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Exposee zur Bewerbung auf eine Promotionsstelle
Dieses Dissertationsprojekt verfolgt das Ziel, die Bedeutung von Sentimentalität für die Bildung und Stabilisierung von Netzwerken zu untersuchen. Durch den Wandel der Verbreitungsmedien (insbesondere durch die Digitalisierung und die Dominanz von „Social Media“) in spätmodernen Gesellschaften erhalten informelle Netzwerke, die sich um (sentimentale) Gefühlsformen organisieren, eine erweiterte und wichtigere Bedeutung für die Kommunikation dieser Gesellschaften. Die Fragestellung: Wie lassen sich derartige „sentimentale Netzwerke“ beschreiben, wie funktionieren sie und welche Funktion erfüllen sie für Mitglieder, Zentralfiguren und gesellschaftliche Felder/Systeme?
Um den Begriff des „sentimentalen Netzwerks“ zu erarbeiten, wird neben der soziologischen Netzwerktheorie (Castells, Dirk Baecker, ggf. Netzwerkanalyse) und der Emotionsgeschichte (im Konzept der „emotional community“ von B. Rosenwein) die Forschung zu Sentimentalität als kommunikativem Code bemüht. Dabei wird Sentimentalität auf verschiedenen Ebenen analysiert: Einerseits als Inhalt bzw. Gehalt von verbindenden medialen Formen (etwa Songs/Alben/Konzerten), andererseits als Klammer von Ästhetiken und Inszenierungen (auch politischer oder Protestkommunikation).
Beispiele für „sentimentale Netzwerke“, die im Rahmen der Arbeit untersucht werden sollen, finden sich in Popkultur, Politik und Protest. Der empirische Teil fokussiert Selbstbeschreibungen sowie Social-Media-Diskurse der folgenden Gruppen:
- Popkulturell werden sowohl „Swifties“, also Fans des Popstars Taylor Swift, als auch K-Pop-Fandoms untersucht. Beide Gruppen vereint spezifische Gefühlskommunikation und beide strahlen über die Popkultur hinaus, etwa in die Politik. In beiden Fällen kann momentan von einer politisch eher progressiven Agenda ausgegangen werden.
- Im politischen Bereich sollen eher reaktionäre Netzwerke untersucht werden, namentlich Netzwerke aus dem Bereich Alt Right / Neue Rechte, Rechtspopulismus und „Querdenker“. Diese sentimentalisieren sich meist um „gefühlte Wahrheiten“ sowie eine Verlusterfahrung von Heimat, Tradition, Ordnung. Sie polarisieren und wirken mittelbar und unmittelbar politisch, auch wenn sie in die folgende Kategorie „Protest“ hineinspielen.
- Im Bereich der Protestbewegungen sollen verbindende Sentimentalformen der Umwelt- und Klimabewegung untersucht werden, die sich um Verlusterfahrungen von Natur und Ursprünglichkeit formieren.
Aus der Analyse dieser Gruppen wird der Begriff des „sentimentalen Netzwerks“ angereichert und erprobt. Dabei steht ein Vergleich der Funktionsweisen, Kommunikationen und Sentimentalformen dieser Gruppen anhand einer Reihe von Leitfragen (s.u.) im Vordergrund. Als Abschlusskapitel kommt ein Ausblick in Frage: Welche Rolle könnten „sentimentale Netzwerke“ in der Sozialstruktur der Spätmoderne spielen?
Forschungsvorhaben „sentimentale Netzwerke“
Swift excels at making personal experiences feel universal
— and when we connect with an experience she describes lyrically,
we feel like we’re part of “the larger community of the heartbroken or the jubilant”[.][1]
Lose Gruppenbildung, die vor allem auf „Gefühl“ beruhte, hat es vermutlich in der gesamten Geschichte der Menschheit gegeben: Freundschaften, die weder auf Nutzen noch auf Erotik beruhten; Familienbande, die über das Ökonomische eines gemeinsamen oikos hinausgingen; politische oder Büro-Cliquen, die keinen unmittelbaren (wohl aber vielleicht mittelbaren) Nutzen aus ihrer Gemeinschaft ziehen. Diese Gruppierungen stehen insofern immer auch quer[2] zur „eigentlichen“ sozialen Differenzierung — was mit Argwohn beobachtet wurde und wird.
Stabilisierung durch „sentimental networks“?
In der Spätmoderne, so die These dieser Arbeit, stabilisieren sich diese „emotional“ oder „sentimental“ communities[3] aber zu semi-permanenten, nicht mehr ortsgebundenen „sentimental networks“. Entstehensbedingung und wesentlicher Treiber hierbei dürften elektronische Verbreitungsmedien sein, wobei Vorläufer vielleicht schon in den Briefkulturen des 18. bis 20. Jahrhunderts[4] gefunden werden könnten.
Theorie: Ein Begriff des „sentimentalen Netzwerks“
Die Arbeit soll vor allem den Begriff des „sentimentalen Netzwerks“ bzw. „sentimental network“ erarbeiten und seine Tauglichkeit als Analyseinstrument für empirische „Gruppen“[5] erproben. Als Arbeitsgrundlage wird dabei zunächst aus verschiedenen (sozialwissenschaftlichen) Netzwerktheorien[6] ein Begriff des Netzwerks konstruiert — voraussichtlich als lose und verteilte Gruppierung, die sich nicht um eine konkrete Zielsetzung herum organisiert, aber dennoch ihre Kommunikation auf Dauer stellt.
Sentimentalität ist dann eine mögliche Antwort auf die Frage, wie dieses „auf Dauer Stellen“ realisiert werden kann: Emotionale Kommunikation im Code der Sentimentalität[7] gewährleistet einen Zusammenhalt der Netzwerke über die Zeit hinweg. Der Code wird somit zu einem „Kitt“ der sozialen Gruppenbildung bzw. zu einem „gruppenstabilisierenden“ Kommunikationsmedium (etwa im Sinne Niklas Luhmanns[8]). In diesem Kontext kommt auch der Identität von Mitgliedern dieser Netzwerke eine wachsende Rolle zu — Sentimentalität als individuelle wie kollektive Gefühlsform hilft bei der Aushandlung zwischen „Net“ und „Self“[9] und damit bei der Aushandlung von Identitäten Beteiligter.[10]
Analyse: Empirische „sentimentale Netzwerke“
Wie aber funktioniert dies in der Praxis? Beispiele für „sentimental networks“, die in der Arbeit untersucht werden sollen, finden sich einerseits in Fankulturen, andererseits in politischen bzw. Protestbewegungen.[11] Als Vorauswahl kommt in Betracht:
- Querdenker- bzw. rechtspopulistische Netzwerke: Diese sentimental-ressentimentalen Netzwerke gruppieren sich um „gefühlte Wahrheiten“, deren Wahrheitsgefühl vielleicht eher in der Differenz zu „etablierten“ Wahrheiten zu finden ist als in einem „Wahrheitsanspruch“ im Sinne von Wissenschaft. Viele derartige politische Bewegungen wie etwa
QAnon[12] beziehen sich eher auf „gefühlte“ Wahrheiten und polarisieren (sich) durch diese (etwa: Migration, Klima, Abtreibung, Nation und Kollektividentitäten, politische Figuren, internationale Konflikte, …). Das Resultat ist u.a. eine Sentimentalisierung in Opferrollen. - Swifties: Einerseits kann die Taylor-Swift-Community aufgrund der sentimentalen Song-Inhalte und emotionaler „Bindungsrituale“ wie Freundschaftsbändchen[13] als beispielhaft gelten. Ihre Wirkung übersteigt aber die Sphäre der (Pop-) Kultur, insofern Swift auch als politische Person in Erscheinung tritt, wie zuletzt durch ihre Empfehlung von Kamala Harris als Präsidentin. Interessant könnte auch eine Analyse derartige Äußerungen begleitender Mediendiskurse sein.
- K-Pop: Ein vergleichbares Phänomen liegt bei K-Pop vor. Die „Army“ von BTS kaperte nicht nur Trump-Rally-Veranstaltungen[14] , sondern auch als reaktionär oder rassistisch verstandene Hashtags auf Twitter/X[15].
- Die Klimabewegung, in der sentimentale Formen (etwa Naturverlust) ebenfalls eine Rolle spielen, kommt aufgrund des starken Sachbezugs nur bedingt in Frage: Hier besteht ein Fokus auf konkrete politische Themen. Andererseits zeigt der spaltende Einfluss der Aussagen Greta Thunbergs zum Palästinakonflikt möglicherweise Grenzen „emotionaler Gemeinschaften“ auf und ist einer Analyse wert.
Ob in der Dissertation letztlich alle diese Netzwerke in gleicher Tiefe analysiert werden können oder ob eine weitere Einengung (etwa anhand des Kriteriums verfügbaren Materials) stattfinden muss, ist eine am Anfang der Promotion zu klärende Frage.
Empirie und Methodik
Für die Funktionsweise all dieser Netzwerke sind elektronische Medien unverzichtbar: Telegram-Gruppen, Subreddits, Twitter/X, Instagram, TikTok und andere Dienste erlauben, Gruppen zu bilden und zu erhalten, die räumlich verteilt und ohne konkretes gemeinsames Sachinteresse auskommen müssen. Diese Netzwerke strahlen aber über „Social“ Media hinaus und geben auch Themen für die langsameren (und lineareren) Massenmedien vor. Die Analyse der angesprochenen Netzwerke soll daher mehrschichtig erfolgen.
Einerseits werden netzwerkinterne Diskussionen dahingehend betrachtet, wie sentimental(isiert)e Inhalte zur Stabilisierung des Netzwerks beitragen — sowohl zwischen „einfachen“ Mitgliedern als auch mit (falls vorhanden) Gallionsfiguren oder „Emotionsankern“ wie Taylor Swift oder Vordenkenden politischer Bewegungen. In Frage kommen etwa
- Eine Korpus- bzw. Sentiment-Analyse der Social-Media-Diskurse einzelner Fangruppen bzw. Netzwerke. Hier ließe sich das Material durch Beteiligung bestimmter Accounts oder die Verwendung bestimmter Hashtags eingrenzen und dann mittels korpusanalytischer Tools[16] quantitativ auswerten. Die emotionalsten Diskussionsfäden könnten dann einem close reading oder einer anderen Methode unterzogen werden.[17]
- Wo vorhanden, können Selbstzeugnisse der Netzwerke (Satzungen, Manifeste, „House Rules“ von Diskussionsforen) auf ihren Umgang mit Emotionsformen analysiert werden.
- Über viele Gruppierungen — gerade jene mit politischer und politikwissenschaftlicher Bedeutung wie Rechtspopulismus und Klimabewegung — liegen bereits theoretische und empirische Arbeiten vor.[18] Hier bietet sich eine Auswertung bzw. ein Vergleich an. Da in einigen Fällen (etwa bei Querdenker-Telegram-Gruppen) Material auch nur bedingt öffentlich zugänglich ist, muss hier ggf. auf Analysen Dritter zurückgegriffen werden.
- Einige Netzwerke mit zentralen Akteurinnen (Greta Thunberg, Taylor Swift) können spezifisch auf ihren Umgang mit diesen Zentralfiguren und deren Äußerungen hin analysiert werden.
- Wo kreative Leistungen bzw. Medienprodukte wie Kunst oder Musik im Fokus stehen (BTS, Swift), ist auch eine Auseinandersetzung mit den Gehalten dieser Kunst sowie ihrer Rezeption denkbar.
Andererseits wird auch die Rezeption in Massenmedien thematisiert (vermutlich aus Platzgründen aber nicht umfassend ausgeführt). Dies dient vor allem der Klärung der Frage, inwieweit andere gesellschaftliche Bereiche die Sentimentalisierung bestimmter Gruppen — teils befremdet — beobachten und welche Schlüsse daraus gezogen werden können, insbesondere zur Bedeutung sentimentaler Netzwerke für diese anderen Bereiche.
Ein Zwischenziel könnte die Erarbeitung einer Kriterien- oder Idealtypus-Matrix sein, die es erlaubt, die verschiedenen Netzwerke zu vergleichen und den theoretischen Begriff zu schärfen bzw. zu korrigieren. Ein Vergleich lässt sich etwa mittels der Analyse von Korpora verschiedener Social-Media-Konversationen realisieren.
Leitfragen der Analyse
- Wie funktionieren diese Netzwerke?
- Wie stellen sie ihren Bestand auf Dauer und welche Rolle spielt hierbei „Sentimentalität“ als Form der „affektiven Vergemeinschaftung“[19]?
- Welche Funktion erfüllen die Netzwerke für ihre Mitglieder?
- Welche Funktion erfüllen sie für ihre „Betreibenden“ und andere wichtige Akteurinnen und Akteure?
- Welche Leistungen erfüllen sie für andere gesellschaftliche Bereiche oder Systeme?
- Welche „sentimentalen Netzwerke“ sind auch politisch wirksam, welche eher eskapistisch?
- Wie moderieren sie — auch aufgrund ihrer Inhalte — Inklusion und Exklusion?
- Welche strukturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede weisen sie auf? Wie hängen diese mit den sentimentalen Inhalten zusammen?
- Wie hängen sentimentale mit anderen Gefühlsformen zusammen — etwa Empörung oder Konsumfreude?
- Lassen sich strukturelle oder inhaltliche Unterschiede zwischen „progressiven“ und „reaktionären“ sentimental networks ausmachen? Gibt es Tendenzen, dass diese Ausrichtung umschlägt oder ambivalenter wird?
- Bestehen inhaltliche oder strukturelle Unterschiede zwischen Netzwerken, die sich auf einzelne Akteure/Figuren (Taylor Swift, BTS, ggf. die Klimabewegung) beziehen und solchen, die eher einen „Motivkanon“ teilen (Rechtspopulismus, Querdenker)?
Sentimentalitätsbegriff
He was sunshine, I was midnight rain.
He wanted it comfortable, I wanted that pain.
(Taylor Swift, „Midnight Rain“, Chorus)
Eine wichtige methodische Frage ist, wie sich Sentimentalität operationalisieren und in den Kommunikationen der Netzwerke beobachten lässt. Hierzu braucht es einerseits einen Zugang zur Analyse von Emotionskommunikation im Digitalen (von der Themenwahl über Äußerungen bis hin zu Emoji[20]). Andererseits muss aber auch ein fundierter und belastbarer, aber nicht zu einengender Sentimentalitätsbegriff gefunden werden: Er muss die heimats- und ordnungsbezogene Verlustsentimentalität des Rechtspopulismus ebenso fassen können wie romantischen (Verlust-)Liebesschmerz in Swift-Lyrics.
In allen genannten Analyseobjekten meint „sentimental“ stets eine bestimmte, von äußeren Faktoren abgekoppelte und nur an einem abstrakten, unnahbaren oder unerreichbaren Objekt (Taylor Swift, Natur, „Systemkritik“ …) verankerte emotionale Kommunikationsform, die unbedingte Authentizität[21] für sich reklamiert.[22] Dabei werden, wie in den Analysen melodramatischer Formen[23] einschlägig, bestimmte komplexitätsreduzierende Formen aufgerufen:
- Verlusterfahrungen oder -ängste,
- klare Täter-Opfer-Dichotomien[24] und damit
- ambiguitätslose[25], aber narrativ überzeugende Moral.
Sentimental meint: Es geht nicht um ein durch äußere Anker (etwa: Ungerechtigkeitserfahrungen, realen Verlust, eine konkrete Utopie) ausgelöstes Gefühl, das zusammenschweißt; sondern um ein Gefühl, das bereits durch intensive kollektive Beschäftigung mit einem „narrativen Universum“ vorhanden ist und dann eben auch auf eine (bspw. politische) Causa gerichtet werden kann. Diese Gefühlslagen sind, jedenfalls in den meisten Fällen, auch expliziert und dulden keinen Widerspruch: Man zweifelt an Regierungsentscheidungen, sieht in Klimaschutz die wichtigste Aufgabe der Menschheit oder liebt (und folgt) Taylor Swift.
Damit sind die Objekte der Netzwerke (und möglicherweise auch die Netzwerke selbst) schwer von außen zugänglich — sie sind „sentimental entkoppelt“, ihre „gefühlten“ Wahrheiten nur noch bedingt anschlussfähig an andere gesellschaftliche Bereiche. Dies fördert einerseits Stabilität durch Distinktion, andererseits auch die eigene Exklusion etwa in Filterblasen und Echokammern, die sowohl progressive als auch illiberale Tendenzen annehmen können.
Ausblick: Gesellschaftstheorie
Durch den in der Arbeit zu leistenden Vergleich können die Rolle von Emotionen im Allgemeinen und sentimentaler Gefühlsformen im Besonderen für die Sozialstruktur herausgestellt werden. In einem Ausblick soll dann untersucht werden, ob und wie sich bestimmte gesellschaftliche Bereiche in ihrer Stabilisierung zunehmend auf derartige „Sentimentalitäten“ stützen und welche Auswirkungen dies hat — ob und inwiefern wir also mit einer stärkeren sozialen Differenzierung entlang von „sentimentalen Netzwerken“ rechnen müssen.
Dabei soll auch dargestellt werden, wie ambivalent die Vergemeinschaftung durch Emotionalität wirkt — dass sie sowohl stabilisiert als auch (im Vergleich etwa zu Organisationen) destabilisiert und dass die Gefühlsformen eines Netzwerks noch keine zwingende Auskunft geben über die Stoßrichtung und Dauerhaftigkeit seiner Agenda (etwa entlang einer Achse progressiv/reaktionär, liberal/illiberal, …). Denn sentimentale Netzwerke changieren oft genug zwischen progressiver ‚Gefühligkeit‘ und ressentimentaler Exklusion.
Eine spannende Abschlussfrage könnte sein, inwiefern weniger polarisierende und ggf. stabilere „emotional networks“ denkbar wären, ob diese ent-moralisiert sein müssten – und ob und welche Rolle sentimentale Erzählungen dabei spielen können.
Forschungsstand und zentrale Literatur
Die Idee von „sentimentalen Netzwerken“ wurde von Barbara Rosenweins Begriff der „emotional communities“ inspiriert. Insofern werden ihre emotionsgeschichtlichen Überlegungen (etwa in „Emotional Communities in the Early Middle Ages“, Rosenwein 2006) sowie deren Rezeption (etwa bei Jan Plamper) eine Rolle spielen. Auch das analoge Konzept der „imagined communities“ von Benedict Anderson soll in die Entwicklung des Begriffs „sentimentaler Netzwerke“ einfließen, da diese Netzwerke sich selbst (teilweise und implizit) als solche beobachten dürften. Für spezifische Gefühlskulturen (etwa: Andreas Bähr 2019) könnten sich ebenfalls emotionsgeschicjtliche Anschlüsse anbieten. Das Ziel ist ein Begriff, der Gruppenformierung und -bindung mit Gefühlen zusammendenkt, sodass auch Konzepte wie Emotion Repertoires[26] eine Rolle spielen könnten.
Als spezifische Gefühlsform wird dann Sentimentalität eingeführt, definiert bzw. als Idealtypus konstruiert und in diesen Gruppenbegriff eingebracht. Hierfür wird einerseits literaturhistorischen Hinweisen[27] nachgegangen. Andererseits soll auch die aktuelle soziologische Literatur zu Affektivität und Gesellschaft, insbesondere hinsichtlich Rechtspopulismus aufgenommen werden (Christian von Scheve; Elisabeth Anker 2014 zur Sentimentalisierung der Politik; Elizabeth Barnes 2011 zu Moral und Gewalt; Ergebnisse des Sonderforschungsbereichs „Affective Societies“[28] und insbesondere das Projekt „Contentious emotions?“[29]). Für Linkspopulismus und die Umweltbewegung bietet sich u.U. ein Blick in Arbeiten von Chantal Mouffe an. Schließlich wird auf theoretischer Ebene Niklas Luhmanns Konzeption von Liebe als symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedium[30] einbezogen.
Die Begrifflichkeit rund um das „Netzwerk“ als (neuer oder neu gedeuteter) Vergesellschaftungsform wird sowohl in ihren Ursprüngen bei Manuel Castells als auch in anderen Verwendungen und Weiterentwicklungen (z.B. bei Dirk Baecker) eingeführt. Auch mögliche Entstehungsbedingungen (etwa: Apprich 2015) und Analysemethoden (Stegbauer 2010) werden einbezogen.
Bzgl. der spezifischen Beobachtungsgegenstände (Netzwerke) werden u.a. die umfangreiche jüngere Forschung zu popkulturellen Fandoms als sozialen Bewegungen (bspw. Suh 2022, Leksmono 2022) sowie die bestehende Literatur zur Klimabewegung und zu rechtsgerichteten Gruppierungen gesichtet. Dieses Feld ist selbstverständlich viel zu breit, daher müssen Selektionskriterien angelegt werden. Diese finden sich einerseits im Fokus auf Netzwerke, also eher informell und lose organisierte Gruppierungen. Andererseits dient aber auch der Kommunikationscode der Sentimentalität als Ausschlusskriterium.
Literatur
- Anderson, Benedict. Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. Verso 1983.
- Anker, Elisabeth Robin. Orgies of Feeling: Melodrama and the Politics of Freedom. Duke University Press 2014.
- Apprich, Clemens. Vernetzt – Zur Entstehung der Netzwerkgesellschaft. transcript 2015.
- Baecker, Dirk.
- — (2007) Studien zur nächsten Gesellschaft. Suhrkamp.
- — (1998) Kleines ABC des Netzwerks. in: Weimer, Birgitta. Holon/Bergisch-Gladbach, S. 60-63.
- Baird, Ileana. Social Networks in the Long Eighteenth Century: Clubs, Literary Salons, Textual Coteries. Cambridge Scholars Publishing 2014.
- Barnes, Elizabeth. Love’s Whipping Boy: Violence & Sentimentality in the American Imagination. Univ. of North Carolina Press 2011.
- Castells, Manuel
- — (1996). The Network Society. The Information Age: Economy, Society and Culture, Vol. 1. Maiden/Oxford: Blackwell.
- — (1997). The Power of Identity. The Information Age: Economy, Society and Culture, Vol. 2. Maiden/Oxford: Blackwell.
- — (2000). End of Millenium. The Information Age: Economy, Society and Culture, Vol. 3. Maiden/Oxford: Blackwell. 2nd Ed.
- — (2009). Communication Power. Oxford/New York: Oxford University Press.
- Driessen, Simone. Look What You Made Them Do: Understanding Fans’ Affective Responses to Taylor Swift’s Political Coming-Out. Celebrity Studies 13 (1), 2022: 93–96.
- Fitzpatrick, Erin. So, make the friendship bracelets – Swifties & the value of “weak” ties. Victoria University 2024. https://www.vu.edu.au/about-vu/news-events/news/so-make-the-friendship-bracelets-swifties-the-value-of-weak-ties
- Gerund, Katharina
- — mit Paul, Heike. “Sentimentalism” im Handbook of the American Novel of the Nineteenth Century, hrsg. v. Christine Gerhardt. de Gruyter 2018.
— Lexicon of Global Melodrama. transcript 2022. Hrsg. (m. Sarah Marak, Heike Paul, Marius Henderson). - Hagen, L. M., Au, A.-M. i. d., & Wieland, M. Polarisierung im Social Web und der intervenierende Effekt von Bildung: eine Untersuchung zu den Folgen algorithmischer Medien am Beispiel der Zustimmung zu Merkels „Wir schaffen das!“. In: kommunikation @ gesellschaft, 18, 1-20, 2017.
- Hodson, Jaigris, and Chandell Gosse. Where we go one, we go all: QAnon, networked individualism, and the dark side of participatory (fan) culture. Baltic Screen Media Review 10, no. 1, S. 46-51, 2022.
- Hochschild, Arlie Russell. Strangers in Their Own Land: Anger and Mourning on the American Right. TheNew P, 2016.
- Kappelhoff, Hermann et. al. (Hrsg.). Emotionen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2019. Darin:
— (2019) Bähr, Andreas: „Historische Gefühlskulturen“.
— (2019) Bargetz, Brigitte: „Die affektive Vermessung der Welt. Affektive Politiken“. - Luhmann, Niklas.
- — (1994) Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1994.
- — (2008) Liebe: Eine Übung. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
- — (2001) Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien.
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- Mouffe, Chantal. Towards A Green Democratic Revolution: Left Populism and the Power of Affects. Verso Books 2022.
- Mey, Günter. Grounded Theory Reader. VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011.
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- Rosenwein, Barbara
- — (2002) ‘Worrying about Emotions in History’, American Historical Review,107/3 (2002), 821–45. doi: 10.1086/532498
— (2006) Emotional Communities in the Early Middle Ages (Ithaca, NY:Cornell University Press, 2006).
— (2010) ‘Problems and Methods in the History of Emotions’, Passions in Context: International Journal for the History and Theory of Emotions - Scheer, Monique. „Are Emotions a Kind of Practice (and Is That What Makes Them Have a History)? A Bourdieuian Approach to Understanding Emotion“. In: History and Theory , Vol. 51, No. 2, p. 193-220. Wiley 2012.
- Scherke, Katharina. Emotionssoziologie. UTB 2023.
- Scheve, Christian von
- — (2009). Emotionen und soziale Strukturen. Die affektiven Grundlagen sozialer Ordnung. Campus.
- — (2024). Die Macht kollektiver Emotionen. Ein Essay über Ressentiments und die Gefühlsgemeinschaft
politischer Proteste. In: Doris Kolesch (Hg.). Affektive Dynamiken der Gegenwart. Neofelis. - Schnabel, Annette und Schützeichel, Rainer (Hrsg.). Emotionen, Sozialstruktur und Moderne. VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012.
- Seigworth, Gregory J., and Melissa Gregg, eds. The Affect Theory Reader. Durham: Duke UP, 2010.
- Slaby, Jan und von Scheve, Christian. Affective Societies: Key Concepts. Routledge 2019.
- Stegbauer, Christian. Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie. Vol. 2. VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010.
- Suh, Judy. „K‐Pop Culture in the United States: Protest Contexts and Practices“. In: Journal of popular culture, 2022-04, Vol.55 (2), p.292-312. 2022.
Endnoten
[1] Time Magazine: „Why Taylor Swift’s Music Makes Us So Emotional“. 2024. https://time.com/6968864/why-music-makes-us-emotional-taylor-swift/
[2] Vgl. von Scheve 2024, S. 142: „Tückisch wird diese Konstellation kollektiver Emotionalität [weil sie dazu beiträgt], politische Allianzen […] entstehen zu lassen, die quer zu den allseits bekannten Koalitionen verlaufen[.]“
[3] Vgl. zur Emotional Community z. B. Rosenwein 2006.
[4] Vgl. etwa Baird 2014.
[5] Hier und im Folgenden meint „Gruppe“ schlicht eine Anzahl von menschlichen Individuen. Ob für die Dissertation ein spezifischer Überbegriff für Gemeinschaften, Gruppen, Netzwerke usw. gefunden werden muss, steht noch zu entscheiden.
[6] Insbesondere spielen eine Rolle: Castells; Überlegungen bei Dirk Baecker zur als Netzwerkgesellschaft gedachten „Nächsten Gesellschaft“; verschiedene Ansätze aus Stegbauer 2010.
[7] Zum Sentimentalitätsbegriff s.u.
[8] Etwa: Luhmann 2001.
[9] Zitiert nach „Revisiting Castells’ Network Society“, im Digital Society Blog des Hmboldt-Instituts (2017), s. https://www.hiig.de/en/revisiting-castells-network-society/
[10] Interessanterweise ist Taylor Swift insbesondere bekannt für ihren häufigen Wechsel von „Identitäten“ im Sinne von Personas, die ihren jeweiligen „Eras“ entspringen und mit ihrem Beziehungsleben korrelieren. Diese mehrfachen Identitäten helfen dem Swifties-Fandom möglicherweise dabei, eigene Identitätskonzeptionen fluide zu halten.
[11] An dieser Stelle soll darauf hingewiesen sein, dass Sentimentalität freilich auch zur „Biedermeierisierung“ und damit eher zum Eskapismus als zum Protest führen kann. Dies wird z. B. in Morris 2024 anhand der „Swifties“ untersucht.
[12] Vgl. Hodson/Gosse 2022.
[13] Vgl. Fitzpatrick 2024.
[14] CNN: „K-pop fans are being credited with helping disrupt Trump’s rally. Here’s why that shouldn’t be a surprise“, URL: https://edition.cnn.com/2020/06/22/asia/k-pop-fandom-activism-intl-hnk/index.html
[15] The Verge: „K-pop stans are flooding right-wing hashtags like #BlueLivesMatter and #MAGA“, URL:
https://www.theverge.com/2020/6/3/21278950/k-pop-stans-social-media-flooding-hashtags-bluelivesmatter-maga
[16] Etwa Voyant Tools: https://voyant-tools.org/
[17] Für eine vergleichbare Analyse der affektiven Wirkungen von Taylor Swifts politischer Kommunikation siehe Driessen 2022.
[18] Z. B. Salmela/von Scheve, „Die Emotionen des Rechtspopulismus“, 2017.
[19] Vgl. von Scheve 2024, S. 137.
[20] Die Verwendung von Emotionssymbolen wie Emoji in verschiedenen Fandoms könnte einen analytischen Diskurs verdienen, da sich hier genuin auf elektronische Medien bezogene Codierungen verbergen, die zwischen Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit schriftlicher Äußerungen moderieren.
[21] Vgl. hierzu Andreas Bährs Beitrag „Historische Gefühlskulturen“ in Kappelhoff et. al 2019, insb. S. 302f.
[22] Paradigmatisch mag die (meist autobiographische) Selbstbezüglichkeit der von Taylor Swift dargebotenen Inhalte stehen.
[23] Vgl. Gerund 2022.
[24] Vgl. z. B. Anker 2014.
[25] Diese „Polarisierungs“-Tendenz könnte korrelieren mit der verbreiteten Nutzung von „Social Media“, die ebenfalls im Verdacht stehen, zur dichotomen Lagerbildung beizutragen. Vgl. etwa Hagen 2017.
[26] Vgl. von Poser et. al. in Slaby/von Scheve 2019.
[27] Bspw. Gerund/Paul 2018.
[28] https://www.sfb-affective-societies.de/en/index.html
[29] Brokoff/von Scheve: „Contentious emotions? How emotion repertoires are negotiated and established in Germany’s literary and political public sphere“. https://www.sfb-affective-societies.de/en/teilprojekte/D/D07/index.html
[30] Luhmann 1994, Luhmann 2008.