„Ich hab nicht zurückgeschrieben, weil ehrlich, digga, was will die von meinen Eiern.“
(Ein jugendliches Mädchen zu einem anderen, in einer Nürnberger U-Bahn, 2023)
Langsam ruckle ich ins Schreiben der MA. Ich merke, dass mir neue Lektüren (s.u.) immer weniger neues Material anspülen, sondern vor allem weitere Beispiele und Belege. Das größte Problem ist momentan die Struktur: Wie anfangen …? Wie enden?
Das angemeldete Thema lautet übrigens: „Körper, Sprache, Emotion. Gefühle als symbiotischer Mechanismus der Sprache“. Insgesamt habe ich vermutlich schon mehr Material, als ich brauche, um die Arbeit zu füllen. Aber mir fehlt noch der entscheidende kleine Wink, wie es zu ordnen ist. Ordnen heißt ja auch immer, sich auf einen blinden Fleck festlegen. Vermutlich starte ich mit einer Liste möglicher Unterscheidungen zum Thema Gefühle: Fühlen/Denken, authentisch/dargestellt, intensiv/latent, positiv/negativ, deutlich/diffus, Gefühlskommunikation/Kommunikation über Gefühle. Und dann arbeite ich mich fix durch zum Zusammenhang Körper-Sprache, Sprache-Gefühl. Oder so.
Ich bitte jedenfalls zu entschuldigen, dass die Blogbeiträge gerade wieder länger werden. Aber ich brauche das als Lerntagebuch und zum Ausprobieren dummer Gedanken, die mich nur Zeit kosten, wenn ich sie zur Grundlage meiner Arbeiten mache — und dann feststelle, dass sie nichts taugen. Da fällt irgendwie auch schon das erste heutige Thema rein:
Contents
True Crime
Meine (langen) Überlegungen zu True Crime, deren Verwertbarkeit als Fallbeispiel für die MA sowie einen Exkurs zum Thema „Erlebnismagazine“ habe ich ausgelagert. Spoiler:
Vielleicht komme ich nach Weihnachten mal zu einer tiefergehenden Sichtung von Studien und Theorien, aber den Anfang fand ich nicht so ermutigend. Das Phänomen ist spannend, aber schwer einzuordnen. Es ist kaum systematisch erforscht und müsste erstmal sehr aufwändig bestimmt und abgegrenzt werden. Ich bin jedenfalls aktuell nicht davon überzeugt, dass „True Stories“ emotional anders wirken als fiktive.
Bitte hier entlang. Und: Gebt mir gerne weiterhin Input zum Thema; auch, warum ihr True Crime nicht mögt, falls dem so sein sollte.
Uni
Die letzte Woche vor der Ausfahrt!
S&G: Gendern oder nicht gendern, das ist hier die Frage
Eine Vertiefungseinheit, in der viele der bisherigen Inhalte zusammenkamen, am Beispiel des hier verlinkten Gendern-und-Sprachideologie-Textes. Leider eine etwas zähe Sitzung, weil unter 6 Teilnehmys keine rechte Diskussionslaune aufkommen wollte.
Ich erinnere mich daran, dass vor ca. 20 Jahren Organisationen wie der „Verein deutsche Sprache“ (ein Sprach-Verein, der es nicht schafft, seinen Vereinsnamen in vernünftigem Deutsch zu formulieren) gegen Anglizismen wetterte; heute ist es eben „Gendern“. Übrigens, zur Einordnung des Klassenstandpunkts weiß die Wikipedia: „Seit 2003 ist der VDS Partnerverband im Bundesverband mittelständische Wirtschaft.“
Es bleibt die Frage, warum das ein so emotional aufgeladenes Thema ist; weil es um Macht und damit Ansprüche geht? Um Normalitätsvorstellungen? Um so etwas wie eine „Identität“, deren Reproduzierbarkeit man nicht mehr garantieren kann, wenn sich Formen und Begriffe laufend ändern? Oder geht es gar nicht um „Sprache“ und „Sprechen“? Schließlich könnten sich derartige Debatten auch an Kreuzeszeichen in öffentlichen Gebäuden, Tempolimits auf Autobahnen, eine schwarz-rosa-goldene Umgestaltung der BRD-Flagge „symbolisch verankern“. Vielleicht geht es mehr darum, dass sich eine Seite angegriffen fühlen und gegenangreifen kann …?
Mir geht jedenfalls die Gestik der Gender-Gegnys sehr viel mehr auf die Nieren als die der Gender-Mainstreamys. Vor allem von denen, die „gänn-dern“ statt „dschendern“ sagen. Daher bleibe ich vorerst weiterhin softer Vertrety des Entgenderns, vor allem aus provokativen Gründen.
Wenn man sich dann aber anguckt, dass der Sprachgebrauch heutiger junger Frauen „digga, was will die von meinen Eiern“ inkludiert, ist die Gender-Diskussion vielleicht auch einfach eine akademische Blase, die in Massenmedien anschlussfähig ist. Jetzt geht’s erstmal nach Genderkingen, nicht nach Genderqueens.
Fußball
Kommerzkritik und Ultras. Eine Frage habe ich mitgenommen: Menschen regen sich über hohe Fußballer-Gehälter auf. Es kam die These ins Spiel, dass das einer der wenigen Fälle ist, wo sich nicht über Eliten-Gehälter (Manager, Bahnvorstände) aufgeregt wird, sondern über „Arbeitergehälter“. Ich habe dann in Frage gestellt, ob man Fußball-Stars als „Arbeiter“ betrachten kann. Die Kritik kam natürlich aus einer marxistischen Position, und ich habe dann vorgeschlagen, dass man auch mal darüber nachdenken könnte, ob die Stars nicht eher Produktionsmittel oder sogar das Produkt darstellen. Ich habe aber keine Lust, da weiter drüber nachzudenken, daher schenke ich euch die Frage zu Weihnachten!
K&Ü
Luhmann! Die Codierung der Knappheit in Eigentum, Geld und Co. Sehr spannend, zumal mir noch immer nicht ganz einleuchtet, wieso eigentlich Paradoxien Anschlüsse blockieren und daher „versteckt“ werden müssen. Ist Kommunikation so logisch …? Selektionsverwirrung? Die Frage schenke ich mir selber zu Weihnachten, denn die muss ich für meine MA vermutlich klären.
Emotionslektüren: Symbiotische Mechanismen und anderes
Ich weiß, es wäre mal wieder Zeit für einen Sammelbeitrag, was sich in meiner MA inhaltlich tut, aber aktuell sichte ich vor allem Aufsätze und Fundstücke hinsichtlich ihres Emotionsbezugs.
Emotionales
Emotionsrelevante Fundstücke:
- Die emeritierte Geschichtsprofessorin Ruth Leys im Interview über die aktuelle (2017) Gefühlsforschung, deren blinde Flecken etc. — nicht voll zustimmungsfähig, aber inspirierend.
- „Geschichte der Gefühle“ von Nina Verheyen: Ein kurzer Abriss der Emotionsgeschichte von 2010. Es gibt Neueres, aber dieser Text nennt das meiste auch „gegenwärtiger“ Relevante.
- „Emotionssoziologie“ von Katharina Scherke — eine ganz neue Neuerscheinung, eine Woche alt. Sehr angenehmer Stil und eine strukturierte Einführung ins Themengebiet. Daraus werde ich viel zitieren.
Symbiosen, symbiotische Symbole, symbiotische Mechanismen
Es ist gar nicht so leicht, zu diesem Theoriestück Ausführliches zu finden. Das brauche ich aber, denn schließlich muss ich für meine MA erklären, wie aus Sprache Erfolgsmedien und aus Gefühlen symbiotische Mechanismen wurden. Also:
- Es gibt von Luhmann den Aufsatz „Symbiotische Mechanismen“ (1974), auch erschienen in „Soziologische Aufklärung“, Band 3.
- Er erwähnt die Symbiosen in „Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien“ (1975), auch erschienen in SA, Band 2.
- Er erwähnt sie in „Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?“ (1988), auch in SA, Band 6.
- Und schließlich kommen die meisten der Aussagen obiger Texte in „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ (1998), S. 378–82, erneut vor.
Richtig tolle Anschlüsse bei anderen Theoretikerinnen und Theoretikern habe ich nicht gefunden. Dirk Baecker interpretiert meines Erachtens etwas arg frei, wenn er in „Eine Zeitenwende?“ die Stadt (!) als Symbiosis interpretiert. Da bleibe ich lieber dabei, Symbiosen zunächst als (für Krisen und Infragestellungen relevante) Regulative zu verstehen, die an Erfolgsmedien hängen. Für „die Stadt“ bräuchte es vielleicht eher eine spatiale Dimension von „Sinn“ …?
Eine interessante Verwendung gibt es bei Daniel Lüdecke (der von der Zettelkasten-Software), allerdings schon vor mehr als 15 Jahren. Er interpretiert „Nutzerorientierung“ als Symbiosis, die auf den Plan tritt, wenn in gekoppelten Sozialsystemen (hier: Pflege- und Medizinsystem?) Probleme auftreten. Das wäre mir so noch zu unspezifisch, aber ich biete als damit zusammenhängende Emotion „Frustration“ an …
Zum Schluss noch ein Kuriosum: „Symbiotische Mechanismen im ‚Erec‘ Hartmanns von Aue“ versucht, Gewalt und Freundschaft anhand der Differenz Symbiosis/Erfolgsmedium zu klären. Das scheint mir auf den ersten Blick etwas unsozilogisch und anachronistisch — im 12. Jahrhundert gab es ja noch keine Funktionssysteme, Erfolgsmedien und Symbiosen, damals gab es halt … Gewalt. Die Gewalt (und vor allem deren Androhung) ins Politiksystem zu verschieben, macht ja gerade die Moderne aus. Aber es ist ein sehr interessanter Anwendungsfall!
Sonstiges
Und zwei Sammelbände:
- „Systemtheorie und Gesellschaftskritik“ (schon wieder Transcript), was mir ggf. für meine Essays in „S&G“ zupasse kommt (gefunden in „Ungleichheit und Systemtheorie“ bei sozialtheoristen.de)
- „Widerstände der Systemtheorie“ mit u.a. einem Aufsatz „Luhmanns unheimliches Argument“ von Anton Schütz. Ein ganz kurzes Zitat (S. 109): „Das unheimliche Argument Luhmanns liegt in einer Entsagungsfigur […] Wie hält die Gesellschaft den Entzug des Artikels Repräsentation der Gesellschaft von sich selbst in sich selbst aus? Unheimlich auch darin, daß die Tradition keine andere Inkarnation der hier angesprochenen Entsagung kennt als die persongewordene Unheimlichkeit, nämlich den Teufel.“
Und damit sind wir beim nächsten Thema:
„In the Dust of this Planet“
Ansonsten habe ich Eugene Thackers „Horror of Philosophy“, Band 1, gelesen. Immerhin geht es um „kosmischen“ Horror; Thomas Ligotti hat ein euphorisches Zitat für die Bewerbung beigesteuert; und das Buch war wohl eine große Inspiration für Rust Cole aus der ersten Staffel „True Detective“.
Einige Gedankengänge sind interessant, aber der Autor kann sich bei zwei Unterscheidungen nicht festlegen:
- Ist das nun alles ernst gemeint oder nicht? Der Epilog bezieht sich auf ein Gedicht, das angeblich in „blogs, forums and even scholarly journals“ zirkuliere; der Beleg für das „Journal“ ist angeblich von „Sonia Haft-Greene“ herausgegeben, und ich wette, jeder, der das Buch liest, weiß, dass es sich dabei um HPLs Ehefrau handelte. Das ist also unter Garantie ein Hoax; nur passt das nicht zum Rest des Buches. Oder …?
- Will er nun Aristoteles, Kant, Schopenhauer, Heidegger anhand von Horror erklären, oder umgekehrt? Am Anfang wirkt es, als setze er keine Kenntnis dieser Autoren voraus; am Ende, als erwarte er Philosophie-, aber keine Horror-Expertise. Das verwirrt, wirkt nicht aus einem Guss und ruiniert den Stil.
Ein Grundproblem des Buches scheint mir darin zu bestehen, dass Thacker Fragen klären will, die nunmal unklärbar sind; er stellt „Was“-Fragen, also ontologische und metaphysische „Essenz“-Fragen, statt nach einer Funktion und einem „Wie“ zu forschen. Wir werden nicht rausfinden, *was* das Leben ist, aber wir sind ganz gut darin, zu erklären, *wie* das mit dem Leben und leben funktioniert.
Anderes ist spannend, etwa eine Monster-Typologie anhand aristotelischer „Bestandteile“ des Menschen und sozialer Konfliktlinien. Wer auf sowas steht, findet in dem Buch eine nette Lektüre. Wer das grundlegende Problem — wie gehen wir damit um, dass wir die Welt nicht erkennen können; dass wir aber denken können, dass die Welt uns erkennt? — erörtern will, ist mit Mark Fishers „The Weird and the Eerie“ besser beraten. Thackers weitere Bände der Trilogie führe ich mir ggf. irgendwann mal zu Gemüte.
Btw: Ich finde diesen „kosmischen Pessimismus“ immer gar nicht so gruselig, auch nicht bei Fisher (oder bei Schopenhauer oder in True Detective). Ich finde die Vorstellung von sozialen Systemen eigentlich wesentlich beunruhigender, siehe oben. Gibt es schon eine Arbeit zum „Horror der Systemtheorie“? Oder finden wir das einfach bei Kafka?
Zwei Soundtrack-Anregungen, falls jemand das Buch lesen möchte:
- Siavash Amini & Eugene Thacker: Songs For Sad Poets und
- Keiji Haino: So, Black is Myself
Weihnachten!!!
Dieses Interview mit der Soziologin Elfie Miklautz lese ich jedes Jahr zur Weihnachtszeit. Und jedes Jahr sagt es mir etwas anderes. 2023 konvergieren hier die Mauss- und Gabe-Lektüren mehrerer Seminare mit der aktuellen Horror-Lektüre, zum Beispiel hier:
Weihnachten ist ein sehr eklektizistisches Fest, historisch stecken in ihm vorchristliche Reste der wilden Saturnalien, die zwischen dem 17. und 25. Dezember gefeiert wurden und der sogenannten Rauh- und „Weihnächte“. Diese Nächte gingen mit Geister- und Gespensterglauben einher. Es gibt die These, dass man in Kindern die Widergänger von Ahnengeistern erkannte und sie stellvertretend beschenkte, um die Geister gütig zu stimmen.
Man lernt auch, dass das Christkind protestantischen Ursprungs ist — und dass es zum Fest um „verschwenderische Verausgabung“ geht, wo Bataille anklingt.
In diesem Sinne: Frohe Weihnachten, fröhliche Verausgabung und lasst euch nicht von der Wilden Jagd holen!
Beitragsbild: Weihnachten ist endlich auch Männersache. Danke, Niederegger!
Ja, ich denke, den Horror der Systemtheorie finden wir bei Kafka 😉
Ich wette, da geht noch mehr. In 10 Jahren verlege ich mich auf „systemic horror“. Immanente Hilflosigkeit trotz immanenter Probleme, aber schrecklich, nicht depressiv.