Vielen Dank für eure diversen Gedanken zum Thema Ethik, sowohl in den Kommentaren zum letzten Artikel als auch über persönliche und Messenger-Kommunikation. Fühlt euch frei, mir auf beliebigem Wege weitere Definitionsangebote zu machen!
Ich fasse hier mal ein wenig zusammen:
Contents
Ergebnisse der Kommentare und Gespräche
- Es geht in der Ethik um Handeln unter dem Einfluss von Moral(en) (Kant: „Sitten“) und Werten, aber auch um Konsequenzen dieses Handelns.
- Außerdem sollten oder müssen beim Handeln die situativen Elemente mitbedacht werden (christlich: situative Ethik; Kant: Urteilskraft, …).
- Eine vielgenannte Definition: Ethik als Meta-Moral, die konkrete Handlungsmotive oder abstrakte moralische Prinzipien daraufhin abwägt, ob sie „statthaft“ sind.
- Ethik scheint aus der Religion hervorzugehen oder mit ihr zusammenzuhängen.
- Die genaue Relation ist aber unklar: Ist Ethik eine Art Meta-Religion? Oder eine Alternative (wie die Benennung des Schulfachs in vielen Bundesländern suggeriert)?
- Eine schöne Formulierung fand ich „der Spagat zwischen Nächstenliebe und Selbstliebe„.
- Heuristiken wurden ins Feld geführt, etwa die Leitfrage „Schade ich jemandem, wenn ich so handle?“ und die „Goldene Regel„.
- (Man beachte: Kant findet diese subjektiven (!) Prinzipien im Gegensatz zu seinem objektiven kategorischen Imperativ übrigens unzureichend, weil unvollständig: Es fehlen die Pflichten gegen sich selbst, die „Liebespflichten“ und Pflichten, die aus Schuldigkeit resultieren. Diese ergeben sich erst aus einem objektiven Prinzip.)
- Ein Kommentator führt ein moralisches Problem an: Nämlich, ob es legitim sein kann, jemandem zu schaden, um jemand anderem zu helfen. Das berührt Fragen des Utilitarismus (also einer Ethik, die „das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl an Menschen“ als Leitidee nimmt) und der Handeln-/Unterlassen-Dichotomie (ist es moralisch gleichwertig, jemandem zu schaden oder jemandem nicht zu helfen? In welcher Größenordnung?).
- Mehrere Personen fanden, dass „Ethik“ etwas wahnsinnig Schwammiges ist, das man so spontan gar nicht definieren kann.
- Weitere Fragen, die teils eng zusammengehören:
- Gilt eine Ethik universell?
- Gelten Normen, moralische Bewertungen universell? Ist ein folterndes CIA-Angestelltes moralisch (noch) schärfer zu verurteilen als ein folternder Warlord, weil die CIA-Person eigentlich dem moralisch überlegenen Westen dient/einen Eid geleistet hat/zu den Guten gehört? Oder andersrum?
- Gibt es objektive ethische Normen – oder landet man immer bei Geschmacksfragen?
- Ist die Ethik, die wir heute haben, eine koloniale Ethik der Siegreichen?
Wir sehen: Das geht alles in eine vergleichbare Richtung, nämlich zur Frage danach,
- wie wir handeln sollen, obwohl wir vielleicht anders handeln wollen und
- nach den dahinter stehenden Prinzipien und Begründungen.
Ich habe leider trotz einer Vorlesung und einem Seminar zum Thema auch keine vollbefriedigende Definition anzubieten. Ich glaube aber, das hat Methode. Daher …
My two cents
… möchte ich noch meinen eigenen Gedankengang anfügen, der aber noch nicht so richtig spruchreif ist und nicht beansprucht, wirklich weiter zu helfen.
Ethik als philosophische, wissenschaftliche, journalistische, diplomatische, rechtliche, politische, legitimatorische, …, also jedenfalls als kommunikative Praxis dient dazu, einen Kommunikationsraum zu eröffnen, der es erlaubt, von je individuellen Interessen temporär (und vermutlich oft nur scheinbar) abzusehen. Das wiederum erlaubt es, Kommunikationsanschlüsse zu suchen und zu finden, die ansonsten nicht offen stünden (zum Preis der „Moralisierung“ des Problems, was wiederum bestimmte Kommunikationen unmöglich macht).
Damit lassen sich Interessen dann kommunikativ „von oben“ beobachten, abwägen oder temporär ausblenden, und man kann die Komplexität des Problems reduzieren auf die Frage: „Welche Handlungsoption ist denn die gute?“ (Das funktioniert noch besser bei der Bewertung von schon geschehenem Handeln, dessen Konsequenzen man kennt.)
Durch das Einführen von Werten oder Normen, die durch eine ethische Argumentation legitimiert sind, kann in vielen Kontexten vielleicht auch Kommunikation erzwungen oder sehr wahrscheinlich gemacht werden. (Das wiederum oft um den Preis der Moralisierung und Zurechnung auf verantworliche Personen, was gerade dann nicht weiterhilft, wenn man es mit komplexen strukturellen Problemen zu tun hat.)
Normen
Normen wiederum sind kondensierte, reflektierte Erwartungen (darin folge ich recht eng Luhmann – meine Empfehlung ist dieses Video: „Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?„).
Diese Normen werden auch und gerade beibehalten, wenn gegen sie verstoßen wird:
- Bei den Verstößen handelt es sich nicht um Ausnahmen (niemand erliegt der Illusion, man könnte Diebstahl und häusliche Gewalt durch Gesetze oder moralische Vorschriften eliminieren, die Erwartung ist also eigentlich „unsinnig“, dass es zu diesen Handlungen nicht kommt).
- Sie werden aber auch aufgrund der Erfahrung des Verstoßes nicht korrigiert (wie bei anderen, nicht-moralischen Erwartungen).
- Normen scheinen kontrafaktisch „enttäuschungsresistent“: Von ihnen wird nicht abgerückt, obwohl die Enttäuschung der Erwartung genauso erwartet wird wie die Erfüllung.
Im Gegenteil scheint der Verstoß gegen die Norm und den dahinter liegenden Wert (Eigentum, Gesundheit) die Norm erst zu legitimieren: Wenn noch immer Äpfel geklaut werden, brauchen wir erst recht ein Verbot! Das erklärt natürlich auch, warum ganze Kriminalitätszweige und ganze Immoralitätskosmen sich als Definitionsproblem zeigen: Würden wir Drogen nicht kriminalisieren, gäbe es keine Drogenkriminalität; wäre Monogamie kein Gebot, wäre „Untreue“ gar nicht existent.
Werte sind, wiederum mit Luhmann, zudem nicht wirklich hinterfragbar (nur in der inhaltlichen Definition: Was heißt „Gleichheit“?) und brauchen, um geäußert zu werden, nicht unbedingt eine Autorität als Rückendeckung. (Autoritäten müssen aber wiederum Werte mitbringen, und ihre Autorität besteht nicht zuletzt darin, die gerade angedeutete Definition leisten zu dürfen.)
Dabei müssen immer genügend Freiheitsgrade erhalten bleiben, darf das Gute oder der Wert nicht zu klar definiert sein. Sonst funktioniert die Anschlusskommunikation nicht und man landet bei charismatischer Herrschaft, Fundamentalismus etc. Ethik muss (vergleichbar einem Gottesbegriff) immer einen amorphen Kern haben – nur so ist sie zustimmungsfähig, ohne sofort Handeln zu konditionieren oder Kommunikation abzuwürgen.
Ethik als Kommunikationssystem
Mit Hilfe der Ethik kann ich beginnen, in diesen Kategorien von Normen und Werten zu diskutieren. Und dann von „Ich will aber nicht, dass du meine Äpfel ungefragt isst!“ vs. „Ich habe aber Hunger!“ abstrahieren – um dann entweder
- strukturell etwas zu ändern (Hunger anders abhelfen),
- normativ etwas zu ändern (Mundraub wird legalisiert; wir abstrahieren und reduzieren die Komplexität der Faktenwelt auf die Welt der Werte und Normen, was dann wiederum per Innen-Differenzierung der Normenwelt und Normen-Abwägung zu mehr Komplexität führt),
- individuell oder kommunikativ etwas zu ändern (gut, du darfst meine Äpfel essen, aber nur du und nur, bis du satt bist),
- oder weiter zu machen wie bisher, aber immerhin darüber geredet zu haben, was eventuell zu anderen Anschlüssen führt. Dann kann man die Mundraubenden besseren Gewissens wegsperren.
Ethik ist insofern ein (wissenschaftliches, aber auch generell kulturelles) Kommunikationssystem, das sich mit ebendieser Werte- und Normensphäre befasst; mit den o.g. Funktionalitäten und Vorzügen; ein System, das eine eigene Semantik und ein eigenes Programm vor dem Code „ethisch/nicht-ethisch“ ausbildet.
Ergibt das ein bisschen Sinn oder ist es nur kompliziert?
Beitragsbild: Photo by Markus Spiske on Unsplash
6 Gedanken zu „Was ist Ethik? Ergebnisse“