„Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.“
(Nietzsche, Götzen-Dämmerung)
Diese Woche ist viel passiert, u.a. gibt es endlich das Interview mit Gary Hill. Außerdem habe ich mich diesmal entschlossen, das Wochenendgeschehen (trotz Uni-Bezug) auf die jetzige Folgewoche zu verlagern. Das folgt keiner besonderen Logik (höchstens der, wartenden Kollegys vor dem Wochenende etwas zu lesen zu bieten).
Contents
Dresden
Erste Station (also nach dem Hotel): das Kunsthaus Dresden. Dort gibt es gerade die Ausstellung „Voices“ von Zorka Wollny zu sehen – eine das ganze Haus überspannende Klanginstallation in zahllosen Einzelexponaten. Sehr sehenswert (noch bis 27.8.). Ich war vor 8 1/2 Jahren das bislang einzige Mal in Dresden und hatte damals nicht die Gelegenheit, mir das Kunsthaus anzugucken. Es lohnt sich schon in seiner verwinkelten Architektur rund um den (ebenfalls als Ausstellungsfläche genutzten) Innenhof. Aber die jetzige Sound-Ausstellung scheint mir besonders passend: Man wird von den teils mehr, teils weniger menschlichen Stimmen geradezu durch das Haus und durch die Ausstellung gezogen.
Hello Happiness
Eigentlicher Anlass für die Dresdenfahrt war ja eine Exkursion des Emotionsgeschichte-Seminars ins Hygienemuseum zur Ausstellung „Hello Happiness“. Die spannende Frage: Wie stellt man „happiness“ museal dar – und was ist „Happiness“ überhaupt? „Glückseligkeit“, „Zufriedenheit“, „Freude“? Die Kuratorin Isabel Dzierson beantwortete meine entsprechende Nachfrage mit einem Verweis auf den Komplex „angenehme Empfindungen“, und ein Schlüssel findet sich vielleicht auch in den Benennungen der beiden Ausstellungen des Wellcome Institute, auf denen „Hello Happiness“ (HH) beruht: „Joy“ und „Tranquility“.
Ein Ergebnis von HH: Sachen zerhämmern (wie in einem Pipilotti-Rist-Video in der Ausstellung und wie in einem Video in der „Voices“-Ausstellung) scheint zu entspannen. Das beweist auch der folgende Jochen-Schweizer-Gutschein. Wut und Freude, eng umschlungen. Die Stickerei im zweiten Bild trifft genau meinen Humor. Und im dritten Bild sehen wir, dass Menschen die Liebe auch in ihren Lenden verorten, aber weder in Armen noch Beinen … das scheint mir allerdings sehr stark vom eigenen Liebesbegriff (!) abhängig.
Außerdem ist zumindest die Darstellung von Happiness zeitgebunden – Menschen lächeln heute mehr und offener, und dennoch mit Geschlechterunterschied, wie ein Jahrbuch-Vergleich zeigt. Das zweite Bild belegt in (zufällig?) psychedelischen Farben, dass neben Liebe auch Ecstasy, Alkohol und andere Drogen Freudenspender sind. Einen solchen sieht man dann auch im dritten Bild, als esoterisch aufgeladenes Edelstein-Lifestyle-Exponat. (Es kostete mich Überwindung, den Begriff „Jade-Dildo“ nicht in den Beitragstitel aufzunehmen.)
Fazit: Ein Kabinett der sozialen Praktiken, die einerseits der Herstellung, andererseits dem Ausdruck und der Kommunikation von „happiness“ dienen. Alles andere ist ja auch schwer aus- und darstellbar …
Meißen
Am Sonntag gab es dann noch eine Fahrt nach Meißen – nicht etwa auf der Spur von Porzellan, sondern um den Dom anzugucken. (Gute Idee, Sabine!)
Auf der Rückfahrt nach Jena entdeckte ich dann auch noch einen der seltenen Verweise auf Thomas Müntzer im öffentlichen Raum (es sind mir viel zu wenige): Der Abellio „Reformgeber“. Ob man allerdings Müntzer mit „Reform“ assoziieren sollte …? (Kontext)
Uni
Der Semester-End-Eindruck hält an, und über das Dresden-Wochenende ist mir mal wieder alle Zeitwahrnehmung flöten gegangen. Es hilft auch nicht, dass es schon Dienstagabend nach Nürnberg zurückging …
Prüfungen!
Ich habe meine fünf (!) Prüfungen angemeldet:
- Eine Mündliche für E&G (vermutlich etwas zur Vertragstheorie wie hier beschrieben)
- Eine Mündliche für AK (vermutlich etwas zur Wandlung des Verhältnisses von Banken-Organisationssystemen und dem Medium Geld)
- Den Essay für das Kolloquium zur Ideengeschichte (s.u.)
- Die Briefe-Hausarbeit für die Emotionsgeschichte
- Eine Politik-Hausarbeit für R&S, für die ich gerne nochmal zur Theosophie und Annie Besant zurückkehren würde
Weil ich zu viel Projektmanagement-Erfahrung habe und lieber eine Mail zu viel als eine zu wenig schreibe, habe ich mir diese Anmeldungen auch nochmal von unserem herausragenden Studiengangsberater bestätigen lassen: Passt! (Danke an dieser Stelle für die stets schnelle und geduldige Rückmeldung!)
Nachdem die Prüfungen nun angemeldet sind, kann ich mich wieder auf Prokrastination verlagern – zum Glück gibt’s dieses Blog und einen laufend wachsenden Stapel ungelesener Bücher …
KGB: Floyd, again
Für dieses Blockseminar Ende kommender Woche wurden uns als „Expertygruppen“ jeweils Teile der Seminartage zugeordnet. Das ist ein bisschen anders als die Referate in anderen Seminaren, aber es umfasst auch einen kurzen Input. Ich bin in der Gruppe für Kevin Floyds „Reification of Desire“ (ich hatte schon einmal Eindrücke geschildert). Nun lese ich also viel über Floyds Lektüre von Lukacs‘ Lektüre von Marx, Hegel und Kant. Beobachtung dritter Ordnung, quasi.
Mir scheint, der Inhalt lässt sich auch auf einen Nenner bringen: Ein Beobachter macht eine Unterscheidung (Objektifizierung), benennt eine der Seiten („Mann“), und das hat Konsequenzen („Begehren“) für die andere Seite („Frau“, damit als sexuelles Objekt verstanden), die aber im blinden Fleck verschwinden und somit etwas unsichtbar machen („Queerness“, was ja selber schon eine Objektifizierung ist). Und jetzt geht es Floyd mit Marx (und gegen Lukacs‘ Marx-Lesart) darum, dass die Objektifizierung nicht immer eine illegitime Verdinglichung (z.B. die „Homo-Ehe“ als heteronormativ-neoliberales Konsum- und Eigentums-Projekt) ist, sondern dass im Gegenteil die queere Lesart der Objektifizierung legitimiert werden muss (Körperlichkeit, „Spaß am queeren Sex“). (Zur Unterscheidung Objectification/Reification siehe hier.) Falls ich das richtig verstanden habe. Puh.
Eine gute und recht klare Rezension des Buches von Richard Hornsey findet sich hier. Und wer ins Buch reinlesen möchte, melde sich wie immer vertrauensvoll per Signal …
Politik-Essay
Auf den diversen Zugfahrten wurde mein Essay fertig und harrt nun der Korrektur. Vorläufiger Titel: „Klanglosigkeit gebiert die Töne. Zur Rolle der Musik in der chinesischen politischen Philosophie: Ordnung, Harmonie, Vollendung bei Konfuzius“.
Abstract:
Musik spielt eine gewichtige Rolle in der klassischen chinesischen Philosophie, die stets untrennbar war von politischem Denken. Im vorliegenden Essay wird den musikphilosophischen Überlegungen Konfuzius‘ nachgespürt und versucht, diese mit einem Abriss der chinesischen Musiktheorie und ihren politischen Implikationen zusammen zu denken. Dabei wird die kulturelle Konvergenzlinie der Harmonie ausgemacht, die sowohl individuelle Vervollkommnung als auch kollektive Stabilität garantieren soll. Eingerahmt werden diese Gedanken von Seitenblicken auf dissidente, gegenkulturelle Verwendungen der Musik in der heutigen Volksrepublik China.
Wer sich berufen fühlt, hineinzulesen und Feedback zu geben, ist wie immer herzlich dazu eingeladen.
Emotionsgeschichte: Entfällt und Krebs
Aufgrund der Exkursion nach Dresden entfiel die Seminarsitzung. Zu lesen gab es 100 (!) Seiten zum Thema „Krebs“ von Bettina Hitzer: Von Friedrich III., der im Dreikaiserjahr 1888 den Thron bestieg und dann ein paar Monate später öffentlichkeitswirksam dem Krebstod zum Opfer fiel, über die Frage, ob Medizinys ihren Patientys die Diagnose verschweigen oder erzählen sollen, bis hin zur modernen medialen und kommunikativen Bearbeitung der Krankheit. Ziemlich viel Stoff, aber mit einigen interessanten Anschlüssen. So geht es u.a. um das emotional regime der 50er, Thanatosoziologie und die Verortung verschiedener Gefühle wie Hoffnung und Verzweiflung.
Eigenes Haus: Werbung und Darstellung des Glücks
So langsam fügt sich auch hier alles zusammen, vor allem in der Vorstellung von „Glück“ (in der Bedeutung Happiness) im Verfolgen eines Lebensplans. Diese Woche gab es einen Text von Anne Caplan, in dem Werbekataloge für Häuser und Carports analysiert wurden, um den „Glückssymbolen“ bzw. Visualisierungen der Happiness nachzuspüren.
Und natürlich findet man hier „gelungenes“, weißes, hetero-mono-pronatalistisches Mittelklasseglück in Bildern vom Garten, vom alleinstehenden Haus (Nachbarn stören das Glück der heimischen Sphäre und die Rekreation nur), von Frau und Kindern. Wenn man das jetzt mit anderem hier Gesagtem (Verdinglichung, Geschlechterverhältnisse) zusammendenkt: Der Katalog zeigt dem männlichen Subjekt (das ja auch das Geld hat), was es haben kann – Eigenheim, Auto (repräsentativ im Carport), Frau, Garten (für die Frau), gesunde Kinder (für die Frau). Jepp, das ist eine Objektifizierung UND eine Verdinglichung der Frau, außerdem eine Kommodifizierung von Gefühlen und eine semantische Bedingung der Reproduktion von Geschlechterungleichheit.
Man könnte jetzt anschließen und fragen, wieso in diesem Kontext selten bis nie Männer als Waren ausgestellt werden – schließlich fällen die meisten Paare die Entscheidung des Hauskaufs gemeinsam. Aber vielleicht käme man schnell zu dem Ergebnis, dass in der heimischen Sphäre die Illusion der Nicht-Warenförmigkeit des Mannes aufrechterhalten werden muss – seine Warenförmigkeit liegt vermutlich weiterhin eher in der öffentlichen Sphäre der Arbeit?
AK: Illouz, again
Es ging um die „Vermarktung der Leidenschaft“ und den (von Illouz zumindest behaupteten) Wandel der Liebes- und Ehemodelle um 1900. Aus der Mitgift wird ein teurer (aber nach Kauf sofort von Wertverfall betroffener!) Verlobungsring, oder ein zu großes und teures Haus, oder, oder, oder … Geld fließt nicht mehr an Partnerin oder Partner oder in „Investitionen“, sondern in den Konsumgütermarkt:
Die romantische Liebe unserer Zeit hat den Tausch von Waren oder Geld zwischen den Partnern nicht abgeschafft. Nur findet dieser Tausch nicht mehr zwischen zwei Familien statt, sondern in Gestalt einer über den Konsum vermittelten, wechselseitigen Beteiligung zweier Menschen am Markt.
Liebe wird also nicht mehr „direkt“ gehandelt, sondern indirekt über kommodifizierte Emotionen am Markt.
E&G (remote): Altersarmut, Gender Pension Gap und Rentenbescheid
Eine letzte Remote-Session — das Seminar fällt im Juni ansonsten aus. Es ging um strukturelle und kulturelle Bedingungen des Gender Pension Gap, also des geringeren Renteneinkommens von Frauen. Am wichtigsten dabei ist natürlich der Gender Pay Gap (durch Teilzeit, geringeren Lohn, …), der für weniger Rentenpunkte sorgt. Gleichzeitig fällt bei Ehepaaren (zumindest mit höherem Einkommen und Vermögen) die Vermögenssorge oft an den Mann, sodass ggf. auch weniger gegen den weiblichen Pension Gap unternommen wird. Und nicht zu vergessen: Frauen gehen oft mit ihrem Mann zusammen in Rente, sind aber noch ein paar Jahre jünger — und haben daher mit höheren Abschlägen zu kämpfen.
Pünktlich dazu erreicht mich mein aktueller Rentenbescheid. Wenn das man gut geht …
Sonstige Lektüren
Ein Artikel, der sich mit dem Problem befasst, dass wir unsere westlichen Kategorien der Anschauung, der Sinneseindrücke, der emotionalen und rationalen Bearbeitung von Problemen etc. auf „den Menschen“ als scheinbar natürliches Wesen übertragen – und dass das so nicht funktioniert. Das muss nun nicht bedeuten, dass alles relativistisch, beliebig ist; im Gegenteil, das ist alles kontingent und kommunikativ gewachsen. Aber es zeigt, dass man nie zu sehr auf die Kleider vertrauen sollte, in die Untersuchungen ihre Gegenstände verpacken.
Jedes „Ich“ entsteht aus einem „Wir“. Das Individuum ist fundamental geprägt von der eigenen Gesellschaft, der eigenen Kultur. Das Erstaunliche: Das Denken und Fühlen sieht fast überall auf der Welt anders aus als im europäisch-nordamerikanischen Kulturraum. Die Ausnahme sind wir.
Im Artikel geht es auch u.a. um die Konstruktion und Festigung des Ideals der „Mutterbindung“. Und ganz wichtig: „Basisemotionen“, die kulturunabhängig, anthropologisch, „natürlich“ sind, kann man so nicht nachweisen — und vor allem nicht deren äußeren Ausdruck.
Gefühle sind zentral für die Persönlichkeit. Laut der Theorie der Basisemotionen sind Freude und Furcht, Ekel und Wut, Überraschung, Trauer und Verachtung angeboren, werden von allen Menschen gleich erlebt und ausge[d]rückt. […] Es gibt keine klaren Belege dafür, dass es bestimmte Gesichtsausdrücke gibt, die jeder auf der Welt bei Ärger oder Trauer zeigt. Das Gegenteil ist der Fall. […] [Gefühle] werden in jedem Moment vom Gehirn neu erschaffen. Ausgangspunkt ist der aktuelle Zustand des Körpers: fühlt er sich wohl oder eher nicht, ist er ruhig oder angespannt? Solche wohl tatsächlich angeborenen Empfindungen sind aber zu allgemein, um konkrete Handlungen oder Entscheidungen auszulösen, sie müssen interpretiert werden. […] Es geht hier nicht nur um andere Beschreibungen der Gefühle, sondern um Unterschiede des Erlebens selbst.
Gefühle sind vom gesellschaftlichen Umfeld (also der Kommunikation) abhängig, in der die psychischen Systeme geprägt werden.
Beitragsbild: Meißen
Die aktuelle Ausstellung im Kunsthaus Dresden ist in der Tat sehr sehenswert, bzw. mindestens genauso hörenswert! Phantastisch fand ich u. a. die beiden Installationen in Form von schaumstoffgedämmten Kugeln bzw. Höhlen, in die man sich hineinsetzen konnte.
Jepp, das ist Kunst mit Mehrwert 🙂
Danke für den Link zum Artikel, der zeigt, wie westlich geprägt viele unserer Vorstellungen sind! Fand ich sehr spannend zu lesen.
Indiana Jones und der Jade-Dildo. Würde ich ins Kino gehen.