Die „Rue de la Manticore“ in Umberto Ecos „Das Foucaultsche Pendel“

Eine starke Erkältung oder leichte Grippe fesselte mich einige Tage ans Bett, die ich für eine Re-Lektüre dieses Meisterwerks paranoiden Denkens nutzte. Einige Dinge fielen mir auf, die mir bei vorherigen Lektüren entgangen waren — zum Beispiel, wie klein und tragisch doch eigentlich die Rolle Diotallevis ist: Sogar sein Beitrag zum Großen Werk wird am Ende ja herausredigiert!

Ein anderes Detail: Ecos fiktive Topographie (die ja nicht nur Kulisse ist, sondern wesentlicher Teil des großen Geheimnisses!) kennt unter anderem eine „Rue de la Manticore“ mit einem Buchladen:

Warum verabreden wir nicht ein Rendezvous in der Librairie Sloane, Rue de la Manticore 3, heute in einer Woche? Librairie Sloane, Rue de la Manticore Nummer 3. […] Rue de la Manticore Nummer 3, leicht zu merken.

Im Roman finden wir dann eine knappe Schilderung der dortigen Verhältnisse:

Zum Glück hatte ich ein bißchen Geld dabei. In Paris nahm ich ein Taxi und ließ mich in die Rue de la Manticore fahren. Der Taxifahrer fluchte lange, denn er fand sie nicht mal auf seinem Taxifahrerstadtplan, und tatsächlich war sie dann ein Gäßchen, etwa so breit wie der Gang eines Eisenbahnwaggons, in der Gegend der alten Bièvre hinter Saint-Julien-le-Pauvre. Das Taxi konnte gar nicht hineinfahren und setzte mich an der Ecke ab.

Ich drang zögernd in den schmalen Schlauch ein, zu dem sich keine Tür öffnete, aber nach ein paar Metern wurde die Straße ein wenig breiter, und da war eine Buchhandlung. Ich weiß nicht, warum sie die Nummer 3 hatte, da nirgends eine l oder 2 oder sonst eine Nummer zu sehen war.

(Hervorhebungen von mir)

Auf den Spuren fiktiver Straßen

Diese „Rue de la Manticore“ gab ich mal bei Google Maps ein — vielleicht könnte man die ja mal besuchen –, aber natürlich ohne Ergebnis. Immerhin ergab eine normale Web-Suche: Es gibt einen dreiseitigen akademischen Aufsatz dazu: „The Strange Case of Rue de la Manticore—An Imaginary Parisian Street in Umberto Eco’s Foucault’s Pendulum?“. Der Autor oder die Autorin, K.J. Creedon, interpretiert die Fiktionalität dieser Straße als Hinweis darauf, dass der Protagonist Casaubon hier in eine irreale Realität abbiegt:

[This]marks the point in the novel where Casaubon appears to become unhinged and falls out of touch with reality, creating a mental landscape that does not concur with actual reality of Paris.

Man fühlt sich sofort erinnert an die Pariser (!) „Rue d’Auseil“ in H.P. Lovecrafts „The Music of Erich Zann“ (siehe meinen Artikel über Mythos-Musik), die ebenfalls anzeigt, dass der Protagonist die sicheren Gefilde der realen Stadt verlässt und sich ins Unbekannte wagt. Auch diese Straße wird als eng, bedrängt von Häusern, geschildert; und der Protagonist findet sie später trotz intensiver Suche auf keiner Karte von Paris wieder.

Fiktive Straßen gibt es aber auch in Ecos nicht-fiktionalen Texten: In seinem Essay „The Strange Case of the Rue Servandoni“ untersucht er eine fiktive Straße bei Dumas, die allerdings nur deshalb fiktiv ist, weil sie erst zu Dumas‘ Lebzeiten, nicht aber zur Zeit der Handlung seiner „Drei Musketiere“ existierte. (Schon verwirrt?) Weshalb aber nun eine fiktive Straße? Creedon zitiert aus Ecos Essay:

„[The author] dropped this name in the margins of the text in order to alert his readers. He wanted them to realize that every fictional text contains a basic contradiction just because it’s trying so hard to make the fictional world collide with the real one.“

Ist das befriedigend? Vielleicht, wenn man weitere Topoi aus dem Roman zu Hilfe nimmt: Es geht ja insgesamt um a) ein „leeres Geheimnis“, dessen Leere aber nur den wahrhaft Initiierten (nämlich den Erfindern des Geheimnisses) bekannt und bewusst ist. Und b) um geheime Topographien sowie um eine nur ausgedachte topographische Karte — jede Karte ist „erfunden“, aber diese ist gar nicht erfunden, nur erdacht.

Sam Spade googles

Weiteres Googlen führte nur zu noch seltsameren Treffern. Etwa eine Diskussion in einer skurrilen Foren Kategorie „Notes & Queries“ im Guardian. Notes & Queries ist übrigens auch der Name des Journals, in dem Creedons Mini-Paper erschien. Zufall …? Nach der Lektüre des Foucaultschen Pendels glaubt man da freilich nicht mehr dran.

Die Inhalte der Guardian-Diskussion sprechen jedenfalls für einen starken, starken Zusammenhang, denn es geht in dieser Diskussion um „getarnte Häuser“! Den Auftakt macht:

There is a fake house front in Leinster Gardens, London, built to disguise an Underground line running behind and beneath it. Are there any other such facades in existence?

Volltreffer. Das sind genau die Kulissen, die die Templer (oder wer auch immer, ich habe den Überblick genauso verloren wie die Protagonisten des Buches) erbaut haben, um ihre „tellurischen Ströme“ in den Untergründen zu kontrollieren. Bei Eco finden wir einen Dialog:

[Casaubons Nachbar, der Taxidermist Salon:] „Ich mißtraue den Untergründen, aber ich will sie begreifen. […] Natürlich gibt’s in Paris auch die Katakomben, und die unterirdischen Höhlen. Zu schweigen von der Metro. Waren Sie je an Nummer 145 der Rue La Fayette?“
[Casaubon:] „Ich muß gestehen, nein.“
[S:] Ein bißchen abseits, zwischen der Gare de l’Est und der Gare du Nord. Auf den ersten Blick ein unscheinbares Gebäude. Nur wenn man genauer hinsieht, entdeckt man, daß die Türen zwar aussehen wie aus Holz, aber in Wahrheit aus bemaltem Eisen sind, und die Zimmer hinter den Fenstern sind seit Jahrhunderten unbewohnt. Nie brennt da ein Licht. Aber die Leute gehen vorbei und wissen nicht […], [daß] das Haus nur vorgetäuscht ist Es ist nur Fassade, eine Hülle ohne Dach, ohne Inneres. Leer. Es kaschiert die Mündung eines Kamins. Dient zur Be- und Entlüftung der Metro.“

Hieran schließt der sehr verdächtige Salon dann eine Reflexion über Unterwelten — man beachte hierzu auch die Bedeutung der Pariser Kanalisation in Ecos „Der Friedhof in Prag“! In die gleiche Kerbe schlägt aber auch die offenbar fiktive  Guardian-Reaktion, die zu meinem Google-Treffer führte:

Number 10, rue de la Manticore, Paris (just off the Champs Elysees) is also fake. It’s rooms (if one peers through the windows) are only a few feet deep. It’s a trompe-l’oeil house built around a chimney, to allow fumes out from the Metro line beneath.

Dieser unmöglich wörtlich gemeinte Beitrag — die Rue de la Manticore gibt es ja nicht — stammt von einem „Garrick Alder, London“. Dieser könnte ein „journalist and contributor to BBC’s hugely popular QI series“ sowie Buchautor sein — aber warum würde er diese Spur legen? Als Marketing für … irgendwas? Nein, nein. Es muss sich um einen Initiierten handeln. Aber nun sind wir so oder so mit den Google-SERs in einer Sackgasse.

Dall-E via ChatGPT, prompt: „generate an image of a world map used by the Knights Templar to control the telluric streams“

Sloan und Mantikor

Zwei Spürchen existieren noch, also machen wir mal mit „Sloane’s“ weiter. Der Name des Buchladens leitet sich ab (Wikipedia):

Sloane or Sloan is a given name, a transferred use of the Irish surname O Sluaghadhán, meaning „descendant of Sluaghadhán“. Sluaghadhán is an Irish diminutive form of the Irish name Sluaghadh, which means expedition or raid.

Sloane, falls der Name sprechend gemeint ist, könnte also ein Krieger sein, ein Räuber, ein Plünderer. Im Buch ist der laden aber eher eine Schlangengrube … ist dann vielleicht Casaubon der „Raider“?

Und schließlich haben wir noch das Motiv des Mantikors der „Rue de la Manticore“. Im italienischen Wikipedia-Eintrag zu diesem mythischen Skorpionlöwen finden wir (Deepl):

In addition to fantasy and catalogs of imaginary beings, the real manticore still appears in Umberto Eco’s novels, in The Name of the Rose and especially in Baudolino, where together with a cat and a chimera it bars the way to the fabulous realm of the Priest Gianni (where a number of fantastic races such as blemmi, panozi, etc. also live). Also Eco in The Pendulum of Foucault talks about the Sloane bookstore on “rue de la Manticore” in Paris.

Der Mantikor spielt also eine gewisse Rolle bei Eco; Creedon bietet hierfür eine Borge-Referenz als Erklärung (0hne allerdings „Der Name der Rose“ und „Baudolino“ zu erwähnen):

Borges had written a book entitled The Book of Imaginary Beings, a fabulous bestiary drawn from mythology, legend, and literature. In this book the reader is provided with a definition of the Manticore […]: There is a beast, which he calls Mantichora, hauing three ranks of teeth, which when they meet together, are let in one within another like the teeth of combs, with the face and eares of a man, with red eies, of colour sanguine, bodied like a Lion, and hauing a taile armed with a sting like a Scorpion: his voice resembles the noise of a flute and trumpet sounded together: very swift he is, and mans flesh of all other he chiefly desireth.

Die enge, bedrängende Gasse ist also vielleicht eine Mantikorengrube, in der Löwen und Skorpione mit menschlichen Gesichtern auf Casaubon warten — aber offenbar rein fiktiv.

Fazit?

Auf einer einfachen Text-Ebene ist die Rue de la Manticore ein „liminal space“, in dem der Übergang Casaubons in die möglicherweise teil-halluzinierte Finalszene passiert. Diese Funktion ist bei der „Rue d’Auseil“ Lovecrafts aber deutlicher, denn hier ist auch die Architektur widersinnig und unmöglich.

Auf symbolischer Ebene glaube ich hier eine Anspielung auf die ewige Selbstbezüglichkeit des eigentlich leeren Geheimnisses zu erkennen, das die Adepten und Initiierten aller Orden immer suchen. Überlassen wir Casaubon das Schlusswort:

[Jemand sagte einmal:]»Seit die Menschen nicht mehr an Gott glauben, glauben sie nicht etwa an nichts mehr, sondern an alles.«

Aber alles ist kein größeres Geheimnis. Es gibt überhaupt keine »größeren Geheimnisse«, denn kaum sind sie aufgedeckt, erscheinen sie klein. Es gibt nur ein leeres Geheimnis. Ein Geheimnis, das einem ständig wegrutscht. […] Initiation heißt lernen, nie innezuhalten, man pellt das Universum wie eine Zwiebel, und eine Zwiebel ist nichts anderes als Pelle, denken wir uns eine endlose Zwiebel, die ihr Zentrum überall hat und ihre Außenhaut nirgends, Initiation ist endlos wie ein Möbiussches Band.

Der wahre Initiierte ist der, der weiß, daß das mächtigste Geheimnis ein Geheimnis ohne Inhalt ist, denn kein Feind kann ihn zwingen, es zu enthüllen, und kein Gläubiger kann es ihm wegnehmen.


Featured Image: ChatGPT mit einem korrigierten Prompt. Cooles Bild, aber die Größenverhältnisse scheinen mir nicht zu stimmen … Außerdem erinnert auch das mehr an die „Rue d’Auseil“ Lovecrafts.

1 Gedanke zu „Die „Rue de la Manticore“ in Umberto Ecos „Das Foucaultsche Pendel““

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