Was ist eigentlich Religion? Die Ergebnisse

Religion: Tochter der Hoffnung und der Furcht, welche der Unwissenheit die Natur der Unbegreiflichkeit erklärt.“
―Ambrose Bierce, „Des Teufels Wörterbuch“.

Letzte Woche hatte ich euch gefragt, was Religion ist bzw. was ihr darunter versteht. Das passierte u.a. in Vorbereitung des Seminars „Religion und Sozialismus“, für das ich zusammen mit einer Kommilitonin zwei Kommilitoninen Religionsbegriffe und -definitionen recherchieren sollte.

Klar ist von Anfang an, dass es auf die Frage, was denn nun Religion sei, keine einheitliche Lösung geben kann. Mal ganz abgesehen davon, dass man spätestens seit Luhmann ja ohnehin nicht fragen sollte, was eine Sache sei, also nach dem ontologischen oder metaphysischen Gehalt, dem Wesen; sondern nach dem Wie: Wie ist denn nun Religion? Wie geht das, was tut das, wozu dient das, welche Funktion hat es? — ganz abgesehen davon wird es schwer, den Diskordianismus, den Satanismus, den Islam, den Buddhismus, den Pastafarianismus, den Siebententagsadventismus unter eine Klammer zu bringen.

Aber der Reihe nach.

Ergebnisse der Umfrage

Alle Kommentare finden sich hier — vielen Dank für die rege Teilnahme! Ich versuche mal, die Antworten zu clustern:

  • Religion hat etwas mit dem Selbstbild zu tun, sofern es ein Bekenntnis betrifft – und das kann durchaus polarisieren und wird gegenwärtig gemeinhin eher kritisch gesehen.
  • Gleichzeitig bietet „die Religion“ (vermutlich im Sinne einer Gemeinschaft) geschützten Raum für Spiritualität. (Leider führt uns das auf eine erneute Bestimmungsfrage, nämlich die nach der Bedeutung von Spiritualität.) In jedem Fall wirkt sie gemeinschaftsstiftend oder -bindend.
  • Religion hat mit Glauben zu tun, hier verstanden als Abgrenzung zu Wissen, weil sie auf nicht beweisbaren Grundlagen beruht, aber einen Mehrwert verspricht, sobald man an sie glaubt. Niemand nannte im Übrigen, dass dieser Glaube verpflichtend sei, im Gegenteil wurde er mehrfach als kontingent erwähnt (man kann daran glauben).
  • Religion wird oft als Moral- oder ethisches System verstanden, also als (Sammlung von) Handlungsanweisungen oder Reflexionshilfe für das richtige Verhalten. (Wir müssen hier also eigentlich die Diskussion, was Ethik sei, inkludieren.)
  • Jemand warf eine luhmannianische Definition ein, auf die wir unten noch zu sprechen kommen. Religion wird hier auch als wissenssoziologische Quelle von Sätzen/Axiomen verstanden, die weder im Alltagsverstand noch in der Wissenschaft ihren Platz haben.
  • Ein Nebensatz verweist noch auf die Trost-Funktion mit dem Lesch-Zitat ‚Frag mal in einem abstürzenden Flugzeug nach Atheismus‘.
  • Eine Kommentatorin nennt Sinnstiftung, insbesondere angesichts des Wissens um den eigenen Tod.
  • Religion ist ein Herrschaftsinstrument bzw. Teil der herrschenden Ideologie (Marx).

Zusammenfassung

Ich fasse kurz zusammen, welche Funktionen von Religion genannt wurden:

  • Erklärungsmodell für ansonsten unverständliche Phänomene, dabei selbst irrational oder jedenfalls immanent unverständlich/unergründlich
  • Moralsystem und Orientierungshilfe
  • Sinnstifterin und Trostspender
  • Vergemeinschaftungs-Werkzeug
  • Herrschaftsinstrument
  • Quelle von/Ort für „Spiritualität“

Man sieht: Das ist eine recht diffuse und kaum zusammenhängende Melange aus Funktionen. Die Tendenz scheint zu sein, dass Religion nüchtern-distanziert beobachtet wird, wenig emphatisch oder affirmativ (außer in Reaktion auf eine religionskritische Position), mindestens zwiespältig. Die Religion wird eher individuell oder individualistisch verstanden, als Verhältnis oder Modus zu etwas anderem. Zudem scheint bei den meisten Aussagen durch den Begriff der Religion das Gebilde Christentum durch, so jedenfalls mein Eindruck.

Trotzdem kann man damit schon die meisten mit Religion(en) zusammenhängenden Phänomene einigermaßen erklären; Kreuzzüge, Opfergaben, Meditationen, asketische Gelübde und Orgien. Allerdings auch nur, weil u.a. der wiederum definitionsbedürftige Begriff Spiritalität eingeführt wurde. Vorerst bleibt es also schwierig.

Gebräuchliche Religionsbestimmungen

Das Singularwort Religion im heutigen Sinne entstand wohl in der Neuzeit und hat sich dann im westlichen Denken ab etwa dem 19. Jahrhundert durchgesetzt — in Abgrenzung zur Wissenschaft, aber natürlich auch zum Staat oder zum politischen Gemeinwesen und natürlich durch verbreitetere Erkenntnisse über andere Religionen als das Christentum (und vielleicht noch über Judentum und Islam, der über die Konflikte mit dem osmanischen Reich bekannt war). Vorher war der Begriff (nicht ausnahmslos, aber eher) ein Synonym für bestimmte (Mönchs-)Orden oder für Moral im Allgemeinen.

Es kommt also auch immer darauf an, wovon man Religion abgrenzt; vom ganz allgemein Profanen, von der Wissenschaft, von der Politik, von der Ideologie, von Institutionen (Kirche!), vom Unglauben (Barbar? Heide? Ketzer? Hexe?), von der Magie, etc.pp.

Festzuhalten ist: Religion ist ein moderner Begriff für eine moderne, westliche Perspektive auf ein modernes Phänomen. Universalität ist daher nicht anzunehmen.

Etymologie

Die Etymologie ist nicht geklärt und vermutlich auch nicht zu klären. Es gibt zwei verbreitete Herleitungen: von re-legere, also „erneut lesen“, vor allem bekannt durch Cicero; und von re-ligare, also „rückbinden“, „festbinden“. Beide Begriffsgeschichten legen natürlich ganz andere Deutungen nahe. Religare betrifft aus meiner Sicht eher den sozialen Aspekt, sei es in der Beziehung zu einer Gemeinde oder zu einem höheren Wesen, dem man sich verpflichtet fühlt. Relegere scheint eher einen Bezug zur Glaubenspraxis zu haben und darauf zu deuten, wie man Religion übt. Aber auch das birgt die Gefahr, hier eine moderne Denkweise auf einen alten Begriff zu stülpen.

Klassische und lexikalische Definitionen

  • Wikipedia: „Religion is a range of social-cultural systems, including designated behaviors and practices, morals, beliefs, worldviews, texts, sanctified places, prophecies, ethics, or organizations, that generally relate humanity to supernatural, transcendental, and spiritual elements—although there is no scholarly consensus over what precisely constitutes a religion.“
  • Merriam Webster: „a personal set or institutionalized system of religious attitudes, beliefs, and practices“ (tautologisch)
  • Oxford Dictionaries: „the belief in and/or worship of a superhuman controlling power, especially a personal God or gods“ (ob das den Buddhismus charakterisieren kann?)

Generell unterscheiden einige Quellen zwei „Arten“ von Religionsbegriffen:

  • Substanzialistisch (quasi das Wesen der Religion typisierend): Bezug auf Heiliges, Numinoses; phänomenologisches „Erleben des Göttlichen“; Garant des stets Abwesenden Anwesenden, Gegenwärtigen
  • Funktionalistisch: Angstreduktion, Sinnangebote, Moralvermittlung, Gemeinschaftsstiftung; Problem: Das inkludiert viele gesellschaftliche Bereiche wie Fußball oder immanente politische Ideologien …

Man stößt hier auch auf die Frage, wer die Deutungshoheit haben soll, ob etwa der Daoismus oder der Buddhismus Religion, Philosophie oder Selbsttechnik sein sollen. Die Religionsdefinition ist also genau wie die Religion selbst eine Herrschaftstechnik.

Kritische Definitionen

Neben dem o.g. Bierce-Zitat wurde in den Kommentaren natürlich auch auf Marx hingewiesen:

Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben, oder schon wieder verloren hat. […] Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.

Ein anderer Kommentator verwies auf Dostojewskij und paraphrasierte ihn so:

Die Religion MACHT den Menschen. Sie bewahrt ihn davor, die Fähigkeit zur Reue zu verlieren, so wie sie ihn auch davor bewahrt, seine Erlösung (hier im christlichen Sinne) durch andere „Endziele“ zu ersetzen. Die Geschichte hat den Beweis erbracht. Die Religion ist nicht der Seufzer, sondern das stille Leuchten im Innern des Geheilten.

(N.B.: Inwiefern man hier Übernatürliches vermuten will, bleibt jedem und jeder selbst überlassen; eine aus meiner Sicht spannende und überzeugende Theorie erklärt die mystischen Verzückungen von Paulus, Dostojewskij und anderen ja durch Epilepsie: „Eine andere mögliche Quelle intensiver Visionen sind epileptische Anfälle im Schläfenlappen. Sie erzeugen in manchen Fällen ebenfalls quasi-religiöse Halluzinationen, wie Sacks erklärt. So erlebte der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski regelmäßig Anfälle, die ihn geradezu in religiöse Ekstase versetzten.“ [Quelle] Das tut der moralischen Religionsfunktion natürlich keinen Abbruch, kann höchstens indirekt deren Legitimation in Frage stellen.)

Durkheim und sein Funktionalismus

Nun kommen wir auf v.a. soziologisch informierte Begriffe. Den Anfang macht Durkheim:

Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereint, die ihr angehören.

Zu dieser Definition kommt noch die Überlegung hinzu, dass die Struktur der Religion die der Gesellschaft, in der sie vorkommt, repliziert. Die Wikipedia fasst zusammen:

Durkheim wollte nachweisen, dass Religion jeglicher Transzendenz entbehrt und vielmehr auf einer rationalen Basis begründet ist, die die Sozialstruktur einer Gesellschaft darstellt; aus diesem Grund entwickelt sich die Religion auch aus der Gesellschaft. Mit diesem Ansatz wird Durkheim auch zu einem Pionier der Wissenssoziologie, da die Religion hier als Ursprung und Stütze der gesellschaftlichen Wissensstrukturen gesehen wird.

Wesentlich war die (auch außereuropäisch fundierte) Beobachtung, dass Religionssysteme die Struktur des jeweiligen Clans oder der Gemeinschaft abbilden und dadurch vergöttlichen. Das erscheint auch grob stimmig: In segmentären Gesellschaften haben wir eher animistische oder polytheistische Konzepte, im Feudalismus dann eine klare Hierarchie von Gott/Engeln/Priestern/Gläubigen etc. So kommt ein Teil der Herrschaftslegitimation in die Welt.

Leider musste Durkheim in diese Definition den Begriff der Kirche aufnehmen, um sich von magisch-okkulten Anschauungen abzusondern. Das finde ich gleichermaßen gelungen wie verirrt; einerseits gefällt mir daran, dass es impliziert, dass Religion durch Macht (also eine mächtige und traditionsreiche Organisation) legitimiert wird und definieren kann, was als „legitime Religion“ und was als „verfolgungswürdige oder jedenfalls illegitime Hexerei“ durchgeht. Verirrt ist aber die Vorstellung, man könne das irgendwie abgrenzen außer in der je aktuellen politischen Lage.

Luhmann

Was wir bei Durkheim schon finden, ist die Idee einer Weltverdoppelung durch die Religion. Die führt Luhmann auf die Spitze. Alle Systeme verdoppeln ja die Welt (oder einen Weltausschnitt). Das Wirtschaftssystem nimmt die Welt und dupliziert sie unter dem Code „Eigentum/Nichteigentum“, die Kunst unter dem Code „Schön gemacht/hässlich gemacht“, das Recht nach „Recht/Unrecht“, die Wissenschaft theoretisiert über die Welt unter dem Code „Wahr/Unwahr“ etc.pp. Eine „Welt an sich“ außerhalb dieser polykontexturalen Kontexte ist den beobachtenden Systemen nicht zugänglich. (Wohlgemerkt: Wir analysieren hier Systeme, diese Beobachtung bezieht sich also auf eine moderne, funktional differenzierte Gesellschaft und beansprucht erstmal keine Gültigkeit für animistische Clan-Gesellschaften!)

Der Code des Religionssystems ist „immanent/transzendent“ – die Verdoppelung nimmt also unsere Welt und stellt ihr (kommunikativ) eine transzendente und nicht wahrnehmbare „zweite“ Welt zur Seite. (Sie schafft in einem radikaleren Sinne eine eigene Welt als die anderen Systeme.) Den Code kann man wie bei allen Systemen auf sich selbst anwenden und kommt dann etwa zu sakralen Gegenständen: Man führt die Unterscheidung auf der „immanenten“ Seite wieder ein und unterscheidet dadurch z.B. zwischen sakralen und profanen Bauwerken. Wird die Differenz instabil, kollabiert sie, wird das Immanente transzendiert – hier siedelt Luhmann Ideologien und Protestbewegungen an. (Umgekehrt setzen vielleicht viele mystische Glaubenskonstrukte, jedenfalls die Emanationslehren, einen unterscheidungsfreien Anfangzustand voraus, ich denke da an die Kabbala und das Ain Soph; man darf nun aber nicht den Fehler machen und denken, dass hier „alles Transzendenz“ ist, denn das ergibt ohne Immanenz ja gar keinen Sinn.)

Das charakterisiert nun die Vorgehensweise, die Codierung der Religion; aber was ist ihre Funktion? Luhmann nähert sich negativ:

Probleme anderer Bestimmungen

Ein Problem bei der Funktionsbestimmung der Religion sieht Luhmann darin, dass der Religion viele Funktionen zugerechnet werden, die funktionale Differenzierung aber bedingt, dass jede System Spezialprobleme hat:

So kann man es als Funktion der Religion ansehen, Trost zu spenden, Ängste zu besänftigen, Sinnfragen plausibel zu beantworten, Gemeinschaft in kultischem oder auch Glauben bestätigendem Handeln herzustellen. Das alles und mehr. Allerdings verdünnt sich dann die Einheit der Religion zur Einheit einer solchen Liste, […] und die Frage, ob die Einheit der Liste eine religiöse Einheit ist, müßte mit der Auskunft beantwortet werden, daß die Funktion der Religion eben die Herstellung der Einheit der Liste der religiösen Funktionen sei.  (Religion der Gesellschaft, S. 120)

Luhmann verwirft auch die Idee, es ginge vor allem um Gemeinschaftsstiftung:

Die These Dürkheims, Religion habe eine solidaritätsstiftende, moralisch integrierende Funktion wird heute wohl kaum mehr vertreten. Religion gehört, ganz im Gegenteil, zu den erstrangigen Konfliktquellen, und dies nicht nur in der modernen Gesellschaft. (ebd. u. f.)

Oder um immanente Moral und Rechtsbegründung:

Die Notwendigkeit des Opfers, das Gott verlangt und schließlich an sich selbst exemplarisch vorführt, läßt sich gut belegen. Aber als Hinweis auf die Funktion der Religion deuten sie eigentlich nur darauf hin, daß Gott Unterscheidungen anordnet, ohne die nichts legitimiert, nichts bezeichnet, nichts beobachtet werden könnte. Und das fällt um so mehr auf, als Gott unschuldige Opfer verlangt – Isaak, Iphigenie, schließlich den eigenen Sohn. Es darf sich also gerade nicht um eine bloße Konsequenz von Schuld, um einen bloßen Rechtsvollzug handeln.

Oder um Sinngebung für andere Systeme:

Alle Funktionssysteme finden in ihrer Funktion selbst den Sinn ihres Beitrags zur Autopoiesis der Gesellschaft. Sie benötigen dafür keine Religion. Sie entwickeln für ihre eigenen Formparadoxien eigene Entfaltungen und können sich damit eigenen Zeitbedingtheiten anpassen, die nicht mehr gesamtgesellschaftlich synchronisiert werden müssen. Wenn dann gleichwohl noch eine religiöse Sinngebung mitgeliefert wird, wirkt das wie eine unnötige, technisch nicht sehr hilfreiche Sinnüberhöhung.

Es kommt uns merkwürdig vor, wenn sich das Erziehungssystem oder die Politik auf Religion beruft, auch und gerade, weil wir das immer wieder beobachten und weil es temporär erfolgreich sein kann. Das widerlegt aber nicht die Theorie; Korruption widerlegt ja auch nicht die prinzipielle Geschlossenheit von Politiksystem und Wirtschaftssystem. (Ob sich das in künftigen, anders differenzierten Gesellschaftsformen, also z.B. der vielfach prognostizierten „Netzwerkgesellschaft“, anders verhält und ob das Erstarken vermeintlicher religiös-politischer Mischformen dafür ein Indikator ist, wäre eine spannende Anschlussfrage.)

Was macht dann Religion …?

Religion kommt dann ins Spiel, wenn andere Unterscheidungen – sagen wir: zahlen/nichtzahlen im Wirtschaftssystem – als Codierung „zum Problem werden“ (S. 122). Die anschlussfähige, also präferierte Seite des Codes ist „zahlen“; „nichtzahlen“ erlaubt (normalerweise) keine weiteren Operationen innerhalb des Systems. Wie aber kommt der Code zustande und wie löst man die Paradoxie der Präferenzbegründung des Positivwerts des Codes?

Genau das leistet die Religion. Einfacher gesagt: Das Wirtschaftssystem kann Programme festlegen, die definieren, wann man zahlen und wann man nichtzahlen soll, aber es kann logisch nicht festlegen, wieso es zahlen gegenüber nichtzahlen präferiert, woher die Präferenz stammt. Aus einer Rezension und auf moralische Fragen gemünzt:

Jede Ethik setzt die Unterscheidung von gut und böse voraus. Wenn man sie befragt, warum man überhaupt derart unterscheiden solle, gerät sie in ernsthafte Schwierigkeiten, die man den meisten Moralphilosophien ohne weiteres ansehen kann. Die Religion aber weicht dieser Frage nicht aus, sondern konzentriert sich darauf, sie zu stellen. An die Antwort freilich muss man glauben, glaubt man aber einmal, dann ist keine Widerlegung durch externe Kriterien möglich. (Werber, Deutschlandfunk)

Wir haben hier also eine Art von „Letztbegründung“ der Codepräferenzen, oder besser gesagt eine entparadoxierende Begründung der Einheit dieser Codes vorliegen, und darüber hinaus kann die Religion nichts sagen — sie kann die Systeme nicht hinsichtlich ihrer Programmierung umstellen, also nicht entscheiden, wie die Systeme entscheiden, wofür sie die positive oder negative Seite ihres Codes verwenden.

Anders gesagt: Die Religion sichert weitere Anschlussfähigkeit der Kommunikation, liefert Formen, auch wenn die Kommunikation die Codierung eines Systems überschreitet, Formen der Schließung sprengt, in Inkonsistenzen und Paradoxien läuft. (RdG, 140ff) (Sie bricht freilich selber leicht zusammen, sobald sie eben nicht einfach geglaubt wird.)

Dieser Religionsbegriff stellt nicht in Abrede, dass sich eine Organisation wie die Kirche auch als Machtinstanz und politische Akteurin, als Wirtschaftsunternehmen und Arbeitgeberin etc. pp. versteht, aber das ist gerade nicht ihre religiöse Funktion (sondern gerät sogar damit in Konflikt und Widerspruch).

Und was glauben wir jetzt?

Der luhmannianische Begriff ist ausgefuchst und clever, aber ich finde ihn nur bedingt hilfreich bei der Analyse von Ritualen und der Rolle von Religion im Leben von gläubigen Menschen. (Wenn man den Paradoxierungs-Funktionsäquivalent-Sinnformen-Ausführungen Luhmanns zu folgen versucht, kann man aber vielleicht ein paar mystische Momente erleben …)

Daher neige ich zu der Annahme, dass man für unterschiedliche Beobachtungen je nach Kontext andere Religionsbegriffe wählen sollte — und vor allem muss man davon Abstand nehmen, zu versuchen, alle Religionsphänomene unter einen Hut zu bekommen. Diesen Hut könnte schließlich nur Gott aufhaben.

 


Weitere Quellen

Das meiste habe ich verlinkt. Wer noch weiter lesen will, dem sei der vierte Band der „Soziologischen Aufklärung“ von Luhmann empfohlen. Hier taucht eine knappe Kurzform der wesentlichen Codierungs-Transzendierung, die oben angesprochen wird, schon im I. Abschnitt „Gesellschaftliche Differenzierung“ (unter VI.) auf. Vertieft wird die Beschäftigung mit Gott Religion dann im IV. Abschnitt:

  •  Läßt unsere Gesellschaft Kommunikation mit Gott zu?
  • Die Unterscheidung Gottes
  • Brauchen wir einen neuen Mythos?

Das ist alles maßlos lesenswert, und man kommt nicht umhin, in Luhmann einen der sensibelsten, akzeptierendsten und dennoch trockensten und apodiktischsten Religionskritiker des 20. Jahrhunderts zu sehen.


Beitragsbild: Photo by Jacqueline Day on Unsplash. Das findet man bei der Suche nach „transcendence“ und ich fand es irgendwie stimmit, weil kein religiöses Symbol enthalten war.

5 Gedanken zu „Was ist eigentlich Religion? Die Ergebnisse“

  1. Sehr tiefgehend. Interssant ist, dass Religion verschiedene Funktionen erfüllt (siehe kurze Zusammenfassung).
    So könnte man fast zu der Auffassug kommen, dass jeder seine eigene Religion hat, was wahrscheinlich auch zutrifft.

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    • Vielen Dank! Ja, es ist sicherlich eine individuelle Frage, aber interessant sind auch die strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen dem, was als „Religion“ gefasst wird.

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