Vatersschwester und Muttersschwager, oder: Warum gibt es keinen Kollektivbegriff für Tante und Onkel?

Ich gebe es gleich mal zu Beginn offen zu: Obwohl ich die (wenigen) Verwandten, die ich näher kenne, eigentlich alle mag bzw. mochte oder ihnen zumindest neutral gegenüberstehe, fremdle ich mit dem Konzept „Familie“. Ich bin Einzelkind; mein Vater war Einzelkind; meine Vatersmutter hatte nur einen Bruder, der kinderlos blieb; mein Vatersvater hatte einen Bruder, der nach Spanien zog; meine Muttersmutter starb vor meiner Geburt; und zu meinem Muttersvater und meinen Onkeln hatte ich nie einen Bezug. „Modernes“, „urbanes“ Leben, so lehrte es ja auch die Erstsemestervorlesung zur Sozialstruktur, kennt nur noch die Klein(st)familie: Vater, Mutter, (eigene) Kinder. Und selbst das ist inzwischen umstritten, siehe Patchwork, Poly, Wahlverwandtschaften.

Der langen Vorrede kurzer Sinn: Ich sehe das mit der Familie eher distanziert. Aber soziologisch interessant ist es ja auf jeden Fall. Meine Ausgangsfrage war: Warum gibt es für „Onkel“ und „Tante“ nur diesen jeweiligen Begriff — und keine Kollektivbezeichnung (wie „Eltern“ für Mutter und Vater, „Geschwister“ für Schwester und Bruder)? Aber der Reihe nach.

Was und wer ist eigentlich „Onkel“ oder „Tante“ — und ist man das für immer?

Naja, relativ einfach: Onkel und Tanten sind die Geschwister der Eltern. Also: Muttersbruder, Muttersschwester, Vatersbruder, Vatersschwester. Punkt. (Das können freilich auch Halb- oder Stiefgeschwister sein.) In jedem Fall handelt es sich um Verwandte. Das ist bei deren Ehepartnern anders (Wikipedia):

Umgangssprachlich werden auch die Ehegatten oder Lebenspartner von Geschwistern der Eltern Onkel und Tante genannt; diese sind aber rechtlich nur im dritten Grad verschwägert.

Das heißt: Wenn die Geschwister des Ehepartnys Kinder bekommen, hat man nur neue Schwägerschaft, keine neuen Verwandten. Man ist auch nicht wirklich „Onkel“ oder „Tante“, sondern allenfalls eine Art „Nenn-Onkel“ oder „Nenn-Tante“. Interessant ist, dass Schwägerschaft nicht endet, wenn die korrespondierende Ehe geschieden wird (§ 1590 (2) BGB):

Die Schwägerschaft wird also begründet durch Heirat. Dadurch werden die Verwandten des einen Ehegatten mit den Verwandten des anderen Ehegatten durch das Band gegenseitiger Schwägerschaft verbunden; zwei Familienverbände werden so miteinander verknüpft, und zwar nicht etwa bloß für die Dauer der sie verbindenden Ehe, sondern für immer. […] Die Schwägerschaft ist also nicht aufhebbar durch Scheidung, höchstens durch Tod beendbar. […] Den „Ex-Schwager“ oder die „Ex-Schwiegermutter“ gibt es demzufolge nicht. (Wikipedia)

Insofern endet auch das „Nenn-Onkel-Sein“ im Sinne einer Schwägerschaft nicht mit dem Ende der Ehe. Das ist aber auch relativ egal: Denn rechtlich relevant scheint das nur für das Zeugnisverweigerungsrecht zu sein, und das hat man eh nur bis zur Schwiegerschaft im zweiten Grad — also nicht gegen Nenn-Neffen und -Nichten.

Die Frage können wir nun also für echte und auch für Nenn-Onkel bzw. Tanten bejahen: Ja, das bleibt man im Regelfall für immer. (Außer vielleicht, es gibt irgendwo eine Volladoption, durch die alle bisherigen Verwandtschaftsverhältnisse der adoptierten Person erlöschen, aber das ist ein ganz anderes Thema.)

Schon verwirrt? Es geht weiter.

Warum unterscheidet man Elterngeschwister nicht nach Mutter- und Vaterseite?

Wie ich das jetzt schon mehrfach praktiziert habe, kann man ja Muttersschwester etc. sagen. Das ist aber sehr ungebräuchlich — jedenfalls bei uns heute. Früher war diese Differenzierung aber gang und gäbe:

Früher gab es für den Bruder der Mutter die eigene Bezeichnung als Oheim, Ohm oder Öhm, die auch für den Ehemann der Schwester der Mutter verwendet wurde. Die Schwester der Mutter war die Muhme, ebenso die Ehefrau des Bruders der Mutter.

Warum hatte gerade dieser Muttersbruder einen eigenen Begriff?

Der Onkel mütterlicherseits übernahm früher vielerorts die soziale Vaterschaft für die Kinder seiner Schwester; dieses so genannte Avunkulat findet sich weltweit noch bei vielen der über 150 Ethnien und indigenen Völker, die matrilinear, nach ihrer mutterseitigen Abstammung organisiert sind.

Und in anderen Kulturkreisen wird sowieso unterschieden, hier nur ein paar Beispiele aus der Wikipedia (für mehr siehe unten):

In Arabic, one’s mother’s brother is called Khal خال and the mother’s sister is called Khalah خالة. On the father’s side, one’s father’s brother is called Amm عم and the father’s sister is called Ammah عمّة.

In Turkish, one’s mother’s brother is called dayi, father’s brother is amca, and aunt’s husband is known as enişte. One’s mother’s sister is called „teyze“. Father’s sister is „hala“. Uncle’s wife is „yenge“.

Und das alles haben wir in Deutschland heute nicht (mehr): Da ist alles „Onkel“ bzw. „Tante“, egal, mit wem die Person wie verwandt bzw. verschwägert ist.

Vielleicht dient diese unpräzise Terminologie ja auch irgend einem Zweck: Etwa dem, ein Verbundenheitsgefühl hervorzurufen, ohne die Nähe oder Ferne dieser Beziehung zu reflektieren? Oder es ist heute (und schon seit einigen Jahrzehnten bis Jahrhunderten) einfach egal: Zwischen dem „Muttersschwesterehegatten“ und dem „Vatersbruder“, gar der „Muttersschwesterlebenspartnerin“ im Alltag zu unterscheiden, mag einfach nicht mehr wichtig sein. Denn ihre Rolle fürs Leben des Neffen oder der Nichte — auch hier gibt es übrigens keinen Kollektivbegriff, höchstens „Geschwisterkinder“, was irgendwie inzestuös klingt — ist kaum noch durch die Verwandtschafts-, nur noch durch die persönliche und damit individuelle Rolle geprägt.

„Elterngeschwister“ statt „Onkel und Tante“?

Die Eingangsfrage war aber ja umgekehrt, wieso wir keinen richtigen Kollektivbegriff für Onkel und Tanten haben. Einerseits kann man also mangelnde Differenzierung, andererseits mangelnde Kollektivierung beklagen.

Leider habe ich nichts Befriedigendes finden können, wieso es an diesem Begriff fehlt. Aber vermutlich war für die Sozialstruktur unserer früheren Gesellschaft das Geschlecht relativ wichtiger als die genauen Verhältnisse.

In romanischen Sprachen liegt übrigens zumindest der Wortstamm näher beisammen: Etwa im Spanischen tío/tía, von spätlat. thius/thia — ein Wortstamm der sich interessanterweise von gr. θεῖος (theîos, the brother of one’s father or mother, uncle) ableitet. (Mit dem gleichlautenden Begriff für „Gott, göttlich“ hat das offenbar nichts zu tun.)

Was bietet sich nun als Begriff an? „Onkel“ und „Tante“ sind phonetisch dermaßen eigenwillig, dass man nicht einmal einen sinnvollen Mischbegriff bilden kann: Onten? Tankel(n)? Das wäre im Englischen einfacher: uncle und aunt werden zu auntle. Dieser Begriff ist tatsächlich auch nachweisbar, vor allem in Diskussionen um inklusive, diverse, gendergerechte Sprache (um die es mir hier explizit nicht geht — mich interessiert eher, wieso es offenbar nicht nötig war, hier einen Kollektivbegriff einzuführen wie für „Eltern“).

Bleibt noch, jedenfalls für „echte“ Onkel und Tanten, die Bezeichnung „Elterngeschwister“ — was aber deren Ehegatten und Lebenspartnerinnen nicht einbeziehen würde, die zwar nicht rechtlich, aber im alltäglichen Sprachgebrauch „Onkel“ und „Tanten“ sind. Auch das scheint mir unbefriedigend; dann hätte man „Elterngeschwister und -schwäger“.

Wie differenziert sind Verwandtschaftsterminologien generell?

Offenbar gibt es kulturabhängig verschiedene Weisen, sich Verwandtschaftsverhältnissen nomenklatorisch zu nähern. Der Anthropologe Lewis Henry Morgan (1818–1881) unterschied dabei zwischen 6 Basis-Mustern, deren Darstellung aus der Wikipedia ich hier mal klaue:

ZanderSchubert, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Hierbei wird zwischen beschreibend (descriptive; etwa: „brother“ als eindeutige Beziehung über gemeinsame Eltern/-teile) und klassifizierend (classificatory; etwa: „cousin“ als mehrdeutige Bezeichnung für den Sohn des Vaterbruders oder der Mutterschwester) unterschieden. Es liegt also, teils in derselben Sprache/Gesellschaft, ein kollektivierender und ein differenzierender Gebrauch vor.

Was man diesem Bild entnehmen kann: Wir haben im Deutschen, aber auch im Englischen, grob eine „Eskimo-Kinship“-Terminology:

  • Elterngeschwister werden nach Geschlecht klassifiziert (Onkel, Tante);
  • Cousins und Cousinen ebenfalls;
  • aber beides nicht nach der Abstammungsseite von Vater oder Mutter differenziert.

Andere Terminologien sind möglich — etwa, zwischen „parallelen“ und „Kreuz“-Cousins zu unterscheiden. „Parallel“ sind Cousins und Cousinen als Abkömmlinge des gleichgeschlechtlichen Geschwisters des eigenen Elternteils, also: des Vatersbruders und der Muttersmutter. Kreuz-Cousinys sind dann die der andersgeschlechtlichen Geschwister, also Vatersschwester und Muttersbruder. Man kann sich vorstellen, dass diese Terme in Gesellschaften vorherrschten, in denen diese Beziehungen aus irgend einem Grund wichtiger waren (weil etwa eine Parallelcousine rechtlich näher stand als ein Kreuzcousin). Andere Systeme wiederum bezeichnen Parallelcousinys als Geschwister (Crow), nicht aber Kreuzcousinys, was dann auf eine größere Rolle des Elterngeschwisters schließen lässt. Andere unterscheiden dabei zwischen Mutter- und Vaterseite, je nachdem, ob die Gesellschaften matri- oder patrilinear organisiert werden. Puh. Und in manchen Sprachen ist alles noch komplizierter und es wird nach Altersabfolgen unterschieden, aber das müsst ihr selber nachlesen. Der bisherige Überblick sollte genügen.

Fazit

Alleine erbrechtlich, aber auch in der „Alltagswahrnehmung“, sind Beschreibungen für Verwandtschaftsbeziehungen auch bei uns noch wichtig; ich finde aber, dafür haben wir ziemlich wenige und vor allem kaum differenzierte Begriffe. Aber vermutlich ist die Nomenklatur auch nicht weiter gewachsen, weil Familie insgesamt weniger wichtig geworden ist. Geldwirtschaft und Institutionen haben viele ihrer Funktionen übernommen.

Was machen wir nun mit diesen Überlegungen? Vielleicht nehmen wir sie einfach als Smalltalk-Aufhänger für die nächste Familienfeier. Aber Achtung — bei wenigen Themen sind die Leute so leicht erregbar wie bei „Familie“. Vielleicht gerade deshalb, weil Familie materiell nicht mehr so wichtig ist wie früher und daher emotional aufgeladen werden muss.

5 Gedanken zu „Vatersschwester und Muttersschwager, oder: Warum gibt es keinen Kollektivbegriff für Tante und Onkel?“

  1. Spannende Frage warum diese nähere Unterscheidungen keine Rolle (mehr) im Deutschen spielen oder auch warum es keinen zusammenfassenden Begriff für Onkel und Tanten gibt.

    Ob welcher Linie der Onkel oder die Tante entspringt, lässt sich noch mit dem Zusatz „Onkel mütterlichseits“ oder „Tante väterlichseits“ festmachen.

    Antworten
    • Stimmt, das geht! Aber wenn es dann der „angeheiratete Onkel mütterlicherseits“ ist, wird es schon ganz schön lang, wofür andere Sprachen einfach einen Begriff haben …

      Antworten
    • Uns ist irgendwann mal aufgefallen, dass es zwar jede Menge Eltern-, aber keine Elterngeschwister-Ratgeber gibt. Und deswegen haben wir diskutiert und sind dabei auf viele Fragen gestoßen 😀

      Antworten

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