WS24/14: Meinungsvielfalt, Politik und viel Mythos

Wer das Leben liebt, liest nicht. [D]er Zugang zum künstlerischen Universum ist mehr oder weniger für jene reserviert,
die ein wenig die Schnauze voll haben.
(Michel Houellebecq, „Gegen die Welt, gegen das Leben“)

Das Semester springt seinem Ende entgegen. Das wird auch aus der dieswöchigen Themenwahl deutlich: Ich war nicht in Jena und habe dort auch nur ein Seminar verpasst — alles andere entfiel. Ich bin gerade gar nicht böse; denn nach dem Pensum der letzten 13 Wochen plus intensiver (Re-)Lektüre von Material für meine Masterarbeit bin ich etwas … durch. Ich brauche dringend mal wieder andere Inhalte für mein Hirn.

Daher gucke ich Fargo, spiele Computerspiele wie „The Sinking City“ und lese wild in der Gegend herum. Aber auch dabei wird man so gewisse Studieninhalte nie los …

Sprache und Geschlecht

Hier gibt es einen langen, sehr interessanten Reader über „Sprache und Geschlecht“ — ich finde den vor allem auch technisch sehr gut gemacht (hab ich aber nur am Rechner ausprobiert), weil man eine Kurzfassung präsentiert bekommt, aber bei tiefergehendem Interesse auch in weitere Artikel gucken kann. Die Aufbereitung der „Fußnoten“ zu Links in der Sidebar finde ich sehr gelungen. Inhaltlich stecken da sehr viele spannende Details drin. Sprachistorys z.B. gehen davon aus, dass in frühen Sprachen eher „belebt/unbelebt“ als „grammatisches Genus“ verwendet wurde.

Ein bisschen verkürzt sind vielleicht Aussagen wie: „Entgegen manchen Behauptungen wird niemand zur Nutzung des Gendersternchens gezwungen.“ Das mag sein, aber in vielen Kontexten wird man schief angeguckt, wenn man jeweils gendert, oder eben auch nicht. Ob man das als „Zwang“ definiert, hängt dann sicherlich von der Situation ab; aber einen gewissen Druck, sich zu „bekennen“, beobachte ich zumindest im Uni-Alltag auf jeden Fall. (Ich hatte ja neulich auch mal einen Artikel im Blog verlinkt, der das so ausdrückt, dass man sich „performativ“ nicht entziehen kann, Stellung zu nehmen: Man muss entweder gendern, nichtgendern oder sich peinlich darum herumdrücken.)

Meinungsvielfalt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk

Mensch, ist das heute politisch hier! Eine Studie der Uni Mainz hat untersucht, wie die ÖR-Medien Vielfalt abbilden und wie selektiv sie dabei Vorgehen. Fazit: Ausgewogen, aber negativ.

Die Studie zeigt, dass alle untersuchten Formate sämtliche Parteien negativ bewerten. Diese negative Darstellung könnte laut Maurer beim Publikum den Eindruck erwecken, dass keine Partei fähig sei, die aktuellen Probleme zu lösen. „Das kann ja für die Demokratie auch nicht gut sein“, warnt Maurer. Die Studie stellt außerdem fest, dass progressive Bewertungen dominieren und es an konservativen sowie marktliberalen Positionen mangelt. (SWR-Interview zur Studie)

Eine Sache, die dem wiederspricht: Im ÖRR wird niemals positiv über die Linke berichtet; sogar über die AfD gibt es mehr Positives. Hier die entsprechende Grafik:


(Studie S. 14)

Da kann man sich dann natürlich fragen, auf welche Weise es „wichtig“ ist, wie berichtet wird. Der AfD scheint schlechte Presse nichts auszumachen, im Gegenteil. Ihre Themen kriegt sie auf die Agenda, ob sie nun affirmativ oder kritisch „begleitet“ wird. Und ein blinder Fleck der Studie ist natürlich, dass über generelle Alternativen (sagen wir: die Revolution des Proletariats) nicht berichtet wird.

Etwa bedenklich ist dann der Ausblick der Studie, man solle doch mal besser positiver berichten … das verkennt a) deskriptiv die „Eigendynamik“ der Massenmedien und b) präskriptiv deren Aufgabe. Aber vielleicht erwartet uns ja diese Polarisierung: Offizielle Jubelmedien gegen überkritische Social Media …?

(Gefunden bei fefe)

Jacobin „Artificial Intelligence“

Empfehlenswerte Ausgabe des Jacobin zum Thema Sprachalgorithmen, „Künstliche Intelligenz“ etc. Ich hatte schon mal auf einen lesenswerten Artikel von Leif Weatherby hingewiesen, der LLMs als „ideology machines“ betrachtet; im doppelten Sinn: Sie stellen Ideologie her, und sie machen die herrschende Ideologie sichtbar. Von Weatherby findet sich auch in dieser Ausgabe ein sprachphilosophischer Aufsatz, der Marx und Chomsky zusammenbringt und über Auswirkungen auf Kommunikation nachdenkt.

Garrison Lovely schreibt über verschiedene AI-Safety-Diskurse. Dabei bleibt der beunruhigende Eindruck, dass es völlig egal ist, ob wir irgendwann von Roko’s Basilisk oder einer Artificial General Intelligence abgeräumt werden — der Weg dahin kann für (fast) alle unangenehm genug werden. Das wäre aber vermutlich mit „Superintelligenzen“ in Form haftungsbeschränkter Organisationen auch nicht großartig anders, technische Entwicklung hin oder her … Auffällig: Da spielen insgesamt nur sehr wenige Frauen mit.

So, das war mir nun genug Pessimismus, ich betrachte mich jetzt als systemtheoretisch informierten Tech-Nihilisten. Und gehe Paperclips machen.

Lektüren mit latentem MA-Bezug

Nebenbei gab es noch Zeit für ein paar Bücher mit mehr oder weniger MA-Bezug.

„Widerstände der Systemtheorie“

Ich hatte den Band schon mal erwähnt. Es ist interessant, wie lang knappe 25 Jahre scheinen können, wenn man sich die Beiträge und damaligen Rezensionen anguckt. Hier geht es vor allem um „Dekonstruktion“ und Psychoanalyse, Kittler und Technikgeschichte, die „widerständig“ gegen die Systemtheorie optieren. Vielleicht bin ich in kulturwissenschaftlichen Diskursen aber auch einfach nicht drin.

Damals hat das jedenfalls einiges an Echo erzeugt:

  • Eine FAZ-Rezension, die moniert, dass „Theorieangebote Luhmanns“ wie „Evolution oder strukturelle Kopplung“ unterbelichtet bleiben und Ethik keine Rolle spielt.
  • Eine Rezension von Oliver Jahraus, der auf die Kritik der Systemtheorie als Ideologie abhebt. Gegenüber der Kritischen Theorie muss eine „Theorie, die kein Sensorium für eine Gesellschaftskritik besitzt, die aber andererseits einen immensen Aufwand für die Beschreibung des Funktionierens der Gesellschaft betreibt, […] provozieren“, oder anders: Wie immer steht die Systemtheorie unter dem Verdacht, affirmativ statt kritisch zu sein.
  • Eine kulturtheoretische Rezension, die einige begriffliche Probleme sowohl mit „Gesellschaft“ als auch mit „Kultur“ sieht und fragt: „[L]ässt sich darin allein ein systemtheoretisches Problem oder doch eines der Kulturtheorie selbst erkennen, die auf der Suche nach ihrem Gegenstandsbereich und methodischen Rahmen ebenfalls nicht zur Ruhe kommt?“

Kritische Theorie (was immer man darunter versteht) und manche (Post-)Strukturalismus-/Dekonstruktions-Ansätze scheinen mir tendenziell davon auszugehen, dass Dinge funktionieren (sollten), um dann Dysfunktion zu kritisieren. Luhmann geht andersherum vor: Gelingen ist unwahrscheinlich; wenn es dennoch passiert, muss man das erklären. Alles andere ist Erwartung.

Und: Mein Eindruck ist ja, dass die Systemtheorie eher „vergessen“ ist als „kritisiert“. Das kommt ggf. einfach durch die mangelnde Überprüfbarkeit; und erklärt dann auch, warum Derrida und Co. nicht mehr sehr in Mode sind. Da gilt das Gleiche. Die momentanen Fachdiskurse scheinen sich eher auf „Methodisches“, mittlere Reichweiten etc. zu fokussieren (und da passt ja auch eine Resonanztheorie wunderbar hinein; sie ist universell anwendbar, aus ihr folgt nicht viel, und auch Fachexterne können sie leicht zur Grundlage des nächsten Vorworts machen).

„Lovecraft Annual“

Außerdem kann ich allen, die sich gerne mit H.P. Lovecraft und dem Mythos auseinandersetzen, dringend empfehlen, mal die Archive des „Lovecraft Annual“ zu durchstöbern.

Einige Fundstücke, die ich diese Woche (auch mit Bezug auf eine Wiederbeschäftigung mit den „Weird Harmonies“) durchgesehen habe:

Es juckt mich nun doch in den Fingern, der MA noch einen Anhang „Theorieanwendung am Beispiel des (Cosmic) Horror“ beizustellen … mal sehen.

„Artificial Communication“: Wie sind Computer an Kommunikation beteiligt?

Außerdem habe ich mit Elena Espositos kurzem (und teils trotzdem etwas redundantem) Büchlein „Artificial Communication“ angefangen, und ich lese auch in der „Gesellschaft der Gesellschaft“ herum auf der Suche nach Aussagen zum Computer. Dazu passend habe ich „‚Hello World‘ – Systemtheoretische Überlegungen zu einer Soziologie des Algorithmus“ von Harth und Lorenz noch einmal gelesen, einen Aufsatz, der diese Spurensuche auf Fuchs und Baecker ausweitet. Dabei tritt dann immer wieder die „anthropozentrische Last der Systemtheorie“ zu Tage, die (glaube ich) verhindert, dass sich der systemtheoretische Kommunikationsbegriff sinnvoll auf Algorithmen und Models anwenden lässt. Das ist sozusagen das Kontrastprogramm zum obigen Jacobin-Thema „Künstliche Intelligenz“.


Beitragsbild: Main-Donau-Kanal. Kein Bezug zu den Themen dieses Artikels. Vielleicht ein loser Bezug zum Fußballseminar, weil sich Nürnberger Ultras auf der Brücke verewigt haben.

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