Ach was, warum ein Buch lesen, wenn 200 Meter weiter
der gleiche Krampf in der Wirklichkeit vorkam!
(„Die Vollidioten“, S. 171)
Ich blättere mich eigentlich jährlich, seit ungefähr 2006, einmal durch Eckhard Henscheids Roman-Trilogie „des laufenden Schwachsinns“, also namentlich die Romane „Die Vollidioten“ (1973, im Folgenden „I“), „Geht in Ordnung – sowieso — genau —“ (1977, „II“) und „Die Mätresse des Bischofs“ (1978, „III“), meistens, um einer allgemein auf mir drückenden Last (Studienorte!) zu entfliehen. Leider findet sich online nicht allzuviel zu diesen latent vergessenen Perlen der deutschen Nachkriegsliteratur, und offline eigentlich auch nicht. Aber ich schweife kulturpessimistisch ab, ich sollte vielleicht erstmal erwähnen, wie ich damals auf die Lektüre kam.
Contents
Und das war so, beziehungsweise kam die Lektüre der Trilogie eigentlich erst später dran – anfangs las ich nur immer wieder „Geht in Ordnung – sowieso — genau —„, auf Empfehlung von Freundinnen und Freunden aus der Partei Die PARTEI hier in Nürnberg, wo Henscheid noch so eine Art Säulenheiliger ist, einerseits des Regionalbezugs wegen, andererseits wegen seiner Nähe zur alten Titanic, für die er ja auch geschrieben hatte. (Ein bisschen mehr dazu findet man in Gerhard Henschels 2021 erschienenen „Schauerroman“, bei Gelegenheit suche ich die Stellen raus, aber das ist sehr viel Buch, um auch einmal etwas Nichtswürdiges zu sagen.)
Saufgelage in Teppichläden – und in einem Nürnberger Südstadtlokal
Vom Saufgelage in Warenhäusern und Teppichläden der florierenden frühen 70er war ich natürlich bestrickt und entrückt, gerade auch wegen meiner engen familiären Bezüge zum Einzelhandel; meine Großeltern hatten ihr Schreibwarengeschäft in der Fürther Südstadt (Schwabacher/Amalienstr.) und mein Vater war zeitlebens bei Kaufhof angestellt, einer Warenhauskette, deren heute fast abgeschlossener Niedergang schon bei Henscheid 1977 prophezeit wird – „du kannst den Kaufhof von früher nicht mit dem Kaufhof heute vergleichen, mein lieber Hans“, oder so ähnlich.
Die anderen Bände konnte ich mir dann sozusagen nur vom II. aus erschließen, was gar nicht schwer fällt, zumal sich personelle Konstanten zwischen den Büchern aufspannen (dazu unten mehr). Und dass ich damit irgendwann anfing, kam so: Am Heiligen Abend 2011 verprasste ich, wiederum in PARTEI-Kreisen, in denen ich damals viel verkehrte, mein teures Weihnachtsgeld im Nürnberger Cafe Express, bis mir ein wundersam vom Christkind entsandter ehemaliger Handelsgroßmeister vorgestellt wurde, der dann eifrig Grappa (leider nicht Sechsämter!) spendierte, bis er schließlich gegen Morgengrauen mit dem Taxi heimbrummte, wo immer das war. Nach diesem Zusammentreffen mit Arthur Mogger erst wurde mir klar, wie eng mein eigenes Leben mit der Trilogie verbunden ist, und ich schritt nach der Ausnüchterung sogleich an die Lektüre der anderen Bände.
Jedes Jahr, oft im Sommer, wenn ich mittels der Henscheid’schen Realität meiner eigenen entfliehe (oder sie, paradox, paradox, gleichsam vertiefe und abstrahiere), mache ich mir einige Notizen: Zu romanübergreifenden dramatis personae; zu musikalischen Motiven; zur Topographie des Schreckens in Velhornwirtschaften und Cafés; zu Techniken der Schilderung; usw.; und jedes Jahr entdecke ich Neues. Daher werden diese Listen (s.u.) hier vermutlich jährlich anwachsen, aber ich habe mich nun endlich mal entschlossen, sie öffentlich zu teilen; immerhin eine handvoll interessierter Menschen gabs es zumindest 2004 noch, wenn man den Foren des Rolling Stone glaubt, aber vermutlich werden es weniger.
Warum erst jetzt? Vermutlich, weil ich gerade in der Laune bin, Langgesammeltes zu verarbeiten und mich damit vor Dringlichem (Steuer!) drücken kann, einerseits; weil ich kürzlich in Amberg war und dort echt Henscheid’schen Gaststättenflair genießen durfte.
Und diese Such- und Findearbeit in vergessenen Romanen hat ja auch etwas für sich, wenn einem der Sinn nicht danach steht beziehungsweise man nicht in der Lage ist, zwei düsteren Brüdern durch Kleinstädte nachzusteigen oder trinkfeste Palliativarbeit an einem Teppichgenie zu verrichten. Das ganze Unglück der Menschen kommt daher, dass sie nicht still in ihrem Ohrensessel, undsoweiter.
Die versprochenen Listen
Um keinen Lesendenbetrug zu begehen, hier die Listen. Was wissenswert erscheint, steht dabei – vor allem das Vorkommen in mehreren Bänden, oder falls es sich um gewissermaßen „offene Pseudonyme“ bzw. wissentlich und willentlich gelöste Schlüsselnamen handelt.
Orte und Erzähler
Settings:
- I: Frankfurter Nordend. Eckhard, ca. 30?, Journalist, ledig
- II: Seelburg (ungefähr Amberg). Eckhard „Moppel“ Henscheid, 35, Privatier, ledig
- III: Dünklingen (ungefähr Nördlingen und Dinkelsbühl?). Siegmund Landsherr, 46, Klavierlehrer und Pianist im Kurorchester Bad Mädgenheim, ansonsten independently poor, verheiratet. Auch dieser Protagonist wird aber im Verlauf der Handlung einmal (vom Lotto-Crack und Nachbarn Kloßen aus I) als „Eckhard“ angesprochen, und damit schließt sich der Kreis bzw. das Ei vollkommen
Wichtige Lokale:
- I: Krenz/Mentz, Kaffee Härtlein, Altheidelberg,
- II: Seelburger Hof, Wacker-Mathild
- III: Paradies, Café Aschenbrenner, Café Central
Charaktere
- Der Kerzenhändler Lattern (II überall, III; reale Hintergründe in „Denkwürdigkeiten“ S. 142, 161)
- Alwin Streibl (Schwager des Protagonisten in III; Schachgegner des Protagonisten in II)
- Frl. Majewski (I, II)
- Herr Kloßen (I, in III erwähnt)
- Hans Duschke (II, erwähnt in III; realer Hintergrund in „Denkwürdigkeiten“, S. 140)
- Witwe Strunz-Zitzelsberger (II, Todesanzeige in III)
- Hümmer Heinz (II, Erpressungsopfer in III)
- Rösselmann (I, in II erwähnt?, in III erwähnt; real: pardon-Redakteur Bernd Rosema)
- Frl. Czernatzke (real: Elsemarie Maletzke)
- Zirngiebl?
- Arthur Mogger (II, in III werden „The Moggers“ erwähnt)
- Peter Knott (I, Pit Knorr)
- Herr Domingo (I, Wilhelm Genazino)
- Herr Jackopp (I, Peter Jakob)
Motive
- Automatenspiel (Duschke II, Horkheimer I)
- Fußball: Allüberall, ist mir aber leider schnurzegal
- Heiligkeit (Iberer III; Frauenfiguren und Madonnen I-III; Leobold unterm Kruzifix II; … der religiösen Bilder sind zu viele)
- Geschlecht (eigentlich sind es reine Männerromane, vor allem II und III, aber auch in I gibt es recht wenig wörtliche Rede von Frauen)
- Sex (spielt eigentlich immer und überall die Hauptrolle, ohne besonders oft vollzogen zu werden – da gibt’s wohl einen Zusammenhang; in III über die meiste Zeit nur sublimiert in Form der Iberer-Verehrung, in II teilsublimiert als Leobold-Verehrung, vor allem in II auch massiv durch Alkohol gleichzeitig befeuert und unterdrückt; wahlweise als „Geschlechterverkehr“ [I] und „Geschlechtsverkehr“ [II] bezeichnet)
- Alkohol (I-III). Auffällig ist, dass außer Kaffee und Schwarztee keine anderen Drogen eine Rolle spielen – wohl eine Milieufrage
- türkische Frau/türkische Witwe (I, III)
- und natürlich Musik, die allüberall omnipräsent herumwabert. Dazu auch:
Der ganze Krach
Wieso in allen Romanen der Sinn hintangestellt wird, sozusagen hinter den (scheinbaren ?) Schwachsinn tritt, kann uns ein Literaturwissenschaftler ausdeuten:
„Der Roman ist nicht auf dramatische Handlung ausgelegt und setzt auch nicht auf eine naturalistische Milieustudie. Eher gleicht er einer Partitur aus verschiedenen Tonlagen des Sozialen, aus Zitaten, Phrasen, Idio- und Soziolekten. In dieser Hinsicht knüpft Henscheid an ein weiteres großes Vorbild an: Dostojewski.“
„Ebenso wie bei Dostojewski erscheint Gesellschaft als ein Konzert von Stimmen und Sprachen, die miteinander kommunizieren, ohne je zusammenzukommen. Die Ordnung des Sozialen, ihre Macht- und Konfliktverhältnisse spiegeln sich in der Art und Weise, ›wie man so redet‹.“ (Martin Schneider, Literatur siehe unten)
Na also.
Literatur
Schneider, Martin. „»Auschwitz hin, Supermarkt her«: Das musikalische Erschreiben der Gesellschaft der 1970er Jahre in Eckhard Henscheids Die Mätresse des Bischofs“. Universität Hamburg, 2017. Volltext bei einem kroatischen Journal: https://hrcak.srce.hr/file/282851
Schardt, Michael Matthias. „Über Eckhard Henscheid“. Rezensionen und Besprechungen. Paderborn 1990.
Henscheid, Eckhard. „Denkwürdigkeiten“. Frankfurt 2013.
Henscheid, Eckhard. „Die Vollidioten“. 14. Auflage 1980.
Henscheid, Eckhard. „Geht in Ordnung …“. 6. Auflage 1979.
Henscheid, Eckhard. „Die Mätresse des Bischofs“. 2. Auflage 1978.