True Crime, Erlebnismagazine und Co.: Der Realitätsindex der Unterhaltung

Ich habe bislang fünf mehr oder minder umfangreiche Rückläufe zur True-Crime-Umfrage (die Aussage „Ich mag das nicht!“ nicht mitgerechnet). Daher denke ich, vor einer Ergebnispräsentation muss ich nochmal mit einigen weiteren Leuten reden. Genannt wurden bislang mehrfach „Zeit Verbrechen“, daneben „Mord auf Ex“, „Mordlust“, „Weird Crimes“, „Darknet Diaries“ und „Crime Junkie“.

Bislang gibt es vor allem Anhaltspunkte, dass

  • Menschen True-Crime-Formate vor allem zu Unterhaltungszwecken hören (es scheint eine Podcast-Präferenz zu geben: andere Formate spielen kaum eine Rolle),
  • es für die meisten eine Form von Geschichten unter anderen ist,
  • es nicht immer „hart“ sein muss (Vorzug von Betrugs- und Beziehungsgeschichten vor Serienkillern),
  • einige bewusst lieber fiktive Krimis konsumieren, weil ihnen diese die bessere Geschichte versprechen.

Was sagt die Forschung dazu? Und was macht eigentlich den „Reiz des Realen“ aus?

Lektüren

Ich habe mich mal ein wenig nach Literatur umgesehen, die den True-Crime-Trend (?) einordnet.

Werbung für Kriminologie-Studiengänge

Ein Artikel der Rasmussen-Universität nennt vier Gründe der „True Crime Obession“: Neugier, wieso Menschen „Undenkbares“ tun; das Verlangen, unseren Glauben an Gerechtigkeit zu bewahren; der Kick, den Angst und Thrill auslösen; und das altbekannte „wir gucken das, damit wir im Ernstfall vorbereitet sind“ (vor allem Frauen). Es werden einige Autorys zitiert, aber insgesamt dient der Artikel eher der Werbung für den Kriminologie-Studiengang der Uni.

Die „University of Law“ spekuliert, dass True Crime-Formate Einsichten in unsere Kultur, ihre Normen, Ängste und Werte geben — was ich für maximal unkonkret halte. „Researcher and author Coltan Scrivner states the popularity of true crime, the success of horror films and the quantity of violence in the news suggests that ‚morbid curiosity is a common psychological trait‘. It feeds our natural desire to solve puzzles and mysteries.“ Soziologisch gesehen ist dieser Artikel an allen Ecken katastrophal unterkomplex, aber das zu beurteilen überlasse ich der reader discretion. Ansonsten macht er Werbung für den Studiengang.

Angst und Sicherheitsempfinden? Oder Thrill?

Ein Artikel von socialsciencespace spekuliert ebenfalls über die Gründe, True-Crime-Formate zu konsumieren und zitiert eine Journalistin: „The most popular and commonly accepted explanation for why women love true crime is because they feel, consciously or subconsciously, that they might learn something from it.“ Mir kommt das weiterhin nicht plausibel vor, eher schon glaube ich die These eines zitierten Psychologen: „We watch crime because it allows us to feel compassion, not only for the victims but sometimes for the perpetrator[s] as well. It helps us feel secure.“ Aber: Wieso fühlen sich Menschen dann nicht sicherer, sondern haben mehr Angst (jedenfalls in Nebraska)? Vielleicht geht es ja auch einfach um Unterhaltung, Nervenkitzel und Thrill … und das generell bei Spannungs- und Horror-Formen?

Das Justizsystem und Ordnungsvorstellungen

Der sociological-quarterly-Artikel „Watching the Detectives: Crime Programming, Fear of Crime, and Attitudes about the Criminal Justice System“ (2011) von Kort-Butler/Hartshorn untersucht die Auswirkungen des Konsums, allerdings nur in einer kleinen Studie in Nebraska. Nonfiction-Shows wie True Crime korrelieren mit Angst, selber Opfer zu werden und mit geringerem Vertrauen ins Justizsystem. Das scheint von Angst (fear) vermittelt. Der Konsum korreliert auch mit höherer Unterstützung der Todesstrafe, das aber scheint unabhängig von vermittelnder Angst. Nachrichtenkonsum korreliert weder mit Angst noch mit besagten Zustimmungen/Ablehnungen. Wenn es zu einer positiven, „gerechten“ Auflösung des Falles kommt, reduziert dies die Angst — was aber freilich in „realen“ Fällen seltener passiert als in klassischen Krimis.

Die University of Sydney betrachtet True Crime als Gelegenheit „to explore the extremities of human behaviour“. Im Fokus stehe ein „assessment of our criminal justice systems“ — es geht also um Recht und Gerechtigkeit. Die Autorin, Rebecca Scott Bray, postuliert dann, dass sich die True-Crime-Begeisterung dahin entwickelt, dass Konsumentys „want to understand criminality and play an active part in how the justice system responds to crimes, whether that means lobbying to re-open contentious investigations, or discussing cases and their podcasts on Reddit“. Damit würde die Begeisterung auch zu einer sehr ambivalenten Motivation, Einfluss auf das Rechtssystem zu nehmen — man kann nur spekulieren, dass das im Modus der Skandalisierung und Moralisierung der Massenmedien passiert. Das sähe ich eher kritisch, ein ausdifferenziertes Rechtssystem ist ja an sich schon eine ganz gute Sache …

Täter-Opfer-Perspektiven

True Crime in historischer Perspektive bietet Rebecca Frosts Doktorarbeit „Identity and Ritual“: „This dissertation examines the consumption of crime narratives in America, from seventeenth century execution sermons to the contemporary genre of true crime. […] The contemporary true crime genre, often thought to have originated in the twentieth century, instead draws on these historical texts, their orientations toward criminal and victim, and their function as restoration ritual, creating the true crime genre as the contemporary reenactment or response to communal upheaval.“ Ein wesentlicher Kritikpunkt ist denn auch, dass häufig eine perspektivische oder moralische Täter-Opfer-Umkehr stattfinde. Insgesamt die empfehlenswerteste Lektüre.

Der Reiz des Realen

Vielleicht komme ich nach Weihnachten mal zu einer tiefergehenden Sichtung von Studien und Theorien, aber den Anfang fand ich nicht so ermutigend. Das Phänomen ist spannend, aber schwer einzuordnen. Es ist kaum systematisch erforscht und müsste erstmal sehr aufwändig bestimmt und abgegrenzt werden.

Was man vielleicht mitnehmen kann: Es scheint Geschichten einen Reiz zu geben, wenn sie „real“ sind. Das spielt vielleicht auch eine Rolle beim Fernsehen, zwischen „Scripted Reality“, „Reality“ und „Fiction“. Und bei „Erlebnismagazinen“, Schicksalberichten, Lebensbeichten (deren Fiktionalität vermutlich allen Leserinnen bekannt sind).

Erlebnismagazine

Ein kurzer Exkurs: „Erlebnismagazine“ erscheinen z.B. im Kelter-Verlag oder bei Pabel-Moewig, richten sich an eine weibliche Zielgruppe, tragen Titel wie „Meine Schuld“, „Mein Gewissen“ oder „Wahre Schicksale“ und berichten aus „Tätersicht“ von „Taten“. In der Autorenzeitschrift „Federwelt“ schreibt Jacqueline Lochmüller über das Genre:

Erlebnismagazine sind Zeitschriften, in denen in Ich-Form von Schicksalen berichtet wird, die nicht alltäglich sind. Berührende Schicksale, bestürzende, manchmal amüsante. Die Geschichten sind fiktiv, erfunden von Autorinnen und Autoren und doch oft mitten aus dem Leben. Sie müssen nicht der Wahrheit entsprechen, aber sie müssen so geschrieben sein, als könnte alles wirklich so geschehen sein. (Federwelt 93 / Mai 2012, „Lebenslügen, Liebesbeichten: Schreiben für Erlebnismagazine“. Leseprobe)

An der Perspektive und der „Verantwortungszuschreibung“ fällt auf:

Ganz wichtig ist, dass der Leser Verständnis und Anteilnahme empfinden kann. Selbst wenn eine Geschichte das moralische Empfinden des Lesers stört, muss er doch nachvollziehen können, warum der Erzähler so und nicht anders gehandelt hat. […] Um die Geschichte rund zu machen, braucht es zum Ende hin einen positiven Ausblick.

Es geht also, ganz herkömmlich, um die „Entlastung“ durch die Beichte; und für die Lesenden: Um einen Beicht-Voyeurismus, aufgetuned durch viele Gefühlswörter. Die „Täter(innen)“-Perspektive muss nachvollziehbar sein; eine Parallele zu True Crime, wo offenbar auch oft die Täterperspektive die der Opfer sticht. Wichtig ist die Hoffnung auf eine intakte, geordnete, moralische, „normalisierte“ Welt. Daher gibt es im Genre auch Tabus:

Ungesühnte Verbrechen sind nicht möglich. Niemand kann und darf erzählen, dass er einen Mord, einen Banküberfall oder Ähnliches begangen hat und nie erwischt wurde. Keine Gewaltverherrlichung, kein Angriff auf Religionen oder gesellschaftliche Randgruppen wie Homosexuelle.

Dies Tabus gelten für fiktive Inhalte nur partiell; „gesellschaftliche Randgruppen“ wie Homosexuelle darf man da auch eher nicht angreifen, wohl aber Religionen — und auch ungesühnte Morde beichten.

Der Glaube an eine gesicherte Ordnung in Maßstäben der „breiten Masse“

Daher steht im Zentrum der Genre-Konvention „Erlebnismagazin“ offenbar tatsächlich die Wiederherstellung des Glaubens an Normen und Werte. Aber ist das auch das Lektüreinteresse? Ich vermute eher, das ist das „Durchleben“ fremder Emotionen aus sicherer Distanz und schlicht und ergreifend Unterhaltung (im Sinne der „Abwendung von Langeweile“), aber eben im Rahmen garantierter Ordnung und abschließender „Begradigung“. Dafür spricht auch, dass Lochmüller empfiehlt, jeweils nur einen Handlungsstrang zu behandeln und die Geschichte nicht zu komplex zu machen: Es muss ordentlich zugehen. Und zwar „ordentlich“ im Sinne von sozialstrukturell klar verorteten Figuren: „eine Büroangestellte, eine Krankenschwester oder eine Hausfrau“ sollte als Perspektive gewählt werden, denn „der berufliche Alltag einer Eventmanagerin wird die breite Masse nicht wirklich interessieren. Die wenigsten Leserinnen haben persönliche Erfahrungen mit diesen Berufen.“

Die Parallele einer gewissen „Gerechtigkeitsorientierung“ zu True Crime fällt auf: Auch dort scheinen Cold Cases weniger beliebt, und nur dann, wenn noch eine Hoffnung auf Klärung besteht (u.a. auch durch „Publikumshinweise“ wie bei Aktenzeichen XY ungelöst). Siehe auch die oben zitierte geringere Angstneigung bei „gerechter“ Lösung des Falles.

Warum also wirkt das Reale?

Die traditionelle Annahme ist vielleicht: Wenn das Reale einen besonderen Reiz ausübt, dann, weil es unmittelbarer, „immersiver“ oder praxisrelevanter ist. Aber stimmt das? Manchmal braucht man den Realitätsindex vielleicht nur, um — ich denke da an „Fargo“ — eine unglaubwürdige, aber gute Geschichte erzählen zu können, ohne dass die geringe Glaubwürdigkeit der Rezeption im Wege steht. Mythen und religiöse Geschichten mussten nie „real“ sein, um „wahr“ sein zu können; religiöse Geschichten verteidigen ihre Realität aber trotzdem oder gerade deswegen nach wie vor sehr blutig.

Ich bin jedenfalls aktuell nicht davon überzeugt, dass „True Stories“ — ob erfunden oder nicht — emotional generell anders wirken als fiktive. Das scheint mir eher an den Erwartungen an das jeweilige Genre zu liegen.


Nightcafe, SDXL 1.5, prompt: „a true crime novel cover, no text, no people, no person, hyperrealistic, photographic“.

3 Gedanken zu „True Crime, Erlebnismagazine und Co.: Der Realitätsindex der Unterhaltung“

    • Ja, mich hat vor allem überrascht, wie wenig man über diese „Erlebnismagazine“ findet. Dabei muss es da ja durchaus eine größere Leserinnenschaft geben …

      Antworten

Schreibe einen Kommentar

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen