Bekanntermaßen co-administriere ich seit 2015 das Infoportal digital-danach.de, rund um digitalen Nachlass, Trauer im Online-Zeitalter etc. Recht offensichtlich passiert dort seit ca. 2020 nicht mehr allzuviel. Irgendwann haben wir die Startseite von einer dynamischen „neueste Artikel“ auf eine statische Seite umgestellt. Damit sind klar vom Anspruch abgerückt, immer die aktuellsten Entwicklungen zu dokumentieren; das wurde einfach zu viel Arbeit und brachte irgendwie zu wenig ein (monetär, emotional, intellektuell).
Weshalb ich mit dem immer mitschwingenden Vorsorgegedanken inzwischen fremdle, habe ich hier dokumentiert (bezeichnenderweise in meinem privaten Blog, nicht auf der Projektseite). Trotzdem kann ich mich innerlich nicht dazu durchringen, das Projekt „sterben zu lassen“. (Mal außer Acht lassend, dass das ja nicht meine alleinige Entscheidung wäre; mir geht es hier nicht um die Dynamik eines Teamprojekts, sondern ganz generell um die Frage des Aufhörens).
Contents
Reflexionen übers Aufhören
Drei akute Anlässe bringen mich jetzt dazu, mir dazu schreibend Gedanken zu machen:
- Ich verfasse gerade Motivationsschreiben für Studiengänge, da ich ab dem kommenden Wintersemester plane, mit ein paar Sabbaticals meinen Master „nachzuholen“. Und das zwingt zum „biographischen Schreiben“. (Fun fact übers Aufhören: Das ist deutlich leichter, wenn man es sich selbst als Pause verkauft. So habe ich mir vor ziemlich genau 10 Jahren nach dem Bachelor erklärt, ich könne ja jederzeit noch den Master machen; daran habe ich bis vor einem guten Jahr allerdings nicht so wirklich geglaubt. Jetzt passiert’s voraussichtlich doch, aber ich schweife ab; der ganze Sabbatical-Plan verdient einen eigenen Blogpost.)
- Ich habe am Wochenende lang mit jemandem* über biographisches Schreiben diskutiert.
- Ich lese gerade Alexis Kennedys „Against Worldbuilding“ und darin gibt es einen schönen Text über die Leichtigkeit des Anfangs und die Härte des Endes mit dem Titel „Knowing When To Stop“ – auch wenn es da um Storytelling, Narration und Gamedesign geht. Da Alexis Kennedy deutlich besser schreibt als ich, nehme ich es niemandem übel, hier die Lektüre abzubrechen und stattdessen seine Kolumne zu lesen. Immerhin habe ich dann hoffentlich eine interessante Lektüre angestoßen.
Oder kurz gesagt: Ich will mir selbst mal erklären, warum ich mit dem Projekt digital-danach.de noch nicht aufgehört habe. Denn mir ist klar, dass ich es nicht wieder als Haupt-Nebenprojekt aufnehmen will. Ich habe auch kein großes Interesse, mich dauerhaft intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen. Zum Beispiel bin ich Ende 2021 über die mir vorher unbekannte „Digital Legacy Conference“ gestolpert, aber ich habe gerade zu viel um die Ohren, um mich damit näher zu befassen.
An Gründen, doch noch nicht aufzuhören (also simpel gesagt: alles offline zu nehmen), fällt mir einiges ein:
Die ganzen schönen Erinnerungen!
Wir haben mit dem Projekt ja schon recht viel Schönes erlebt:
- diverse Live-, Telefon- und Mail-Interviews geführt und darüber nette Menschen kennengelernt
- zwei Konferenzen organisiert und moderiert, eine auf dem Hamburger Waldfriedhof Olsdorf, eine bei Microsoft in München, mit 60 respektive über 100 Teilnehmenden
- zahllose Vorträge gehalten, von lokalen Vereinen bis hin zur republica 2017
- der Presse und sogar dem Fernsehen Interviews gegeben, was auch aus medienkritischer Sicht sehr interessant war
- viele Reisen unternommen
- viele Dinge gelesen, ausprobiert und recherchiert
- viel (zumeist positives) Feedback bekommen
- uns einen Expert|innen-Ruf aufgebaut, der nachwirkt (s.u.)
Natürlich gab es auch unschöne Seiten; Konferenz-Sponsoren, denen man elf Mahnungen schicken musste und Kooperationspartner, die sich als weniger kompetent und zuverlässig erwiesen, als es am Anfang schien. Und das generelle Problem, aus diesem Thema mit diesen Mitteln genug Geld zu holen, um (wenigstens nebenberuflich) weiterzumachen, also sozusagen die Kosten und ein paar Opportunitätskosten zu decken.
Aber die Erinnerung verklärt, und daher ist der nachträgliche Eindruck (zumindest bei mir) ein deutlich positiver. Dazu trägt bei, dass sich mein jetziger Brotjob aus diesem Projektjob ergeben hat.
Klar, das kann man nun als „sunk cost fallacy“ betrachten, aber nachdem quasi keine neuen Kosten entstehen (Server, Domain und ein paar Stunden „Wartungsarbeit“ im Jahr sind nicht nennenswert), sehe ich das nicht so kritisch. Oder doch? Schließlich stehe ich und stehen wir alle paar Monate vor der Frage, was wir jetzt mit der Seite machen und ob wir sie nicht vielleicht doch besser abschalten; ob wir Anfragen annehmen oder nicht (s.u.). Die meiste andere Zeit verdrängen wir das Problem aber einfach. (Und vielleicht ist es ja auch kein Problem, nachdem es keine Ressourcen frisst, außer ein wenig Aufmerksamkeit ab und an.) Die Website dient jedenfalls als schönes Erinnerungsalbum.
Kann ich wirklich drauf verzichten?
Ein schwieriger Grund, nicht aufzuhören: Kann ich vor mir selbst rechtfertigen, zu sagen, dass ich aufhöre? Ist das ein Scheitern? Eine Reißleine? Oder einfach ein … Ende? Um den etwas reißerischen Titel aufzugreifen: Darf man bei der Begleitung eines sterbenden Projekts aufgeben und aktiv einen Schlußstrich ziehen, oder muss man warten, bis es natürlich endet und „nur“ beobachten?
Und: Wodurch ersetze ich die Funktionen eines solchen Projekts, insbesondere die identitätsstiftenden? Ich wäre dann nicht mehr „der Experte für digitalen Nachlass“ bzw. könnte das schlechter nachweisen. Als digital-danach.de noch „so ein bisschen“ lief, kam hinzu, dass ich mich fragte, womit ich denn sonst meine Freizeit „sinnstiftend“ (lies: leistungsethisch vertretbar) füllen könnte.
Sowohl das Corona-Hobby Musikmachen als auch die schon erwähnten Sabbatical-Pläne haben hier aber ganz guten Ersatz geliefert. Und mit dem dpr-Bibliotheksheft ist auch ein bisschen was Nebenberufliches vorhanden. Damit werde ich dem spätmodernen Anspruch nach Authentizität und Autonomie, Identität und Sinnstiftung auf andere Weise gerecht, und momentan reicht mir das. Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, dass das Aufgeben eines identitätsstiftenden Projekts (Job, Partner, …) zur echten Belastungsprobe werden kann.
Die laufenden Kommunikationsanschlüsse
Die Seite hat immer noch einige hundert Besucher im Monat, und vor allem sorgt sie immer wieder für Kommunikation: Einerseits kriege ich ca. 2 Mails im Monat, wo jemand nach einer konkreten Lösung für ein konkretes Problem fragt. (Etwa: „Wie kann ich auf diese Seite meines vor einem Monat verstorbenen Bruders zugreifen?“) Das stellt mich dann oft vor ein Dilemma: Ich will auf jeden Fall helfen, bin aber weder up-to-date noch habe ich praktische Erfahrung mit dem jeweiligen Dienst. Allermeistens hilft es allerdings schon, auf ein paar simple Schritte zur Selbsthilfe hinzuweisen oder schnell eine Kontaktmöglichkeit des betreffenden Supports rauszusuchen. Und letztlich ist eigentlich jede(r) dankbar, überhaupt eine Antwort zu bekommen.
Und dann gibt es ab und an Mails von Pressemenschen, Forschenden, Unternehmen und Auftraggebenden. Letzteres sind fast immer Vortragsangebote. Vorträge halten macht Spaß und ist oft befriedigend, aber es ist auch jedes Mal aufreibend und vorbereitungsintensiv, daher bepreise ich diese Anfragen meist prohibitiv hoch. (Wenn jemand anbeißt, lohnt es sich wenigstens; wenn nicht, bin ich froh, keine Arbeit damit zu haben.)
Unternehmen, die in unserer Dienstleister-Liste aufgeführt werden wollen, kommen fast immer rein – auch wenn mich jedes Mal wurmt, dass ich diese Liste eigentlich mal aufräumen und zumindest die inaktiven/toten Angebote entfernen müsste. (Ich wäre froh, wenn die einfach ihre Seite offline nehmen würden, sodass es nicht so rechercheintensiv ist, herauszufinden, wie ihr Status ist.)
Von Presseanfragen und Forschungsprojekten fühle ich mich meist geschmeichelt. Und ich bin oft auch mit dem Ergebnis zufrieden, sodass ich diesen meistens zusage. In unserer Aufmerksamkeitsökonomie ist ein weiteres Interview irgendwo besser als keines, oder? Oder?
Für meine bisherige Entscheidung, das Portal nicht abschalten zu wollen (oder besser: für das Nichttreffen der Entscheidung, es abzuschalten), ist die konstante Nachfrage jedenfalls der wichtigste Grund. Einerseits ist das jedes Mal eine kleine Auszeichnung, dass unsere Arbeit gut war. Und andererseits habe ich immer wieder das Gefühl, dass der Content noch jemandem hilft.
Was jetzt damit?
Ich weiß es nicht. Das wird die Zeit zeigen. Dieser Text jedenfalls ist nun zu Ende.
* Nennen wir ihn DW, denn ich weiß nicht, mit welchen Rollen- und Eigennamen er hier tituliert zu werden wünscht. Schreib es einfach in die Kommentare, DW!
1 Gedanke zu „Hospizarbeit für ein Projekt: Ein paar Gedanken übers Aufhören“