The Dreams in the Witch House“ (1932), der seine Studien der Quantenmechanik mit „folklore“ vermischte und darüber die Mächte des Mythos auf sich zog.

Zwischenfazit und die Auswahl weiterer Primärquellen

In „The Music of Erich Zann“ ist der Prototyp einer Mythos-Musik-Geschichte angelegt. Ehe wir aber daraus eine Typologie herleiten, sollten wir noch zwei weitere Beispiele betrachten. Die Auswahl fällt nicht leicht: Im Zuge meiner Recherchen habe ich ca. zwei Dutzend dem Mythos zurechenbare Stories gefunden, die Musik als zentrales Motiv verwenden. (Eine Lektüreliste folgt ggf. später.)

Einige Geschichten, die mir gut gefallen und umfassende Musikbezüge haben, bleiben in ihrem Mythos-Bezug allerdings eher schwach ausgeprägt. Stephen Mark Rainey, der die Anthologie „Song of Cthulhu“ (2001) herausgegeben hat, schrieb bereits in den 1980er Jahren einige Geschichten in seinem „Sylvan County“, die sich mit Musik befassten. Allen voran die sehr unterhaltsame Story „Threnody“ (1987), der wir uns später noch zuwenden werden, und zwei Pre- und Sequels. Allerdings besteht der gesamte Mythos-Bezug darin, dass ein Buch von einem „Maurice Zann“ die Inspiration für übernatürliche Musik darstellt. Das scheint mir ein zu loser Mythos-Bezug für eine prominente Analyse.

Andere, wie „The Plain of Sound“ (1964) von Ramsey Campbell, sind klar im Mythos angesiedelt und beschreiben Musik, setzen für ihre atmosphärische Wirkung dann aber doch zunehmend auf visuelle und olfaktorische Reize. Die Geschichte gehört definitiv in meinen Kanon der „Mythos-Musik-Geschichten“, aber für die Erarbeitung einer Typologie sind sie mir zu „untypisch“.

Ich habe mich daher für zwei Beispiele entschieden, die aus meiner Sicht den Kern der „Mythos-Musik“ treffen: „Music of the Stars“ (1943) von Duane Rimel und „Mud“ (1997) von Brian McNaughton. Damit sind insgesamt auch fast 80 Jahre Weird Horror abgedeckt.

Weiter geht’s in Weird Harmonies (2): „Music of the Stars“ und „Mud“. Hier geht’s zum Inhaltsverzeichnis aller Artikel der Reihe.


Beitragsbild: Photo by James Lee on Unsplash und Photo by Johannes Plenio on Unsplash

5 Gedanken zu „Weird Harmonies (1): „The Music of Erich Zann““

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