Fremdbeobachtung des Kärwabaums

Auf einer Nürnberger Stadtteilkirchweih („Kärwa“) beobachtete ich die Tage zum ersten Mal, wie ein „Kärwabaum“ aufgestellt wurde. Das war ein recht langwieriger Vorgang: Zwischen dem Ankarren des Baums auf den Festplatz und dem Siegesschnaps verging mehr als eine Stunde — und das bei diversen bereits erledigten Vorarbeiten.

Eine schöne Verfremdungsfrage ist ja immer: Wie erklärt man’s einem Außerirdischen? Das ist eine Randfrage der Exosoziologie (die sich primär damit befasst, wie „Gesellschaft“ bei Außerirdischen verfasst ist bzw. sein könnte, je nach Überzeugungen). Also wagen wir mal ein Verfremdungsexperiment: Was hat es mit dem gemeinschaftlichen Aufstellen und Dekorieren eines anderswo gefällten Baums auf sich?

N.B.: Ein bisschen fühlte ich mich freilich als urbanes Südstadtkind ohne nennenswerte rurale Wurzeln wie ein solcher Außerirdischer. Gleichzeitig ist mir die Idee aber vertraut genug, dass ich mir zutrauen würde, es UFO-Reisenden zu erklären.

Was passiert?

Zunächst zum äußerlich Beobachteten. Das ist schon relativ abstrahiert und weit weg von einer Beobachtung jeder Bewegung:

  • Ein großer Baum wird mit einer Prozession auf den Festplatz gebracht. Dabei führten einheitlich uniformierte Jungs und Männer, begleitet von einer Kapelle und diversen anderen Beteiligten (Kärwamadla, Kärwakinder in überdachten Wagen).
  • Sodann übernimmt ein Mann (!) die Koordination und weist die anderen ca. 30 Männer (!) in 6-10 Kleingruppen ein, wie sie den Baumstamm zu bewegen, Stützgestelle anzulegen, Druck aufzubauen oder nachzugeben haben.
  • In kleinen Schritten nähert sich der Baum dann einer senkrechten Stellung, wird immer wieder aufs Neue abgestützt, jeder Gebietsgewinn abgesichert.
  • Schließlich rutscht der Baum in seine Halterung und kann fixiert werden.
  • Dann wird Bier und Schnaps getrunken.

Das „Aufstellen“ ist ja nur der letzte und stark ritualisierte Schritt, daher fassen wir den Vorlauf mal anhand des Beobachteten zusammen:

  1. Es muss festgelegt werden, wo der Baum wie zu stehen hat. Das ergibt sich vermutlich aus „Tradition“.
  2. Es muss eine Grube ausgehoben oder eine andere Befestigungsmöglichkeit für den Baum am Festplatz präpariert werden. Echte Sappeursarbeit.
  3. Es muss ein Baum ausgewählt, ggf. präpariert und dann gefällt werden, vielleicht muss er auch noch eine Weile lagern und trocknen.
  4. Es muss der Transport organisiert werden, wofür es theoretisch diverser Menschen, praktisch aber auch einiger landwirtschaftlicher Maschinen bedarf.
  5. Es müssen genügend Menschen rekrutiert werden, die zur richtigen Zeit im richtigen Zustand (0,3–0,8 Promille?) am richtigen Ort bereitstehen.
  6. Es braucht Stützen („Schwalben und Stempel“, wie die Wikipedia weiß), Dekoration und weiteres Werkzeug.
  7. Vermutung: Die Koordinationsfähigkeit der Gruppe muss auf Dauer gestellt werden (darauf deuten auch die Uniformen und die Wimpel der „Kärwaboum und -madla“-Vereine).

Wie deuten wir das?

Ich denke, die naheliegende Deutung ist die richtige: Es handelt sich hierbei um ein „traditionelles Gruppen-Ritual“, das dann vielleicht so etwas wie emotionale Energie (Randall Collins) oder kollektive Efferveszenz (Durkheim) freisetzt. Aber warum ist das für Außenstehende faszinierend, selbst wenn die sich nicht durch diese Energie „anstecken“ lassen? (Denn ich fand das Ganze, wie vielleicht auch unser Außerirdisches, faszinierend und beeindruckend, aber nicht mitreißend.) Vielleicht ist das auch die Kehrseite der Frage, wieso es den Leuten, die daran beteiligt sind, „Spaß“ macht.

Bedeutsam und nutzlos …

Zunächst suggeriert die gesamte Szene Bedeutsamkeit. Viele Menschen arbeiten mit, noch mehr Menschen gucken zu; es sind offenbar nur sehr bestimmte Personen (Männer mit bestimmter Uniform) zugelassen, mitzuarbeiten; es gibt einen festlichen Rahmen, Straßensperrungen für die Prozession, Wachpersonen, Speisen und Getränke. Ganz offenbar ist nichts daran zufällig: Das Ereignis ist inszeniert und orchestriert.

Diese Bedeutsamkeit wird konterkariert durch eine gewisse Unsinnigkeit oder Sinnlosigkeit aus einer Nutzenperspektive: Platt gesagt haut man irgendwo einen Baum um, um ihn dann woanders wieder unter großen Mühen aufzustellen.

… oder sogar riskant

Das ganze Schauspiel ist zudem relativ gefährlich, auch nach dem „Stellen“: 2015 etwa wurde eine Moosbacherin vom Kärwabaum erschlagen, und dieses Jahr gab es Verletzte durch einen Maibaum. Und weil wir das wissen, ist es nicht mehr nur gefährlich, sondern sogar riskant: Wir könnten die Gefahr jederzeit durch eine Entscheidung abstellen. Oder anders: Den Baum aufzustellen ist ein Risiko, weil sich die Gruppe jedes Jahr entscheiden muss, das Ritual wieder durchzuführen. Damit geht eine gewisse Verantwortung einher, die aber durch das Argument der Tradition moderiert wird („es gab schon immer einen Kärwabaum, ein Unfall ist kein Grund, mit der Tradition zu brechen“). Die Gefahr dient aber auch dazu, einen Ausbruch aus dem (heutzutage für gewöhnlich recht „sicheren“) Alltag zu bieten.

Da liegt mir die Deutung nahe: Man macht das, weil man’s kann; ob man das dann soziobiologisch als „Brautwerbung durch Potenzbeweis“ weiterdeuten muss, weiß ich gar nicht. Ich würde einfach sagen: Das ist „Kultur“. Und man macht das, weil man es „immer schon so gemacht“ hat: Das Ganze hat und ist Tradition. Am Beobachtungsort vielleicht erst seit wenigen Jahrzehnten, insgesamt aber seit Jahrhunderten. Und damit wurzelt es auch in etwas, was ehemals sehr nützlich war: Holzwirtschaft, vielleicht als essenzielle Lebensgrundlage der betreffenden Gemeinde.

Symbolcharakter: Arbeit und Koordination!

Das heißt, dieses Ritual dient selber als Symbol. Es verweist explizit auf etwas anderes und macht es dadurch boebachtbar. In diesem Fall vermute ich: Die Anstrengung verweist auf die Koordinationsleistung von Menschengruppen. Diese ist durch (u.a.) Arbeitsteilung und funktionale Differenzierung im Alltag nicht mehr sichtbar. Es sind zwar zehntausende Menschen global daran beteiligt, dass ich im Supermarkt ein Päckchen Reis kaufen kann, aber davon sehe ich nichts, denn das wird einfach über das Kommunikationsmedium Geld vermittelt. Rituale wie ein Baumstellen machen die dahinterliegende „Leistung Gesellschaft“ pars pro toto sichtbar. Und der gestellte Baum bleibt im öffentlichen Raum sichtbar. Dieser Bereich umfasst dann auch den Charakter des Rituals als Initiationsritus, wenn junge Burschen (!) zum ersten mal teilnehmen (und vielleicht den ersten Vollrausch erleben, wobei ich mir da heute nicht mehr so sicher wäre).

Außerdem sei angemerkt, dass hier auf den Lebensbereich Arbeit verwiesen wird, aber ohne die heute allgegenwärtige Aufwand-Nutzen-Rechnung: Denn wie schon festgestellt, ist das Unterfangen selbst vollkommen nutzlos. Und auch präkapitalistisch gab es keinen unmittelbaren Nutzen für die Gemeinschaft — außer eben das Einüben von Koordination und die „Gruppenbildung“.

Anachronismus

Ein gut Teil meiner Faszination liegt schließlich auch im mehrfachen Anachronismus. Schon genannt wurde, dass die wenigsten Beteiligten heute noch als Teil ihrer Lebensgrundlage mit Holz zu tun haben dürften. Aber auch andere unzeitgemäße Bezüge werden herausgestellt, die das Ereignis „verfremden“ — allem voran die Geschlechterrollen: Denn offenbar stellen nur Jungs den Baum auf.

Einerseits kann man das auf das Argument der größeren körperlichen Kraft beim männlichen biologischen Geschlecht zurückführen. Aber ist es wirklich realistisch, dass sich keine zwei Frauen finden, die stärker sind als zwei der beteiligten Jungs und Männer? Oder liegt es an der Uniformierung: In Kleid und Schürze wuchtet sich so ein Baum halt schlechter als in Lederhose, Hemd und Tüchlein? Jedenfalls befremdet (mich) auch diese Rollenaufteilung.

Kurzer Exkurs: Aus einem investigativen Interview weiß ich nun, dass hier durchaus divergierende weibliche Perspektiven bestehen. In manchen Landstrichen gibt es das „Maistecken“: Jungs koordinieren sich, um ihren (freilich weiblichen) Angebeteten einen Ast oder Baum aufs Dach (meist des Elternhauses) zu stellen. Als ich hörte, dass sich dagegen ein gewisser weiblicher Widerstand formte, weil man den Jungs „den ganzen Spaß“ nicht überlassen wollte, war ich etwas verwirrt: Für mich war die Idee, einen Baum aus dem Wald auf ein Dach zu schleifen, erstmal kein „Spaß“, sondern „harte Arbeit“, um die ich mich lieber drücken wollen würde.

Was fehlt, ums den Außerirdischen zu erklären?

Würde man das Treiben einem außerirdischen Besuchenden zu erklären versuchen, müsste man diverse weitere Konzepte erklären. Angefangen bei „Geschlecht“ und „Uniform“ (bzw. „Dirndl“) bis hin zu „Festplatz“, „Forstwirtschaft“, „Natur“, „Kirchweih“, „Kirche“, der Kirchweihbaum als Rechtssymbol, „Tradition“, „Gefahr“ und ggf. sogar „Maschine“, „Bier“, „Schnaps“ und „Erfolgserlebnis“. Und schließlich müsste man auch erklären, was Langeweile und Zeitstrukturierung bedeuten. Also dass Menschen häufig Dinge tun, einfach, um etwas zu tun zu haben. (Und da ist kollektives Kärwabaumstellen vielleicht eine gute und verträgliche Alternative zu anderen Optionen junger Männer.)

Auf Instagram kommentierte jemand mein schlechtes Maibaumfoto:

Pseudoreligiöse Rituale gibt es sicher in allen Zivilisationen[.] [U]nd Wesen[,] die durchs All reisen können[,] sollten sowas kennen

Da würde ich mit einem ersten exosoziologischen Ansatz widersprechen. Es ist durchaus denkbar, dass eine „Zivilisation“ und „Gesellschaft“ existiert, die z.B. nur telepathisch oder über Fernkommunikationsmedien in Kontakt steht. Interagiert wird nur zum reinen Austausch notwendiger „Güter“. Trotzdem können wir von „Gesellschaft“ sprechen, etwa, weil es um einen Aggregatsbegriff von Kommunikationen geht.

Die Frage könnte also immer sein: Welcher Funktion dient ein beobachtetes Verhalten? (In unserem Fall vielleicht: „Gemeinschaftsbindung“.) Und dann kann man überlegen, ob man sich ein Kollektiv aus Wesen denken kann, das kein Problem kennt, für das dieses Verhalten eine Lösung darstellt; die also diese Funktion nicht braucht.

Spätestens jetzt könnte man über das vorliegende Thema aber vermutlich schon promovieren.

Nachtrag Ende August: Man kann das mit Scharnier am Ständer auch einfacher haben.


Beitragsbild: Ein Kirchweihbaum wird aufgestellt.
Weitere Bilder: DALL-E. Leider verstand das Modell nicht, was ein Kärwabaum ist, und ignorierte diverse weitere Anweisungen. Ich wollte aber auch nicht zu lange mit der Exo-Intelligenz reden.

5 Gedanken zu „Fremdbeobachtung des Kärwabaums“

    • Hm … das ist ja eines der ältesten Häuser hier und auch ziemlich hoch. Ich bin mir nicht sicher, ob das nicht in einem Personenstand „verwitwet“ endet …

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