Kurzrezension: I love Dick (Chris Kraus)

Zunächst mal vorweg: Dieses Buch ist nicht ganz einfach zu lesen, oder besser: Es liest sich gut, aber ich fand manches schwer zu „verstehen“ (in einem inhaltlichen, „hermeneutischen“ Sinn). Das liegt weniger an den diversen essayistischen Exkursen in die Postmoderne (Baudrillard! Deleuze!), die kann man ganz gut überfliegen bzw. ignorieren (von den Schizophrenie-Analysen abgesehen, die sind m.E. wichtig).

Eher schon liegt es an der geringen Dichte äußerer Handlung: Das meiste passiert im Innern der Protagonistin, dem Alter Ego der Autorin Chris Kraus, weshalb diese den Briefroman auch als „lonely girl phenomenology“ einordnet. Und es wird zusehends schwerer, diesem Innenleben zu folgen, denn es stellt sich immer klarer dar, wie einseitig ihre Obsession für Dick ist — mehr verspricht aber ja der Titel auch gar nicht. Puh.

Plot

Prinzipiell geht es um eine irgendwie unfreiwillige und auch weitgehend fiktive Dreierbeziehung zwischen Literatin und Videokünstlerin Chris, ihrem Star-Intellektuellen und Ehemann Sylvere und einem nachnamenlosen Professor Dick. Dieser „Dick“ scheint nicht nur teilweise ein „Dick“ zu sein, und auch nicht nur dem Titel-Wortspiel zuliebe Dick zu heißen, sondern ist offenbar an Dick Hebdige angelehnt. Ebenso sind Chris Kraus und Sylvère Lotringer reale Personen, sodass man sich fragen kann, wie viel „Roman“, „Roman-tisierung“ und „Fiktion“ da drin steckt. Aber das muss man auch nicht fragen; ist ja schließlich ein postmoderner Roman bzw. ‘performance art within the medium of writing’.

Fiktiv bleibt die Dreierbeziehung, weil sich Chris in Dick verliebt, das ihrem Ehemann Sylvere erzählt und die beiden dann hunderte Seiten Fax und Brief an Dick schreiben. Bevor es aber (Spoiler!) zu einer sexuellen Begegnung von Chris und Dick kommt, trennt sie sich von Sylvere; insofern kein Dreieck. Das „Eheprojekt“ Nebenbuhlerbriefe ist auch nicht ganz klar als „aufrichtig“ (s.u.) zu bewerten. Aus einem Kinky-SM-Kontext stammend, könnte das auch einfach eine Form emotionalen Masochismus Sylveres darstellen.

Weitere äußere Handlung: Chris fährt durch die Gegend, kümmert sich um Immobilien (im Gegensatz zu ihrer Kunst einträglich); Sylvere hält Vorlesungen und Vorträge; Dick schreibt Bücher. Und das war’s eigentlich; der Rest sind Reflexionen, im ersten Teil briefförmig von Chris und Sylvere, im zweiten Teil nur noch von Chris.

Widersprüche und Schizophrenien

Ich denke, das Buch muss man in verschiedenen Lebensphasen mal wieder zur Hand nehmen; es dürfte einem immer etwas anderes sagen. Oder mit Emily Gould im Guardian: „you can use this book to explain yourself to yourself, and become a wiser, or maybe just more complicated, person.“ Dazu passt ein Zitat aus dem Buch (S. 198): Demnach bedeutet Aufrichtigkeit nichts anderes, als Komplexität zu verweigern.

Wesentliches Motiv sind denn auch Widersprüche: Nicht nur zwischen den Perspektiven verschiedener Personen — Dick erlebt hier eine völlig andere Erzählung als Chris, Sylvere eine dritte — sondern auch Widersprüche der Personen in sich und der Verhältnisse. Dabei wird, postmodern und literarisch, zwischen entfaltbaren Paradoxien und logischen Widersprüchen nicht wirklich unterschieden; das merkt man besonders in den späten Passagen zu Schizophrenie und Kapitalismus (in Anlehnung an Deleuze und Guattari) und den Überlegungen zu psychischen, psychologischen, psychiatrischen Modellen:

Die Ethik des Kapitalismus ist vollkommen schizophren, das heißt, sie ist widersprüchlich und heuchlerisch: Billig kaufen, teuer verkaufen. Mit allen Mitteln versucht die Psychiatrie, dies geheim zu halten, indem Sie sämtliche Störungen auf das heilige Dreieck mama Papa ich zurückführt. „Das unbewusste muss geschaffen werden“, schrieb Felix in „Le voyage de Mary Barnes“ … Ein brillantes Modell.

Ob das nun bedeuten soll, dass sich die Protagonistin nicht länger hinter den „unbewussten“ „Triebfedern“ ihres „Handelns“ verstecken möchte?

Andere Motive

Andere Motive neben „Schizophrenie“, „Widerspruch“, „Paradoxie“ sind verwandte Begriffe wie Zufall, Kausalität, Zeit. Und natürlich schöpferisches, sich entäußerndes Schaffen: Immerhin schreiben die beiden Protagonisten Briefe, Faxe, Skripte (auch im Sinne von „Drehbüchern“: hätten sie anderes geschrieben, wäre die Handlung vielleicht anders vorangegangen).

Eine Grundfrage scheint immer zu sein: Was ist persönlich, was ist gesellschaftlich? Kann man hier überhaupt irgend eine Grenze ziehen, die der Analyse stand hält? Und welche Rolle spielt die (gesetzte) Grenze der Geschlechter hierbei? So wird u.a. analysiert (216, 229), dass Suizide von Frauen deren ganzes Leben rückwirkend überschatten (Beispiel Janis Joplin), während bei Männern der Suizid die Folge eines „übergelaufenen“ Lebens ist. Und das wird, auf eine schwierige Weise, mit Emotionen zusammengebracht: Die furchtbaren, erschreckenden Emotionen des Weiblichen müssen entsprechend „personalisiert“ (und dann pathologisiert) werden. Emotion, Verletzlichkeit als Philosophie. Wer mit derartigen postmodernen Performances und Dekonstruktionen nicht viel anfangen kann, hat vermutlich wenig Spaß am Buch. (Ich weiß nicht, wie viel Spaß ich hatte — „mitreißend schön“, wie es auf der Rückseite der btb-Ausgabe heißt, fand ich es jedenfalls nicht.)

Kunst und Popkultur

Lange Passagen des zweiten Teils handeln vor allen Dingen von der Beschreibung von Kunstwerken. Diese sind (zumindest mir) nicht vertraut. Kein Wunder: Ähnlich wie die Popkultur-Referenzen liegt die Zeit dieser Arbeiten offensichtlich schon eine ganze Weile zurück. Das Buch spielt immerhin vor ziemlich genau 30 Jahren. Und auch, wenn ich diese Zeit schon erlebt habe, scheint sie mir doch unendlich weit weg.

Fazit

Man sollte unbedingt mal reinlesen, aber es ist keine unterhaltsame Abendlektüre. Viele Fragen sind weiterhin (oder zeitlos?) relevant. Das Milieu ist allerdings schon sehr speziell. Immerhin fand ich die Lektüre aber anregend genug, danach diese Zeilen zu schreiben und in einige Interviews mit der Autorin hineinzulesen, die ich hier verlinke.

Links, Lobeshymnen und Rezensionen

  • Interview über „I love Dick“ in artnet: „Because when you fall in love with someone the greatest rush is that you can be so many more sides of yourself with them than with anyone else in the world. That person makes it possible to most fully be yourself.“
  • Emily Gould im „Guardian“: “ I feel like I’m paraphrasing I Love Dick in some way or another in most of what I write. When I first found the book, it seemed to me like the missing piece that made sense of everything else I’d ever read, plus everything I’d ever tried to write.“
  • „Der späte Hype um ‚I love Dick'“: „Das Buch ist ein autobiografisches Spiel um Selbstentblößung.“ (DF)
  • Interview im Guardian: „[C]ircumstances are never purely personal, they are … circumstantial. A novel is meant to show how large questions play out in individual lives.“
  • Interview in „The Believer“: „I just went to the desert and I rented a cabin for a semester, and every day that I wasn’t teaching, I was at the cabin. And I was like, Right, I’m going to do five pages a day, here’s the pile of letters, there’s the pile of finished pages, and I got right to it.“
  • Langes Feature im New Yorker

P.S.: Serie

Offenbar gibt es dazu auch eine Amazon Serie. Die müsste man sich mal angucken, um zu überprüfen, ob insbesondere die Popkulturbezüge aktualisiert bzw. weggelassen wurden. Außerdem ist natürlich eine spannende Frage, inwiefern Schizophrenie, LSD- Trips, Grasgenuss visuell dargestellt werden.

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