tl;dr: Wer sich mit der romantischen Liebe in der Spätmoderne beschäftigen möchte, findet hier einen soliden ersten Ansatzpunkt und viele theoretische Anknüpfungspunkte. Wer sich für soziologische Analysen begeistern kann, findet gute Unterhaltung. Insgesamt keine Pflichtlektüre, aber lohnenswert. (Ansonsten hätte ich vermutlich auch keine Lust gehabt, meine Gedanken hier so breit auszuwalzen.)
Contents
Eines vorweg: Das vorliegende Buch ist eine soziologische Arbeit. Es ist kein Ratgeber und auch keine populärwissenschaftliche Artikelsammlung, sondern eine relativ stringente Analyse, was sich an unserem „Paarungsverhalten“ im Verlauf der Moderne verändert hat und zu welchen Problemen das führt. Die Aufmachung mag eine populäre Zielgruppe suggerieren, aber der Inhalt richtet sich eher an soziologisch Vorgebildete.
Wer erst recherchieren muss, was soziologisch unter der „Moderne“ verstanden wird und in welcher Phase der Moderne wir uns aus befinden, wird weniger Freude daran haben (oder eben viel recherchieren); es schadet auch nicht, wenn man schon ein paar einordnende Texte über die Probleme des aktuellen Regimes von Autonomie und Authentizität gelesen hat.
Aus meiner Sicht hätte Suhrkamp vielleicht ein etwas weniger „ratgeberiges“ Design wählen sollen, aber naja, die sind halt auch profitorientiert. Und mit wenigen Themen lässt sich so gut Geld im Buchmarkt verdienen wie mit der romantischen Liebe, dem großen Resonanzversprechen unserer Zeit. (Übrigens: Meine Frau hat nach der Lektüre der Einleitung mal wieder bedauert, damals nicht Soziologie sondern Literaturwissenschaft studiert zu haben. Man muss also nicht zwingend einen Soziologie-Abschluss dafür haben, aber ein paar Beziehungsjahre soziologischer Diskussionen schaden nicht.)
Prämoderne, Spätmoderne
Was erwartet einen nun im Buch? Vor allem viele Zitate: Eva Illouz sichtet einerseits Zeugnisse über die prämodernen Umstände des Liebeswerbens, vor allem bei Jane Austen, also für die obere Mittelschicht . Und zweitens Beispiele von moderner Partnerschaftssuche – von Internetforen über Zeitschriftenbeiträge bis hin zu Serien wie Sex and the City und Filmen wie Bridget Jones.
Ein Problem nun scheint mir darin zu liegen, dass die Romanwelt Jane Austens zwar viele interessante Details der Innensicht einer bemerkenswerten Autorin liefern, aber natürlich nur eine eingeschränkte Perspektive auf „die Liebe um 1800“. Die allergrößten Teile der damaligen Gesellschaft sind ausgeklammert, vor allem die einfache Landbevölkerung und das langsam entstehende Proletariat. (Ich finde auf die Schnelle nicht viele Quellen dazu, aber offenbar vervierfachte sich die Bevölkerung Englands von 1750 bis 1850 von knapp 6 auf über 20 Millionen Menschen.) Der Vergleich mit den wesentlich breiteren Quellen aus der Spätmoderne fühlt sich dann nicht mehr sehr repräsentativ, sondern eher eklektisch an. Aber interessant bleibt es allemal – man sollte sich dieser Einschränkung halt bewusst sein.
Dereguliertes Überangebot
Die Kernthese würde ich so zusammenfassen: Während um 1800 das Liebeswerben „klassen-endogam“, also innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen Standes, passierte und durch eine „Moral“ dieser Klasse definiert war, haben wir es heute mit einem deregulierten Heiratsmarkt zu tun. Die Marktmechanismen führen zu neuen Machtverhältnissen – in denen Männer aufgrund der stärkeren emotionalen Bedürftigkeit von Frauen mehr Macht haben und ausüben. Und darunter leiden beide Geschlechter. (Anmerkung: Zwar gibt es ab und an Aussagen von homosexuellen Interviewpartnerinnen und -partnern, aber insgesamt ist das Buch zu 98% auf heterosexuelle Zweierbeziehungen beschränkt.)
Zudem leiden wir an der Überfülle des Angebots, das in der Prämoderne begrenzt war, und an der individuellen „Schuld“, falls wir die falsche oder eine suboptimale Wahl treffen. (Die Verlagerung aller Schuld auf das Individuum, nicht nur im Feld der Liebe, ist ja ein spezifisches Merkmal der Spätmoderne, das im Buch sehr gut herausgearbeitet wird; eines der größten Verdienste.) Und wir wissen in Liebesdingen nicht mehr, was wir tun sollen, weil wir zwischen traditionellen und modernen Erwartungen, Handlungsweisen, Routinen und Gefühlen hängen: Größte romantische Leidenschaft(-serwartung) trifft auf totales Autonomiestreben beider Partner/innen.
Das „sexuelle Feld“
Illouz führt zeitweise auch einen Begriff des „sexuellen Felds“ ein, angelehnt an den Bourdieu’schen Feldbegriff. Leider bleibt dieser Begriff etwas unterentwickelt; zwar definiert sie ein „erotisches Kapital“, das in diesem Feld zur Statusverbesserung genutzt werden kann, aber löst z.B. nicht auf, was sie unter der Illusio dieses Feldes verstehen würde. Man kann natürlich selbst mutmaßen, dass es sich dabei um den Wert einer Liebesbeziehung an sich geht, aber auch hier hätte sich ja gewandelt (und aufgespalten, s.u.), worum es sich in diesem Feld zu kämpfen lohnt. Schade!
Die immer wiederkehrende These, dass Frauen feste Bindungen wollen und Männer sich von diesen eher abschrecken lassen, erklärt Illouz dann folgerichtig mit der Erwartung von Statusgewinnen auf diesem Feld: Während Frauen irgendwann aufgrund der „biologischen Uhr“ (bezogen auf Kinder, aber auch bezogen auf das erotische Kapital der Jugend) in Zugzwang geraten und eine Entscheidung treffen müssen, kontemplieren Männer länger über die perfekte Wahl. Die Frau erhofft sich Status durch eine feste Bindung, deren Wahrscheinlichkeit im Laufe der Zeit sinkt; Männer können ihren Status (v.a. gegenüber anderen Männern) auch mit vielen Partnerinnen zementieren.
Stimmt das alles mit der Welt überein?
Und da kommen wir zu meinem größten Problem mit dem Buch: Es deckt sich quasi überhaupt nicht mit meiner Erfahrung in der Welt. Wenn ich im Kopf meine 50 nächststehenden Menschen (Freundinnen, Familie, Kolleginnen) durchgehe, fällt mir (fast) niemand ein, auf den diese angeblich universelle moderne Problemstellung zutrifft. Ich rede bekanntermaßen gerne und viel, auch über Themen wie Intimität, Beziehungsleben und -probleme, und die im Buch skizzierte Ausgangslage ist mir dabei nahezu nie begegnet.
Wenn ich die modernen Probleme mit der Liebe subjektiv empirisch fassen sollte, käme ich auf zwei Komplexe:
- Wie findet man überhaupt irgendeinen Partner/Soll man überhaupt einen Partner suchen? – Eine Frage, die mir nicht erst seit Corona immer wieder begegnet, ist, dass Leute schlicht und ergreifend überhaupt niemanden finden. Es scheint keinen passenden Deckel zu geben.
- Wie ertrage ich meinen Partner? – Die überwiegende Mehrzahl der Menschen in meinem Umfeld befindet sich, nach Abschluss des Studiums und den ersten 5-15 Berufsjahren, in langjährigen Partnerschaften. Und hier stellt sich eher immer die Frage, wie man es schafft, über Mängel, Marotten, Fehltritte, überzogene Erwartungen, praktische Probleme (gerade mit Kindern!) hinwegzukommen.
Meine Welt besteht eher aus ewigen Singles und ewigen Paaren
Das erstgenannte Problem, schlicht niemanden zu finden, um „Beziehung“ überhaupt (wieder) auszuprobieren, kommt im Buch quasi nicht vor. Ewige Singles, „involuntary celibates“ oder auch Leute ohne (expliziten) Beziehungswunsch sehe ich in der empirischen Alltagswelt aber dauernd. Das sind viele. Mir scheint auch hier die Perspektive, wie in der Austen-Analyse um 1800, etwas eingeengt; große Teile der Bevölkerung sind nicht repräsentiert. Zudem geht sie, vielleicht bedingt durch die weibliche Perspektive, quasi nicht auf die Frage in, die sich viele Männer stellen dürften: Warum sind die anderen erfolgreicher als ich?
Das zweite Problem – den Alltag in einer langjährigen Beziehung ohne zu großes individuelles Leiden zu ertragen – ist im Buch zumindest implizit immer dabei; es liegt eben daran, dass unser Liebesbegriff hoffnungslos überladen ist. Zu diesem Komplex fand ich aber die Lektüre von „Resonanz“ oder „Unverfügbarkeit“ von Hartmut Rosa gewinnbringender; er analysiert systematischer, wie überzogene „Resonanzerwartungen“ dazu führen, dass wir Lebensbereiche (Resonanzachsen) wie das Beziehungsleben verfügbar zu machen versuchen, was gleichzeitig einer Minderung der eigentlichen Resonanzerfahrungen Vorschub leistet. Eine sehr paradoxe Spirale, der wir alle auf den Leim gehen (nicht-soziologisch gesprochen).
Jedenfalls arbeiten sich in meinem Umfeld mehr Menschen (meist zumindest temporär erfolgreich) an der Frage ab, wie die Beziehung nach 10 Jahren noch lebendig bleibt, als daran, wie man jemanden „bindet“ oder „sich vom Leib hält“.
Mars und Venus?
Feste, beständige und gegenseitig gewollte Bindungen auf der einen Seite und dauerhaftes Single-Dasein (ohne viele Affären etc.) auf der anderen: So stellt sich mir die Beziehungswelt dar. Das alles kann an meiner akademischen, eher jungen, tendenziell kinderfreien Mittelschichts-Blase liegen – aber die Diskrepanz zu „Warum Liebe weht tut“ fällt mir auf. Auch die behaupteten geschlechtsunterschiedlichen Präferenzen – Frauen wollen Bindung, Männer nicht – kann ich nicht oft beobachten, seit die Leute aus ihrer wilden Jugend raus sind; und wenn, dann nur temporär in kurzen Phasen zwischen Beziehungen.
Auch kann ich folgende Schlussfolgerung aus der Moderne-Analyse nicht unbedingt teilen (S. 540): „Unter den Bedingungen der Moderne verfügen Männer über eine weitaus größere sexuelle und emotionale Auswahl als Frauen[.]“ Ich zweifle allerdings auch an der (scheinbaren?) Gegenthese der reinen Frauenwahl (exemplarisch: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/liebe-und-partnerschaft/meike-stoverock-interview-90556 – leider hinter einer Paywall). Mir scheint die Welt komplizierter, als es diese Analysen darstellen.
Was gut ist: Selbstwert-Analyse, Verfügbarmachungen, Autonomie und Eigenverantwortung
Andere Analysen kommen mir bekannt vor, zum Beispiel: Obwohl wir viele Strategien der Bewältigung für Liebeskummer erworben haben (von Abgeklärtheit und Autonomie bis zu Ironie und Zynismus), tut die Liebe weiter weh – nur anders und aus anderen Gründen. Umformuliert: Wir haben Mechanismen der Verfügbarmachung, aber die Verfügbarkeit stellt sich nicht ein. Das erklärt die Resonanztheorie aber m.E. klarer und allgemeiner, aber eben nicht so fokussiert und mit vielen Belegen zur Beziehungswelt.
Auch die Analyse, dass wir unseren modernen „Selbstwert“ erheblich an romantische Erfolge klammern (während früher eher ein Wert der Person aus ihrer Einheit mit ihrem gesellschaftlichem Stand rührte), ist plausibel – und „Warum Liebe weh tut“ ist eine grandiose Beleg- und Quellensammlung zu diesem Problem.
Und schließlich wird sehr zentral der individuelle Konflikt beleuchtet, für Wohl und Wehe auf dem erotischen Feld selbst verantwortlich zu sein: Misserfolge in der Welt der Liebe werden dem Individuum attribuiert, es ist „schuld(ig)“ und muss sich durch eine ausufernde Ratgeber-, Coaching- und Therapie-Industrie helfen lassen.
Insgesamt hätte mir etwas mehr Statistik gut gefallen. Eine Behauptung wie „Männer haben mehr kurze Affären als Frauen“ lässt ja klare statistische Folgerungen zu: Bei einer 50/50 Verteilung beider Geschlechter heißt das u.a., dass viele Männer Affären mit den gleichen Frauen haben, sonst hätten ja auch wiederum viele Frauen viele Affären. Bei so etwas interessiert mich prinzipiell die Rechnung dahinter.
Fazit
Wer Schwächen im Buch sucht, findet einige:
- der Aufbau des Buches erschließt sich mir nur zum Teil, die Kapitel wirken oft austauschbar;
- nach 100 Seiten mit je dreimaligem Auftreten der Floskel „Ökologie und Architektur der romantischen Wahl“ hatte ich tatsächlich nur noch das Gefühl einer Floskel;
- die Quellenwahl wirkt teils beliebig bzw. gewollt, „to make a point“;
- es fehlt ein Index;
- Man kann außerdem bestreiten, dass aller Status aus der männlichen Perspektive entstammt und man kann bemängeln, dass Perspektiven abseits der monogamen heterosexuellen Beziehung fehlen.
Aber: Es bieten sich überall zahllose Anknüpfungspunkte zum Weiterdenken, insbesondere in der Betrachtung von Coaches, Ratgebern und Psychotherapie als Verstärkern des bestehenden Systems. Dafür liebe ich soziologische Arbeiten – sie untersuchen eben immer das ganze Phänomen (jedenfalls so, wie sie es verstehen und definieren) und geben bereitwillig Auskunft über Methoden und Gedankengänge.
Das führt zu vielen interessanten Beobachtungen, Studienzitaten, Analysen und der Aufdeckung von Mikro-Mechanismen des alltäglichen Handelns. Insgesamt ist das Buch etwas lang geraten; mir hätten 70% des Umfangs gereicht, an einigen Stellen hatte ich – siehe oben – ein gewisses Gefühl von Redundanz.
Wer sich mit der romantischen Liebe in der Spätmoderne beschäftigen möchte, findet hier einen soliden ersten Ansatzpunkt und viele theoretische Anknüpfungspunkte. Wer sich für soziologische Analysen begeistern kann, findet unterhaltsame Lektüre. Wer nach einem Ratgeber sucht, seine eigenen Beziehungsprobleme zu beackern, ist wohl im psychotherapeutischen Regal besser aufgehoben. Insgesamt keine Pflichtlektüre, aber lohnenswert.
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