Die Form-Medium-Theorie, die Niklas Luhmann (inspiriert durch u.a. Fritz Heider und George Spencer Brown) gerne verwendet, bereitet immer wieder gewisse Verständnisprobleme. Ich versuche mich daher hier (auch als Vorarbeit zu einem Kapitel meiner MA und einem Essay) an zwei Beispielen.
Alice in the snow
Beim Schneespaziergang beobachten wir als Medium — wen überrascht’s — den Schnee, der aus Schneekristallen besteht. Diese Kristalle, die Elemente des Schnees, sind miteinander „gekoppelt“: sie hängen zusammen, aber nur sehr lose. Sie können leicht verweht oder zusammengepresst werden. Der Schnee besteht, auf einer höher auflösenden Beobachtungsebene, aber wiederum aus Formen: Wassermoleküle haben durch die Kälte bestimmte, feste Kristallstrukturen gebildet. Was jeweils Form, was Medium ist, ist die kontingente Setzung einer Beobachterin.
Alice läuft nun in neuen Wanderstiefeln durch den Schnee und prägt mit jedem Schritt (der Zeit verbraucht!) einen Abdruck ein. Jetzt sind die vorher lose gekoppelten Flocken fest gekoppelt. Je loser das Medium, desto leichter prägt sich ein Abdruck ein: Wäre der Untergrund nicht Schnee, sondern Eis (also sehr fest verbundene Wassermoleküle), dann würde Alice keinen Abdruck hinterlassen. Im Gegenteil: Sie würde rutschen. Das „lose“ Medium liefert einen Halt, den ein „festes“ Medium nicht bietet. Außer, Alice hätte Spikes an den Stiefeln — dann gäbe es wieder Halt, und dann gäbe es auch wieder eingeprägte (aber andere!) Formen.
Das also ist unsere Form: ein Abdruck des Stiefels im Schnee. Der Stiefel(-schritt) unterscheidet den Abdruck vom Schnee-Medium. Dieser Abdruck ist gespeichert, aber relativ temporär: Er wird spätestens mit der Schmelze verschwinden. Oder er wird durch andere Abdrücke überlagert.
Eine Form ist das aber auch für uns als Beobachtende: Wir unterscheiden den Abdruck des Stiefels von anderen (oder fehlenden) Abdrücken; der Stiefel ist in der Form noch präsent, aber sie ist nicht der Stiefel. Der Stiefel ist längst weitergezogen. Trotzdem reicht der Verweis, um den Stiefel- vom Reh-Abdruck unterscheiden zu können. (Jede Form ist eine Unterscheidung mit zwei Seiten, hier: Abdruck und Stiefel, oder genauer: Schnee/Abdruck und Stiefel.) Bemerkenswert ist, dass hier der Schnee nicht mehr interessiert; er ist als Medium völlig unwichtig geworden, sozusagen „unsichtbar“. Betrachtet wird die Form.
Das Medium steht, weil es nun eingedrückt ist, nicht mehr für die Bildung von neuen Formen zur Verfügung: Da ist kein „Schnee“-Medium mehr, sondern der Abdruck. Wenn wir ein bisschen herauszoomen, sehen wir, dass es noch viel mehr Spuren gibt. Nun können wir die Abdrücke, die Alice hinterlassen hat, wierum als lose Elemente begreifen, die wir zur Form „Alice‘ Spur“ koppeln können. Wenn dann noch Bobs und Charlies Spuren und Pfotenabdrücke dazukommen, können wir aus diesen Elementen die Form „Der Weg zur Aussichtsplattform“ bilden etc. Hierbei wird die Prägung nicht mehr von der Operation „Schritt“, sondern von unserer Operation „Beobachtung“ vorgenommen.
Musik: Eine Klaviersonate
Um das Ganze etwas näher an die Abstraktionsebene zu führen, der wir bei Heider, Luhmann und Co. begegnen, kommen wir zum zweiten Beispiel: Musik. Die Form, die wir uns letztlich ansehen wollen, ist eine Klaviersonate mit 3 Sätzen (sagen wir: Allegro, Adagio, Allegretto).
Nun können wir auf verschiedenen Ebenen herleiten, in welches Medium diese Form geprägt ist. Eine Ebene ist materiell: Die Form ist physisch in Tinte auf Papier, als „vereinbarte“ Notenzeichen in einem Notensystem, eingeschrieben — denn vermutlich müssen wir uns eine Partitur ansehen. Andererseits existiert sie aber als Schallwellen in Luft, wenn sie aufgeführt wird.
Davon können wir nun noch eine kompositorische Ebene unterscheiden, und wir beginnen auf einer sehr „niedrigen“ Ebene. Die Sonate ist in C-Dur komponiert. Sie beginnt mit dem Grundton, einem C4. Dieser Ton ist eine Form im Medium der Frequenzen, und nimmt darin eine relativ präzise Stelle ein (etwa 260 Hz). Oder anders gesagt: Das C4 ist nur deshalb eine Form, weil sie von der Form des D4, des C5 usw. unterschieden ist, aber gleichzeitig auf diese verweist.
Die Stelle im Medium der Frequenzen ist kontingent, aber nicht beliebig; man könnte auch (je nach Stimmung) einen anderen Grundton oder eine andere Frequenz wählen, zumal nur das Klavier spielt und sich nicht noch auf andere Instrumente „einstimmen“ muss. Aber man müsste dann alle anderen Formen (Töne) daran ausrichten, um den Zusammenhang zu wahren und die gewünschten Intervalle bilden zu können. (Wir ignorieren, dass der Klavierton auch noch Obertöne produziert und letztlich alle Saiten durch unser C4 angeregt werden.) Analog dazu können wir nun alle anderen Formen (also Töne wie C3, C5; D4; F#6) bilden.
Aus den Formen der Töne bildet sich auf einer anderen Beobachtungsebene nun ein neues Medium: die auf einer Klaviatur zur Verfügung stehenden Töne, die in (je nach Stimmung) klar definierten Beziehungen zueinander stehen. Sie sind lose gekoppelt: Sie sind voneinander abhängig, aber das sagt noch nichts darüber aus, welche Tonfolgen sich verwenden lassen.
Dieses Medium aus 88 Tönen ist das gesamte Tonmaterial, das unserer Komponistin Alice zur Verfügung steht. Hierin lassen sich nun spezifische Formen bilden, die als Material besser handhabbar sind: Tonleitern. Wir sortieren also alle C#, D#, Eb usw. aus und bilden die Skala C-Dur (CDEFGAHC). Die anderen Töne verschwinden nicht aus dem generellen Medium des Tonmaterials, im Gegenteil, sie werden vermutlich laufend gebraucht, um Akzente zu setzen, bei Modulationen usw. Aber das wesentliche Material (Medium), das Alice verwendet, kann von Bob als „C-Dur-Skala“ beobachtet werden.
In dieses Medium prägt Alice nun Motive (Formen) ein, die dann als Medium für mehrtaktige Phrasen zur Verfügung stehen. Erst durch Wiederholung wird aus einer beliebigen Tonfolge ein „Motiv“: Formen zeichnen sich durch Wiederholbarkeit und Wiederholung aus; ein einmalig verwendeter chromatischer Übergang ist dann eben keine Form „Motiv“. Jede dieser Formen ist zudem sehr temporär: Sie verklingt sofort wieder. Und: Das Medium gibt die möglichen Formen vor, es ist selektiv; es lässt sich kein Schlagzeugsolo einbauen.
Alice kann jederzeit auf das Medium der Motive oder das Medium der Phrasen zurückgreifen, um Variationen (neue Formen) zu schreiben und die Medien damit zu erweitern; es bildet sich ein neues Medium, das man als „musikalischen Formenvorrat“ der Sonate bezeichnen könnte. Schließlich koppelt sie aus diesem Medium (und unter Einbezug der Tempoangaben, der Aufführungspraxis, dem Können des Pianisten Charly, ihres Geschmacks etc.) feste Sätze. Und diese wiederum bilden eine Sonate. Nur die Sonate kann „gespielt“ werden, nicht das Medium „Musik“ an sich: Dieses Medium ist unsichtbar (auch wenn man eine Tonleiter oder die Motive der „Sonate in C-Dur opus 1“ als Formen spielen kann).
Auch die Gesamtheit der Sonaten Alice‘ oder sogar alle Sätze aus allen Sonaten können zum Medium werden, um etwa die feste Kopplung „Konzertabend“ zu bilden. Bei allen musikalischen Formen gilt aber: Sind sie verklungen, ist die Luft wieder leer, um als Medium für die ungeordneten Frequenzen des Applauses zu dienen.
PS: Diese Beispiele sind sehr allgemein gehalten. Ich verzichte der Kürze zuliebe z.B. darauf, bei der Musik zu thematisieren, dass Zuhörende ein Gedächtnis brauchen, das erst wieder leer werden muss (Auflösung), um neue Formen aufzunehmen etc.
PPS (Update März 2024): Wer sich angucken will, wie man damit in Sachen Musik weitermachen kann, sei auf Dirk Baeckers Beitrag in „Soundcultures“ von Szepanski und Kleiner verwiesen. Da geht es u.a. um die Frage, wie (tendenziell avantgardistische) Elektronika-Produzierende versuchen, hinter den Formen das jeweilige Medium hörbar zu machen. Zum Sammelband „Soundcultures“ gibt’s hier demnächst eine kurze Erwähnung.
Beitragsbild: Zwätzen im Winter.
2 Gedanken zu „Form und Medium bei Luhmann: Ein Schneespaziergang und eine Klaviersonate zur Illustration“