Wir wissen, daß die ökologischen Probleme, die unsere Gesellschaft verursacht, rasant zunehmen. Wir könnten wissen, daß wir für die hier nötigen Umstellungen weder eine Instanz haben (und daß wir sie nicht ertragen würden, wenn wir sie hätten) noch eine Vorstellung von Rationalität, die uns in den hier vordringlichen Fragen des Verhaltens unter Risiko und Unsicherheit leiten könnte. Wir setzen statt dessen auf Ethik, und es kommt dann schon gar nicht mehr darauf an, ob dies eine neo-aristotelische, neo-kantische oder neo-utilitaristische Ethik sein soll. (Wie immer kann der Leser hier „neo“ gegen „post“ auswechseln, um zu prüfen, ob ihm dabei etwas Besseres einfällt.)
[Luhmann. Enttäuschungen und Hoffnungen, S. 135f]
Dieser Beitrag wird eher kurz, denn — mea culpa — ich fahre diese Woche erst Donnerstag nach Jena, also nach allen Veranstaltungen. Warum? Weil Dienstag in Thüringen und Mittwoch in Bayern Feiertag ist und ich anderes vorhabe. So schnell also wird aus dem Muster-Studenten, der im ersten Semester insgesamt genau eine Veranstaltung verpasst hat, der strategische Schwänzer. Und ihr müsst es miterleben.
Und by the way: Happy Halloween nachträglich! Ich empfehle für nächstes Jahr die Diskographie von Lustmord (Spotify) als Hintergrundmusik und dieses Interview mit ihm (Guardian). Außerdem kann man sich einen Deutschlandfunk-Podcast zum Thema Musik und Sound im Horror anhören (DLF).
Contents
tempus fugit
Gruseln wir uns kurz weiter. Es scheint für die Koordinationsprobleme größerer gesellschaftlicher Subgruppen, insbesondere geographisch differenzierter, mehrere Arten von Lösungen zu geben. Unterscheiden wir mal zunächst „dumme“ und „kluge“. Nun sollte man meinen, im Zeitverlauf werden die dummen Lösungen aussortiert und die klugen stabilisieren sich, sofern es einigermaßen klare Anhaltspunkte dafür gibt, welche Lösungen in welche Kategorie fallen.
Pustekuchen. Die nach wie vor bestehende Zeitumstellung scheint mir ein klares Indiz, dass dumme Lösungen für ein Problem (wir erinnern uns: „daylight saving time“, also ein Beitrag zum Energiesparen) ungemein stabil sein können. Selbst, wenn sie von Wissenschaft UND Politik als dumm und schädlich erkannt wurden. Lässt für andere Probleme nicht unbedingt hoffen …
Uni
Ich verpasse Fußball sowie K&Ü, aber lesen kann man ja dennoch.
Fußball
Bei Elias und Schulze-Marmeling ging es um die Ursprünge und Entwicklungen des Fußballs im England der 10.–20. Jahrhunderts; die meiste Zeit meinte „Fußball“ aber etwas anderes als Soccer/Football/Rugby. Im Feudalismus und gerade auch in der Industrialisierung werden anhand des Fußballs — der dann stärker reglementiert wurde — auch diverse Klassengegensätze sichtbar: vom adeligen Schulsport über eine Leidenschaft in der „Freizeit“, die eh nur die oberen Schichten hatten, zum Profi-Fußball, der es dann auch Proletariern ermöglichte, dem Sport nachzugehen. Bei Elias wird daraus natürlich auch eine Geschichte der emotionalen Zügelung.
Für nächste Woche gibt es zwei eher sehr mikrosoziologische Texte über „Kooperationslogik“ (Allert, 2006) und Fußball als „Figurationsgeschehen“ (Alkemeyer, 2008). Allert bespricht vor allem, wie kontingent Verlauf und Ergebnis des Spiels trotz Planung und Strategie bleibt — und warum. (Eine Antwort: der Ball als „Kampfgegenstand“.) Am Ende kulminiert das, wettbewerbslogisch, alles in einem athletischen Allrounder statt Spezialisten auf dem Feld.
Alkemeyer hebt dann u.a. darauf ab, dass es zum männlichen Habitus gehört, Fußball zu mögen … Territorialkämpfe, Erniedrigung des Gegners, schließlich die Möglichkeit, Körperlichkeit und Emotionen unter Männern ‚legitim‘ und ‚hetero‘ auszuleben. Die Analyse ist interessant und reich an Perspektiven. Das Fazit dafür leider ein bisschen langweilig: Das ganze Spektakel dient der Performanz einer Gemeinschaftsidentität. Das hätte ich auch schon vorher gewusst.
K&Ü: Grundlagentexte und Was ist überhaupt Knappheit …?
Die Texte holen mich bislang leider nicht so ganz ab. Hoffentlich wird das nächste Woche besser, wenn ich an meiner ersten Sitzung teilnehme. Wir haben David Hume gelesen, der vor allem davor warnt, dass Moral und Staatswesen sowohl bei totalem Mangel als auch bei totalem Überfluss zusammenklappen würden. Außerdem gab es Léon Walras (1954) und Lionel Robbins (1932): Walras definiert, was „scarce“, also „knapp“ ist, als nützlich und limitiert. Knappe Güter kann und wird man sich aneignen; man kann sie industriell reproduzieren; und man kann sie aufgeben, um andere knappe Güter zu erhalten (Tausch, Handel, Gabe).
Ähnliche Gedanken finden sich auch bei Robbins, der Gegenstand und Funktionsweise der Wirtschaftswissenschaft untersucht. Das große Problem findet er in „scarcity relationships“. Solange man sich den einsamen, nur zu wenig Handel situierten Robinson Crusoe anguckt (oder Wahlmöglichkeiten reguliert, etwa in „closed communistic [sic] societies“), sind Entscheidungen von Agierenden einfach zu bewerten und sogar zu prognostizieren.
But it is not so easy to trace the effects of this decision on the whole complex of „scarcity relationships“—on wages, on profits, on prices, on rates of capitalisation, and the organisation of production.
Nun kann man sich also fragen: Ist Knappheit etwas, das Kommunikation erfordert oder befördert? Notwendige oder hinreichende Bedingung? Ich bin gespannt auf die Diskussionen (und in welchen Kontext die Texte eingeordnet werden).
S&G: Ein Referat
Über das Folgende muss ich mit einem (zeitweise untergetauchten) Kommilitonen einen kurzen Input formulieren … es wird sprachphilosophisch, seid gewarnt.
Schema/Gebrauch
Die zweite „Grundlagen“-Sitzung befasst sich mit dem bereits erwähnten Text von Sybille Krämer aus dem Jahre 2002. Darin ordnet sie den sprachphilosophischen Diskurs sozusagen neu: Statt Handlungs- und Strukturtheorien zu unterscheiden (konkret Habermas, Searle vs. Saussure, Chomsky), arbeitet sie deren Gemeinsamkeiten heraus. Die bringt sie auf den Punkt: Sie alle gehen davon aus, dass Sprechen die Aktualisierung von Sprache ist; es also ein hierarchisches Verhältnis zwischen dem „Schema“ Sprache und dem „Gebrauch“ des Sprechens gibt. Wenn wir sprechen, leiten wir das aus den Regeln des Schemas ab. Das nennt sie einen „Platonismus“. (Man denke an das Höhlengleichnis: Wahr und wichtig sind die Ideen; alles, was wir wahrnehmen können, ist nur deren blasser Schatten.)
„Nicht-intellektualistische“ Gegenbilder
Diesem Sprachverständnis setzt sie nun vier Denker (kein Gendern notwendig) entgegen: Derrida, Wittgenstein, Luhmann und Donald Davidson (der mir bis dato nicht bekannt war). Derrida betont, dass die Hierarchie unbegründet ist: Im Gegenteil ist das konkrete Sprechen das Relevante. Es wird nicht aus einem abstrakten „Regelwerk Sprache“ hergeleitet, sondern trägt die Spur des vergangenen und wird zur Spur, die in künftigem Sprechen enthalten ist. Wittgenstein legt die Handlungen (Sprachspiele) „konkretes Sprechen“ und „analysieren von Regeln des Sprechens“ hierarchiefrei nebeneinander; laut ihm gibt es kein „Meta-Sprachspiel“, das entscheiden könnte, was davon wichtiger ist — oder auch nur sagen könnte, welches „realistischer“ ist: Beide sind Darstellungsweisen (und nicht das Dargestellte).
Luhmann legt dar, dass Sprache nicht zwangsläufig Schema oder Gebrauch ist. Sie kann als Medium (in dem man Sätze bildet) verstanden werden, aber auch als Form (die Laute mit Sinn koppelt). Ich weiß nicht, ob das das Beste ist, was man an Sprachphilosophie bei Luhmann finden kann, aber … let’s roll with it. Hier wäre aber vielleicht sinnvoll, Sprache in kommunikativen und psychischen Funktionen zu unterscheiden.
Schließlich finden wir bei Davidson, dass im Verstehen von Sprechen nicht das Gesprochene, sondern die Person verstanden wird. Die Theorie Egos und die (wohlwollend aufgenommene) Theorie Alters konvergieren in (zwei) “Übergangstheorien” (über die Welt). Daher braucht es keine Regeln bzw. keine gemeinsamen Sprache.
Daraus müssen wir jetzt noch ein paar Diskussionsanregungen bauen …
Sonstige Lektüren
Ansonsten lese ich mich gerade weiter ins das Feld der Emotionen ein. „Emotionen — Ein interdisziplinäres Handbuch“ sind knapp 500 Seiten mit Beiträgen von Differenzphilosophie bis Neurologie. Das ist schon ewig auf meiner Leseliste — danke für den Hinweis, es vorzuziehen, Vince! Besonders empfehlenswert ist der Abriss von Monique Scheer, die Bezug auf viele Konzepte der Emotionsgeschichte nimmt.
Selfpublishing …?
Ich war ja mal lange Jahre in der Buchbranche aktiv und verfolge manches noch aus der Ferne. U.a. auch den Verein „Junge Verlagsmenschen“ (der sich ein bisschen umbenannt hat), da war ich sogar mal im Vorstand. Wir hatten damals das Thema „Nachwuchsrechte“ bearbeitet, was erfreulicherweise noch immer weiterläuft. (Nicht mehr sehr kämpferisch, aber immerhin.)
Im Blog besagter JVM habe ich nun einen Bericht von der Frankfuter Buchmesse gelesen, dass „Selfpublishing ernst zu nehmen“ ist: „Als Alternative zum traditionellen Verlagswesen ist das Selfpublishing demnach nicht zu unterschätzen.“ Und dachte erst, der wäre versehentlich nach 10 Jahren ein zweites Mal veröffentlicht worden, denn die Diskussion klingt eher nach 2013 als nach 2023. Ich habe vor 10 Jahren bei LYX (damals Egmont) „Lyx Storyboard“ mit aufgebaut und war danach bis zum jetzigen Job bei BookRix. Vielleicht verzerrt das mein Bild vom Selfpublishing. Aber gibt es diese Diskussion wirklich immer noch …?
Beitragsbild: Der Mond.
Woher der Wandel vom Musterstudenten zum Schwänzer? Ist die Studienluft raus?
Nein, „Luft raus“ trifft es nicht, aber die Anfangs-Euphorie ist vielleicht durch Realismus ergänzt. Nachdem der Dienstag ausfiel (Feiertag) hätte ich nur für zwei Mittwochs-Seminare fahren müssen, und an diesem Mittwoch wurden Rollenspiel und ein Ausflug höher priorisiert. Im ersten Semester war alles neu und aufregend, da hätte ich vermutlich andere Wertigkeiten vergeben und bin ja teils auch für eine Veranstaltung gefahren …
Sabine ist mir zuvorgekommen.
Ich wollte mich nämlich ähnlich äußern – wie du weißt hab ich da so meine Erfahrungen.
… wobei es eher unwahrscheinlich ist, dass ich das Studium jetzt noch abbreche :-D
Nachdem es das letzte (?) Studienjahr für dich ist, willst du vielleicht das Studentenleben in seiner lockeren Form erleben?
Das ist auch ein Argument :-D
Selfpublishing, der heiße Sch**ß? Wie kannten es, bevor es cool wurde… Sehr witzig
Naja, aus meiner Sicht aus der Ferne kommt es mir aber schon so vor, dass der Markt da stark gewachsen ist und auch fast alle größeren Publikumsverlage haben ja jetzt (aber auch schon seit Jahren) eine entsprechende Sparte um mitzuverdienen…
Jaaaa, ich erinnere mich eben noch so gut an die „Aufbruchstimmung“ vor … 10 Jahren 😀 Die hat mir ja damals meinen Egmont-Job beschert, und letztlich auch meinen Arbeitgeber danach (BookRix) ne Weile am Leben erhalten. Hach, das waren noch Zeiten …