Woche 11: Nichtstadt oder Lichtstadt?, Weimar und ‚Fleabag‘

„Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Kapitalistenklasse verwaltet.“
Marx

Die elfte Woche geht zu Ende, wieder mit einer Fahrt nach Nürnberg. Und es ist wieder sehr viel passiert. Ich frage mich langsam, was ich mit diesen ganzen Tagebuchnotizen und Erkenntnissen hier mal mache, zumal sich viele Inhalte mit dem Zettelkasten doppeln oder direkt daraus entnommen sind …

Weimar

Ein Spontanausflug führte mich nach Weimar. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt hier war, aber es dürfte ums Abi oder die ersten Semester herum gewesen sein. Also eine Weile her – entsprechend mager fielen die Erinnerungen aus. Das hat aber ja auch was für sich: Weimar konnte mir einen neuen ersten Eindruck aufprägen, und der war – zumindest außersaisonal – recht positiv.

Eine für etwa 65.000 Einwohner recht weitläufige Stadt; viele offene Flächen; ausgesprochen viele Sitzgelegenheiten überall, für die es allerdings fast etwas kühl und nass war; viel grün; und noch Vieles zum Entdecken: Ich war diesmal lediglich im Schiller-Haus, das heißt, diverse Museen warten noch!

(Für mich neue) Fakten aus dem Schiller-Haus:

  • Schillers Frau, Charlotte von Lengefeld, verlor durch die Heirat mit einem Bürgerlichen ihre Privilegien, u.a. den höfischen Zugang; und bekam diesen erst recht spät, dann als Frau von Friedrich von Schiller, zurück.
  • Die Adelung riss aber wohl zunächst auch ein Loch in die Kasse – „Frack und Degen“ als Standes-Insignien werden im Audioguide des Museums als ungeplante Ausgaben genannt.
  • Noch spannender: Charlotte, Friedrich und Charlottes Schwester Caroline von Beulwitz lebten wohl einige Jahre in einer Art Dreierbeziehung. Darüber gibt es auch einen Film: „Die geliebten Schwestern“.
  • Die Schillers waren wohl liebende, gewaltlose Eltern; und die Kinder durften Friedrich auch bei der Arbeit stören.
  • Jena kommt als Stadt ungemein gut weg in Schillers Darstellungen, auch wenn er seine Professur dort ja krankheitsbedingt schon recht bald wieder aufgab. Schiller als Dozent war aber wohl keine Wucht – deklamatorisch und dramatisierend las er vom Blatt ab. Oh, well.

Was mir sonst noch auffiel: Über die Stadt verteilt finden sich Fotos von Buchenwald-Überlebenden in der Dauerausstellung „Die Zeugen“.

Nichtstadt

Das Café Wagner ist eine Jenaer Institution. Und es muss in wenigen Wochen die Location wegen längerer Umbauten wechseln – Grund genug, auf Anregung einer Freundin noch auf einen Sprung dort reinzugucken. Und dabei auch noch den Film „Nichtstadt“ (ein Wortspiel mit „Lichtstadt“) von Pablo Mattarocci zu gucken. „Nichtstadt“ stellt verschiedene Initiativen in Jena  vor, die ein Problem haben: Ihnen fehlt es an Platz im „München des Ostens“. Dabei sind Wohnprojekte, die Südkurve des Fußball-Fanclubs (wobei ich nicht verstehe, wieso es die Nordkurve nicht auch tut) und ein Geburtshaus.

Vor allem die frustrierenden Rangeleien mit der Stadtpolitik (FDP-Bürgermeister!) und das Problemfeld Immobilienpreise/Spekulation werden thematisiert; wobei ich mich mehrfach fragte, wieso die Aktivistinnen und Aktivisten von demjenigen Ausschuss, der die Geschäfte der herrschenden Klasse managt, mehr erwarteten … (Sorry, so viel Marx musste sein.) Mich erinnerte das an die Grabenkämpfe, die in Nürnberg jahrelang um den KV (Kunstverein im Z-Bau) gefochten wurden – auch darüber gibt es einige filmische Dokumente, meine ich mich zu erinnern, auch wenn ich auf die Schnelle nichts finde.

Mangel an bezahlbarem Wohn- und Kulturraum ist also auch in Jena ein Problem. (Wo nicht, in Nürnberg fallen mir aktuell die Ateliers Auf AEG ein, die anderen Interessen weichen mussten). Ich frage mich, ob die Preise in Jena inzwischen so hoch sind, dass sich Experimente z.B. mit dem Mietshäuser Syndikat einfach nicht ergeben?

Uni

Kant & Co.

„Einführung in die Ethik“: Neben Kant gab es noch einen Text über männliche und weibliche Gerechtigkeitsvorstellungen von 1984. Zum Glück, denn der Kant macht zusehends weniger Spaß.

Aus dem Kommentar (Suhrkamp-Ausgabe) zum dritten Abschnitt der Grundlegung: Dieser gilt „zu Recht als der dunkelste und schwierigste Teil“. Und: „Worin auch immer die in der GMS geleistete Moralbegründung liegen mag, [Kant] hat an ihr bereits wenige Jahre später nicht mehr festgehalten.“ Da sagt er dann einfach, die Vernunft sei ein „Faktum“, das „durch Selbstreflexion zugänglich“ sei. Hier riecht dann die Vernunft schon sehr nach einem Gottesersatz. Na dann.

Und noch eine Nebenbemerkung: Alexander von Humboldt fürchtete wohl, sein Bruder Wilhelm würde sich an Kants KdrV „tot studiren“. Das passiert mir eher nicht. (Danke an Sabine für das Zitat aus einem Andrea-Wulf-Buch!)

Weitere Lektüren

  • Körpersoziologie: Ein Text über’s Mikrobiom und „Pasteurian thanatopolitics“, vulgo: Wir killen recht unspezifisch alles Mögliche, was gegebenenfalls ja doch irgendwie zu uns gehört (und, anthropozentrisch gesehen, nützlich ist). Und der Essay „Mit Foucault die Pandemie verstehen?“ von Philipp Sarasin. Es wäre schon auch komisch gewesen, hätten wir uns hier im Seminar nicht wenigstens ein Mal mit Krankheit und auch Covid befasst.
  • Geschlecht & Religion: Ein eher langweiliger Text über jüdische Frauenvereine und deren Statuten. Bislang der Text, der mich im Reader am wenigsten überzeugte. Nächste Woche fällt das Seminar aus, da gibt es also auch keine Lektüre.
  • Agnoli: Drei thematisch sehr interessante Kapitel – über den subversiven Wert von Mystik und von Utopien, über Königsmord und natürlich Thomas Müntzer. Letzterer wird bei Agnoli eher zum Sozialrevolutionär; bei der Deutung möchte ich eher nicht mitgehen.
    Da ich diese Sitzung zusammen mit einer meiner Kommilitonys (der neue Gender-Plural, mark my words!) moderieren darf, habe ich das alles auch relativ intensiv gelesen – um Fragen und Thesen für Gruppenarbeiten zu entwickeln. Da nimmt man tatsächlich doch mehr mit, als wenn man nur sehr unspezifisch liest. Die Diskussion mit meiner Moderationspartnerin hat auch nochmal einiges erhellt.
  • Derrida: Auch wenn es bis zum nächsten „Gastlichkeit der Sprache“-Seminar noch eine Weile hin ist, suche ich schon mal nach tauglichen Hausarbeitsthemen. Im Münchner Lenbachhaus fielen mir die biographischen Parallelen von Etel Adnan und Derrida sowie beider Beschäftigung mit Sprache auf; insbesondere mit der Kolonialsprache Französisch, dem Arabischen usw. Daher suchte ich mir in der Thulb schon einmal Lektüre und stieß auf einen Sammelband „Arabische Literatur, postmodern“.

Veranstaltungen

  • Ethik: Wir sind immerhin noch 4 Gesellschaftstheoretys inkl. mir, obwohl wir hier ja doch nichts schreiben müssen. Das sorgt im Übrigen nachhaltig für Verwirrung – vielleicht müsste man das Modulhandbuch doch noch etwas klarer ausarbeiten …
  • Ring-VL GT: Sozialpsychologie. Viel interessante Empirie zum Schlagwort „Vorurteile“ – und die Erkenntnis, dass Psychologys und Soziologys/GTys anscheinend doch oft sehr anders denken.
  • Agnoli: Moderieren macht mehr Spaß als drinsitzen, und man nimmt auch aus der Lektüre mehr mit. Meine Co-Mod-Kommilitonin hatte die großartige Idee, ein Riseup-Pad für die Gruppendiskussionen einzurichten – das war sehr hilfreich.

Fleabag

Im Exil komme ich ja sporadisch dazu, Serien zu gucken und hier kurz zu rezensieren. Vielleicht auch nicht so kurz. Zwei Warnungen:

  • SPOILERWARNUNG: Ab hier folgen leichte bis schwere Spoiler!
    (Ernst gemeint: guckt euch erst die Serie an!)
  • TRIGGERWARNUNG: Die Serie behandelt sehr viele Tabus und Probleme sexueller, psychischer, physischer und metaphysischer Natur!
    (Eher als Werbung gemeint, wie ein „parental advisory“)

Ihr wurdet gewarnt. Danke für den Tipp, Katja! Damit keine(r) Spoiler lesen muss, weil er oder sie nach weiterem Studien-Content sucht: Da kommt keiner mehr, ab hier geht’s nur noch um die Serie.

Inhalt

Kurz gesagt geht es um die persönlichen Schicksale einer losen Gruppe von damaged people rund um Protagonistin Fleabag. Die betreibt in London ein (zu Beginn der Serie eher erfolgloses) Café, hat ein gestörtes Verhältnis zu Vater, Stiefmutter und Schwester – und vor allem zu Männern. Zu vielen Männern.

Das wesentliche Thema der tragikomischen, schmerzhaft lustigen Serie: Das Leiden am und aus dem Alltäglichen. Sex, Familie, Arbeit, „Freunde“ – aber meistens geht es um Sex als Chiffre für alles Mögliche, vielleicht vor allem für kapitalistisches Begehren und die begleitenden Träume und Fantasien. Auf jeden Fall viel Sex.

Stil und Formen

Kurze Episoden, aber teils schwer erträglich: Der Tod der Freundin und Mitbetreiberin des Cafés, die laufenden kleinen und großen Fauxpas, die familiäre Kälte … und es wird im Laufe der insgesamt ca. 300 Minuten Laufzeit tendenziell immer deranged-shit-fuck schlimmer, mit einem Zenit (oder Nadir?) im ersten Staffelfinale.

Insgesamt spielt das alles eher jenseits der Grenzen des guten Geschmacks. Beispiele:

  • Die Initialszene handelt von „überraschendem“ Analverkehr und dessen kommunikativer Nicht-Bewältigung am nächsten Morgen.
  • Der „Hot Priest“ sagt: „My brother is a pedophile. I’m aware of the irony of that.“
  • Außerdem sagt er: „Fun! My parents were alcoholics, too.“
  • Wir teilen erotische Gedanken angesichts von grausamen Märtyrerdarstellungen in einer Kirche.
  • Eine der verstörendsten Szenen enthält den Satz „get your hands off my miscarriage“.

Wer jetzt versucht ist, die Lektüre abzubrechen, hat offenbar die Serie nicht gesehen. Denn wer sie gesehen hat weiß, dass das trotz aller Schwere in den Themen stets sehr unterhaltsam bleibt.

Monogamie, Sexualität und Konflikte

Monogamiekonflikte sind omnipräsent, auch wenn sie nicht immer direkt thematisiert werden. Aber sogar die sexpositive bis sexsüchtige Fleabag wartet die (temporäre) Trennung von ihrem Freund ab, ehe sie Sex mit anderen hat; auch, wenn sie in der zweiten Staffel beichten wird, dass sie nicht nur jede Menge außerehelichen Sex, sondern auch Sex „in other people’s marriages“ hatte. Man kann sich nun fragen, welches (sexuelle) Treueverständnis hier drin steckt.

Die tragischste Treue/Betrug-Story stellt natürlich das Desaster um Fleabags verstorbene beste Freundin Boo dar. Mir fällt es auch nach allen 12 Episoden schwer, dieses Ereignis einzuordnen – mehr sei nicht verraten, falls jemand hier trotz Spoilerwarnung weitergelesen hat … Bei Fleabags zugeknöpfter Schwester Claire ist die Sache einfacher: Sie führt eine grauenvolle Ehe mit einem echten Widerling („I’m not a bad guy, I just have a bad personality“), sodass man ihr nicht nur den Vibrator, sondern auch die Affäre mit einem skandinavischen Kollegen („Klare“, gesprochen wie „Claire“) gönnt.

Meines Erachtens wird das Problem der sexuellen und amorösen Exklusivität aber am prominentesten dort verhandelt, wo Sex nicht vorkommen sollte: Im Umgang des hotten Priesters mit dem Zölibat und seiner (Un-)Fähigkeit, seinem – mystisch gesprochen – Bräutigam treu zu bleiben. Man mag hoffen, dass Gott einen Seitensprung verzeiht.

Etwas abstrakter: Sexualität ist gleichzeitig problematisiert – Fleabag ist relativ offensichtlich im Spektrum der Sexsucht zu verorten – und trotzdem oft positiv dargestellt (etwa beim Thema Masturbation). Ähnlich, wie einige Charaktere massive Probleme mit Alkohol haben, verhält es sich mit Sex.

Der Priester

Ganz generell ist der Priester die interessanteste, weil zerrissenste Figur in der Serie (bzw. in Staffel 2). Scheinbar fest im Glauben, scheinbar autonom und (nicht nur moralisch) überlegen, stellt er sich dann doch als Mensch heraus. Trotzdem ist er offenbar ein bisschen mehr als das, und vor allem mehr als ein weiterer Statist in Fleabags Leben: Das wird besonders deutlich an den spukhaften Wundertätigkeiten, dem doppelten Bildersturz, der sich vermutlich irgendwie psychoanalytisch deuten lässt. (Das Begehrte bricht aus dem Fantasiereich des Begehrens in die Realität ein und bedroht deren Integrität?) Und natürlich an seiner Fähigkeit, das Durchbrechen der Fourth Wall zu erkennen.

Das kann man auch als Atheist gut finden (und die Hauptdarstellerin/Regisseurin/Autorin Phoebe Waller-Bridge definiert sich wohl selbst ebenfalls als Atheistin).

The End (More Spoilers!)

Das Ende der Serie ist angemessen: Weder ein happy end, bei dem man jubelt, noch eine Tragödie, die einem das kathartische Heulen erlaubt (die Tragödie gab’s ja schon). Das happy end, sagen wir ein Leben mit dem Priester oder dem Ex-Freund, würde sich vermutlich schnell als never-ending unhappiness herausstellen. Es ist aber auch nicht das Ende eines Bildungsromans oder einer Heldenreise. Es gibt keine (Er-)Lösung, und das ist vielleicht der ideologiekritischste Kniff der Serie.

Fazit: Angucken, die 300 Minuten sind gut investiert!

6 Gedanken zu „Woche 11: Nichtstadt oder Lichtstadt?, Weimar und ‚Fleabag‘“

  1. Danke für den Link zum Foucault-Pandemie-Essay, den fand ich spannend!

    Und zu deiner Frage, was du mit deinen Tagebuchnotizen und Erkenntnissen hier machst: Ganz klar, das wird die Grundlage für ein Buch :D. „Meine Jena-Jahre“ oder so^^
    Aber im Ernst: Ich kann verstehen, dass dich die Doppelungen nerven, aber hier teilst du deine Erkenntnisse (im Gegensatz zu denen aus dem Zettelkasten). Das finde ich als Leserin sehr wertvoll, denn selbst wenn wir uns jede Woche regelmäßig sehen würden und ich dich fragen würde, was du getan, gesehen und gelernt hast, würdest du wahrscheinlich nie derart ausführlich berichten.

    Antworten
    • Das ist wahr, zumal ich beim Blick in frühere Beiträge schon wieder Sachen entdecke, die ich komplett vergessen hätte. Also selbst beim größten Wunsch, ausführlich zu erzählen, würde mir vermutlich nie alles einfallen, was ich während der jeweiligen Woche für relevant hielt ^^

      Antworten
    • Vielen Dank für die wie immer zutreffende Korrektur, wurde ausgebessert 🙂 (Warum fällt sowas meinen anderen Lesys nicht auf!?)
      Und besten Dank auch für das Lob!

      Antworten

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