SS23/W12: Begehren, Häuschen und Angst

„[C]apitalism is at one and the same time the best thing that has ever happened to the human race, and the worst.“
(Kevin Floyd, „The Reification of Desire“, S. 78, H.v.DS)

Es ist warm und ich habe zwei Wochenendseminare in Folge. Uffz. Mal sehen, wie „Religion und Sozialismus“ dieses Wochenende wird — der Bericht dazu rutscht wiederum in die Folgewoche, die ich dann in Nürnberg verbringen werde. (Da gibt es, so hoffe ich, die konzentriertere Arbeitsatmosphäre.)

Gefühlsumfrage

Bislang sind 12 Datensätze eingegangen, daher poste ich die Umfrage diese Woche einfach nochmal und hoffe auf ein paar weitere Daten:

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Uni

Die Seminare sind wieder etwas voller, weil viele Leute Fragen zu den anstehenden Prüfungen oder ein schlechtes Gewissen bekommen haben. Inhaltlich läuft es überall auf die Abschlussdiskussionen hinaus. Man kann es nicht mehr verleugnen: Das Semester nähert sich in großen Schritten seinem Ende.

KGB

Tag 1 von 9–18 Uhr, Tag 2 von 9–17 Uhr: Insgesamt saß ich also (Pausen rausgerechnet) 17 Stunden in diesem Seminar. Das war eine Menge Stoff.

Die Diskussionsfreudigkeit variierte stark von Thema zu Thema. Unsere „Stundengestaltung“ zu Kevin Floyd wurde spontan etwas zusammengekürzt, was v.a. den Beitrag einer Kommilitonin und unsere Diskussionsanregungen betraf. Das hat aber auch Vorteile: Man ist aus der Verantwortung, wenn dieser Seminarteil dann nicht so richtig aufgeht, und kann sich sagen, dass man das beste didaktische Konzept hatte. Trotzdem etwas schade.

Was mir auch auffiel: Der Idealismus des Dozenten, dass alle alles gelesen haben, war nicht hilfreich … Ich glaube, dass einige der eher zähen Passagen sich mit mehr referierter „Textzusammenfassung“ hätten umgehen lassen.

Wie Kapitalismus, Geschlecht und Begehren nun zusammenhängen? Mannigfaltig, natürlich. Im Seminar selber spielten vor allem die Kategorien Geschlecht und Kapital bzw. Kapitalismus eine Rolle, das Begehren kam mir persönlich etwas zu kurz. Es wurde meistens dem Geschlecht zugeschlagen: Was ich begehre konstituiert, performt oder zeigt meine Geschlechtsidentität.

Finde ich queer theories jetzt überzeugend? Nicht so ganz, aber das wollen sie vielleicht auch gar nicht sein — sondern jeweils auf blinde Flecken und „Verworfenes“ der herrschenden Diskurse hinweisen und Aktivismus legitimieren, formen, motivieren. Ich bereue es jedenfalls nicht, das Seminar belegt zu haben.

Eigenes Haus: Das war’s!

Eine doppelte und letzte Sitzung: Es ging um Gefühle beim Hauskauf, bei der Renovierung etc. Und auch beim „Abbruch“ des Traums vom eigenen Haus: Der Interviewauszug, den wir uns ansahen, berichtet von einer Frau, die in der ersten Nacht im neuen und kostspieligen Eigenheim feststellt, dass es das doch nicht ist. Ohne rationale oder rationalisierte Begründung, sondern einfach emotional. Man zieht dann auch sehr schnell wieder aus (und ist inzwischen wohl zufrieden mit einem anderen Eigenheim). Wir haben dann länger über mögliche Gründe und Interpretationen diskutiert, aber naja … man kann in fremder Leute Köpfe halt nicht reingucken. Die emotionale Begründung hat ja gerade den Charme, dass sie eine unwiderlegbare Letztbegründung ist.

Andere Überlegungen aus den Seminartexten: Material (also reale Häuser und architektonische Machbarkeiten), ‚rationale“ Gründe und Gefühle formen und konstituieren einander (Geschmack?), und zusammen wiederum formen sie ein Idealbild (eine semantische Form, von der in der Empirie dann natürlich immer abgewichen wird). Selbst wenn Gefühl und Kalkulation ergeben, dass man am besten zu fünft in ein Haus zieht, muss man erstmal das Material dafür finden (ein 220qm-Haus mit Garten und Raum für zwei Küchen und drei Bäder, zum Beispiel). Umgekehrt können Kalkulation und vorhandene Objekte suggerieren, man sollte doch einfach zu zweit wohnen bleiben, auch wenn das Gefühl zu etwas anderem rät …

Ich bin ein bisschen traurig, dass das schon die letzte Sitzung war, denn mir hat jede Einheit ziemlich gut gefallen. (Das habe ich natürlich so auch in der Lehrevaluation angegeben.) Das Seminar war auch ziemlich anschlussfähig an die emotionalen Veranstaltungen am Gefühls-Dienstag.

Radiofeature „Leben auf dem Land“

Im Deutschlandfunk gibt’s ein Feature über „Leben aufm Land“; da kann ich mich ja immer nicht so richtig reinversetzen, aber ich teile die Forderung nach „Kostenwahrheit“: Viel Fläche und viel Infrastruktur sollten entsprechend umgelegt werden. Lustig ist der Einsatz des LotR-OSTs in der musikalischen Untermalung. (Danke für den Tipp, Katharina!)

Emotionsgeschichte: Angst im Krieg!

Wir diskutierten zwei Texte über Angst in kalten und heißen Kriegen, u.a. von Jan Plamper. Diese Koryphäe der Emotionsgeschichte (ich hatte schon mal auf ein Interview von ihm mit anderen  wichtigen Autorys hingewiesen) war uns diese Woche per Zoom zugeschaltet und wir konnten einige Fragen loswerden.

Mich hatte ein Gedanke aus Plampers „Fear: Soldiers and Emotion in Early Twentieth-Century Russian Military Psychology“ (Cambridge) interessiert. Dort wird im Anschluss an einen russischen Militärpsychiater, Grigorii Shumkov (ca. 1905), suggeriert, dass Soldaten besonders „suggestibel“ sind, wenn ein Angriff zum Halten kommt und sie in größter Angst abwarten:

During this worst waiting period the receptiveness for rumors, half-truths, and lies grows strongest. A propaganda newspaper item can become the truth.

Leider scheint es dazu keine bestätigende oder auffrischende Empirie zu geben, denn das wäre ja sehr interessant in Bezug auf die Kopplung psychischer und kommunikativer Systeme – Angst könnte dann ein Milieu, ein Medium, eine Kopplungsstruktur darstellen. Und vielleicht könnte man daraus auch Rückschlüsse auf „massenpsychologische“ Phänomene ziehen: Lassen sich angesichts stabilerer Angstmilieus (äußere Feinde, sozialer Abstieg, Klima, Staatsgewalt, …) oder durch einzelne angstbesetzte Ereignisse leichter „Propagandawahrheiten“ und Pizzagates festsetzen? Und: Ist das steuerbar?

Darum ging es dann indirekt auch bei …

AK: Angst im Kapitalismus!

Zwei Themen standen auf dem Programm: Eine erneute Diskussion von Eva Illouz Text über Online-Dating sowie „Angstmobilisierung“ im Neoliberalismus/Kapitalismus. Mir lief der besprochene Text etwas zu stark darauf hinaus, dass hier von Eliten Angst geschürt und benutzt wird. Das ist irgendwie nicht von der Hand zu weisen, aber auch irgendwie soziologisch unterkomplex und unbefriedigend. Angst wird und wurde ja schon immer politisch benutzt, das Medium Macht und vor allem sein symbiotischer Mechanismus Gewalt lassen sich nicht von Angst trennen. Ich habe aber auch gerade keinen besseren Vorschlag, wie man Angst in Politik konzeptionell einbettet.

LK: Abschluss!

Das ist zwar nicht die letzte Sitzung des LK, aber wir ziehen unsere Abschlussdiskussion zu Annie Erneaux und die Auswahl einer Lektüreempfehlung für den nächsten Jahrgang vor. So, wie uns damals Agnoli vorgeschlagen wurde, dürfen wir den nächsten Gesellschaftstheoretys nun also eine Lektüre aufbrummen. Das finde ich allerdings gar nicht so leicht: Es soll gesellschaftstheoretisch relevant sein, aber eher nichts, was man auch zufällig in irgend einem Seminar lesen könnte. (Sonst wäre ich für einen Klassiker, Weber oder Durkheim, oder für einen modernen Klassiker wie Foucault.)

Prüfungen: Ehe und Ehevertrag

Langsam geht’s an die Prüfungsvorbereitungen. Für „E&G“ möchte ich ja etwas zu Vertragstheorien und Neutralitätsillusionen bzgl. Heirat und Ehe machen und recherchiere nun. Ein fun fact, der mir gar nicht klar war: Nach § 1369 BGB darf ich meine Waschmaschine nicht verkaufen, wenn sie Teil eines Ehehaushalts ist. „Ein Ehegatte kann über ihm gehörende Gegenstände des ehelichen Haushalts nur verfügen und sich zu einer solchen Verfügung auch nur verpflichten, wenn der andere Ehegatte einwilligt.“ Gilt ein Fernseher eigentlich als Haushaltsgegenstand …?

Außerdem gab es 2017 ein spannendes (leider sehr spezielles) BGH-Urteil über die Nichtigkeit bestimmter Ausgleichs-Ausschlüsse in einem Ehevertrag. Interessant für mein Thesenpapier sind einige Details der Begründung, etwa:

[Es liegt eine] subjektive Imparität infolge der Ausnutzung der sozialen und wirtschaftlichen Abhängigkeit der Ehefrau vor.

D.h.: Wer einen Ehevertrag unterschreibt, weil er (oder besser: sie) sonst massive Nachteile für sich oder die Ehegemeinschaft fürchten muss, könnte unwirksam unterschreiben. Leider gab es noch diverse weitere Probleme an diesem Vertrag, sodass das Urteil nur bedingt meine These stützt.

Die Arbeitsfassung der These(n):

  1. Die Neutralität von Verträgen ist eine Illusion.
  2. Die Vorstellung, dass Eheverträge zwischen situationsunabhängig gleichberechtigten Parteien mit vollkommen autonomem Willen und „homo oeconomicus“-Ausrichtung geschlossen werden, hält einem Abgleich mit der Realität nicht stand. Genausowenig darf angenommen werden, dass für lange Zeiträume geschlossene Verträge statisch bleiben dürfen; sie müssen sich mit der Beziehung der Parteien wandeln.
  3. Empirisch liegen diesen Verträgen bereits materielle Asymmetrien zugrunde, unterschiedliche Werteausrichtungen und asymmetrische Rollenerwartungen bezüglich der Ehebiographie. Das wäre auch unproblematisch, wären die Scheidungsraten nicht so hoch. (Auch das Scheidungsrisiko wird ausgeblendet.)
  4. (Auch die Ehe selbst ist als Vertrag zu verstehen. Dass die Unterzeichnung auf dem Standesamt als romantischer Akt statt als Abschluss des für die meisten Menschen gravierendsten Vertrags ihres Lebens gilt, ist selber ein blinder Fleck. Für diesen „Vertrag Ehe“ gilt dasselbe wie für den Ehevertrag: Die Neutralität ist eine Illusion.)

Das ist natürlich noch zu viel Material, aber es geht in die richtige Richtung und ist sehr spannend.

Prüfungen: Affekte

Für AK habe ich leider noch keinen so ausgefeilten Plan. Als erstes lese ich mich wohl mal intensiver in die Unterschiede von Affekt- und Emotionssoziologie ein — ich mache diese Unterscheidung für mich selbst zwar selten, aber das kann ja nicht schaden. Der im Rahmen von AK empfohlene Text hierzu ist übrigens von zwei der wichtigeren Autorys aus der Emotionsgeschichte: Bettina Hitzer und Benno Gammerl. Und deswegen passt dieses Semester alles so schön zusammen.

Briefe: Keine Frauen im Publikumsverkehr!

Die Lektüre ist beendet und nun geht es an die Auswertung und Einordnung. Da ist gerade nichts spruchreif, deshalb nur ein Zitat als erster Anhaltspunkt für die „Gleichberechtigung“ im franquistischen Spanien:

Wie ich inzwischen erfahren habe dürfen hier in Spanien nach den Gesetzen des Hotelgewerbes keine weiblichen Angestellten im Publikumsverkehr eines Hotels der Kat[egorie] I fungieren. (26. Mai 1954)

Kontext: Eine letzte Rettungsidee des „spanischen Abenteuers“ meines Großvaters war, eine Portiersstelle in einem Hotel anzutreten und dabei meine Großmutter mit einzubinden. Das war aber, wie dieses Zitat zeigt, schon aus rechtlichen Gründen unmöglich. Und so ging es vor 69 Jahren, Anfang Juni 1954, für meinen Opa zurück nach Deutschland.


Beitragsbild: Ich fand es überraschend, dass jemand eine Straße „Eigenheimstraße“ nennen würde. Aber gut. Die alternative Darstellung wäre die hier gewesen:

3 Gedanken zu „SS23/W12: Begehren, Häuschen und Angst“

  1. Deine These „Die Neutralität von Verträgen ist eine Illusion“ passt perfekt zur aktuellen Dummy-Ausgabe „Alles gut!“ (Nr. 79), in der sich alles um das Thema Selbstbetrug dreht.

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