Zu jedem komplexen Problem gibt es eine einfache, leicht verständliche, aber falsche Lösung.
Harald Lesch
Ich komme langsam in die Semesterphase, in der ich anfangen kann, mittels des Blogs zu prokrastinieren; denn es steht gerade einiges an: Recherchen für meine beiden Hausarbeiten; redaktionelle Arbeit für das nächste „Sonderheft Bibliotheken“; und ich will auch eigentlich noch meinen Artikel über Musik im Cthulhu-Mythos in eine publizierbare, kurze Form pressen.
Stattdessen blogge ich (und beichte hiermit die Prokrastination, vielleicht entlastet mich das ja). Immerhin hat das meiste, womit ich prokrastiniere, Uni-Bezug und ich kann mir einreden, ich tue das universeller Bildung zuliebe …
Contents
- 1 Fotoausstellung „Family Affairs“
- 2 Uni
- 3 Warum ich die Diskussion über Willensfreiheit ein bisschen langweilig finde
- 3.1 Das Problem ist unentscheidbar
- 3.2 Die Konsequenzen sind nur relevant, wenn man die Debatte verkürzt
- 3.3 Das ist eine mediale, keine wissenschaftliche Debatte
- 3.4 Auch Psychologie und Soziologie gehen von determinierenden Faktoren der Denk-, Willens- und Handlungsfreiheit aus
- 3.5 Die Debatte bleibt wohl …
Fotoausstellung „Family Affairs“
Kurzer Event-Tipp: Die Ausstellung „Family Affairs. Familie in der aktuellen Fotografie“ in der Erfurter Kunsthalle ist sehenswert. (Danke für die Begleitung, Sabine!) Geburt, „Aufzucht“, Individualisierung und Sozialisation, Familienleben, Konstellationen, Liebe, Streit, kurz Beziehungen, Alter, Krankheit, Tod – alle Themen werden behandelt, mit wenig Romantisierung und vielen guten Ideen. Meine Favoriten:
- Die Bilder, auf denen jemand fehlt – wegen Flucht und Vertreibung, staatlicher Gewalt, drohendem Gefängnis, Tod.
- Die Bilder, auf denen es um die Konstruktion von Familie(n) geht: Jamie Diamond macht „Constructed Family Portraits“, auf denen Schauspieler eine Familie darstellen. Dabei kommen interessante Konstellationen raus, und natürlich die Frage, was denn Familie eigentlich konstituiert und konstruiert …
Uni
Das Semester geht erstaunlich zügig und bestimmt auf sein Ende zu. Vieles findet allmählich schon zum letzten Mal statt … Erschreckend!
Veranstaltungen und Lektüren
- Kolloquim Politische Soziologie: Leider gehe ich hier viel zu selten hin, oder besser gesagt: zum ersten Mal, auf Fremdanregung (danke, Anne!). Diese Woche ging es um „Die Renaissance der Armutsforschung“, was sich thematisch deutlich von allem unterscheidet, womit ich mich gerade so befasse – eine willkommene Abwechslung. Wie so oft blieben die „Therapievorschläge“ für das wiederkehrende bzw. wieder im Fokus stehende Armutsproblem leider hinter der Diagnose zurück … Aber das diagnostische Vokabular und die Perspektiven zu schärfen, schadet ja nie!
- Geschlecht und Religion
- Ein Text über den Deutschkatholizismus. Das war eine mehrheitlich katholische, aber auch protestantisch-freikirchliche; mehrheitlich aus dem unteren Bürgertum stammende, aber die Klassen übergreifende; relativ stark weibliche (40%) Bewegung. Hier kulminieren viele Probleme der Zeit – mit Dogmen, mit Eingriffen der Kirchen in den Lebenswandel, mit konfessioneller Vermengung dank Urbanisierung und Mobilität.
- Und für nächste Woche: mein Referatsthema, Helena Blavatsky, anhand eines Texts von Mark Bevir (der danach m.W. nur noch wenig zum Thema publizierte). Meine Komoderatorin und ich überlegen uns methodisch und inhaltlich ein bisschen Abwechslung. Ich berichte kommende Woche.
- VL Ethik: Leider gab es nur ca. 45 Minuten Nietzsche, zur Kritik an etablierten Moralen als lebensfeindliche Sklavenmoral und als Ideologie. Davor gab es 45 Minuten Kant, dritter Abschnitt. Ich bin ein bisschen froh, dass ich darüber keine Prüfung zu schreiben habe, zumal sich die Recherchen zu Gastlichkeit und Derrida gerade ganz unterhaltsam gestalten (s.u.).
Das war es übrigens mit Kant, GMS und dieser Einführungsvorlesung. Kant lesen fand ich spannend; die komplette Einführung nur anhand der GMS und weniger Exkurse zu machen, ließ aber einiges offen. Da hilft nur Selbststudium. - GT-Ringvorlesung: Ach du gute Güte, das also ist schon die letzte Vorlesung gewesen (es folgen noch ein Tutorium und eine Abschlusssitzung). Stargast: Hartmut Rosa! Wer sich schon mit der Resonanztheorie befasst hatte, erfuhr allerdings nicht allzuviel Neues. Aber man kann ihm endlos zuhören.
- Körper: Wir lasen einige körperbezogene Passagen aus Mithu Sanyals Roman „Identitti“. Ich stelle immer wieder fest, dass ich zu Konfliktlinien (?) wie Race und Trans-… keine wirkliche Position habe. (Dieser Habitus ist natürlich Ausfluss meiner whiteness.) Mir fällt dann immer nur ein, dass wir es bei den aktuellen Diskussionen zu diesen Themen wohl mit Entfaltungen von Paradoxien zu tun haben, die selbst natürlich paradox bleiben. Aber diese Großabstraktion wird der Sache nicht gerecht. Fragt sich: Soll ich mehr zu solchen Themen belegen oder weniger?
Recherchen und das Schreiben mit dem Zettelkasten
Etel Adnan wird mir immer sympathischer. In diesem Video wird sie von einer Kuratorin des Irish Museum of Modern Art interviewt (kein so herausragendes Interview, die Fragen bleiben etwas oberflächlich). Trotz aller ihrer Erfahrungen mit zerstörter Heimat, Kriegen und sprachlicher Entfremdung sagt sie Sachen wie:
People complain about the modern world. Now, I think we do have problems, but I think we forget how many, maybe a few billion people, have a good life.
Es bleibt interessant. Ich habe einige Aufsätze über Etel Adnan und ihren Essay „To Write In A Foreign Language“ gelesen und verzettelt. Deshalb, und weil ich diese Woche mit mehreren Leuten über meinen Zettelkasten sprach, noch ein kurzer Exkurs dazu.
Ich nutze gerade die „Canva“-Option von Obsidian zur Aufteilung von Zetteln, die in einen Text aufgehen sollen:
Ich bin gerade allerdings nicht sicher, ob die Strukturierung anhand von Zettel-Gedanken unbedingt zur besten Form der späteren Arbeit beiträgt. Bei Luhmann wird ja auch oft angemerkt, dass die Zettel das Buch bestimmen, nicht andersrum und diesen Eindruck hatte ich bei den Körper-Essays auch – hätte ich sie „runtergeschrieben“, wäre sicherlich ein anderer Aufbau daraus geworden, vielleicht ein besserer. Mal sehen, wohin der Workflow noch fließt.
Warum ich die Diskussion über Willensfreiheit ein bisschen langweilig finde
Ich bin da letzthin vielleicht etwas schnell drüber hinweggebügelt, warum ich diese Diskussion langweilig finde. Ein Grund dürfte sein, dass ich das als alten Hut wahrnehmen; das scheint mir aus den 2000ern übriggeblieben zu sein. (Ich bin alt.)
Also drösele ich das für mich selber mal nochmal auf (danke an Vince für die Diskussion!):
Das Problem ist unentscheidbar
Es gibt keine Möglichkeit, das Problem zu entscheiden. Egal, was man
- im Hirn misst (oder Gott unterstellt: schließlich war der Determinismus lange Zeit auch eine Erzählung der Prädetermination!) und
- damit korrelierend oder korrespondierend wahrnimmt und aussagt,
damit lässt sich weder eine Freiheit zu wollen beweisen – noch widerlegen. Es ist ja klar, dass es zu jeder Entscheidung „neuronale Korrelate“ gibt, aber das beweist noch nichts in irgend eine Richtung.
Mich erinnert das an die Frage, ob wir in der Matrix leben: Ein interessantes Gedankenexperiment, eine spannende Analogie, aber man sollte Experiment und Analogie nicht mit der Wirklichkeit verwechseln. Auch die Matrix-Frage können wir nicht entscheiden. Es sind metaphysische Fragen.
Die Konsequenzen sind nur relevant, wenn man die Debatte verkürzt
Mir scheint in der Debatte die Tendenz vorzuherrschen, das Problem ungefähr wie folgt zu verkürzen:
Wenn der Mensch durch etwas, etwa sein Gehirn, vollständig in seinem Wollen und folglich seinem Handeln bestimmt ist, dann ist ‚er‘ nicht für sein Handeln verantwortlich und wir können Mörder nicht mehr bestrafen.
Mal abgesehen von den Fragen,
- wer dann ‚er‘ sein soll (denn jede Personen-Adresse ist ja auch und vor allem eine moralische),
- und was der Begriff „Handeln“ dann an dieser Stelle soll, wenn es offenbar um reines Verhalten geht,
halte ich das für einen unzulässigen Schluss. Denn zu den determinierenden Umweltfaktoren des Menschen (oder des Gehirns) zählt ja auch die moralische Bewertung durch andere, strafrechtliche Konsequenzen inklusive.
[Kleiner Exkurs: Reduktionistisch ist es überhaupt, einen sozialen Akt aus Physiologie ableiten zu wollen; wenn wir Soziales als emergentes Phänomen aus Psychischem, Psychisches wiederum aus Organischem, Organisches wiederum aus Physischem begreifen, dann ist es unsinnig, eine der emergenten Stufen auf die vorherige zu reduzieren. Freiheit, Handeln, Wollen sind aber soziale Zuschreibungen – man kann sie also nicht einmal auf Psychisches, dieses wiederum nicht auf Physisches reduzieren. Die zugrundeliegenden Systeme beeinflussen die höheren, klar, aber die höheren haben neue Eigenschaften.]
Unser Strafrecht und dessen rechtsphilosophische Legitimation (also Kommunikationssysteme!) haben sich ja zurecht aufgrund von Erkenntnissen immer angepasst – im Mittelalter wurden Tiere für ihr „Handeln“ moralisch belangt und bestraft, in der frühen Neuzeit sogar gerichtlich. Unser heutiges Strafrechtssystem enthält einen starken Bezug zur Handlungsfreiheit, aber in Grenzen: Deren Einschränkung führt u.U. zu Strafminderungen, weshalb regelmäßig darüber kommuniziert wird, welche Form von Verantwortung man an Individuen delegieren kann, was also in diesem „Freiheitsrahmen“ gesehen wird.
Und dabei kommt es nicht (nur) auf physiologische und psychische, sondern vor allem auf soziale Faktoren an – nämlich auf die Determination in Richtung eines erwünschten sozialen Verhaltens. Einschränkungen der Handlungsfreiheit spielen dort also bereits eine Rolle; genauso aber die Frage: Auf welches Verhalten (und damit Handeln) möchte eine Gesellschaft die Teilnehmer „konditionieren“?
Also nochmal: Egal, was wer wo wie im Hirn misst, wir können Täter(innen) moralisch bewerten und bestrafen.
Wenn man mit Nietzsche argumentiert, könnte man natürlich auch auf die Idee kommen, dass ganz am Anfang das Strafen stand, und dann erst jede Form der Legitimation. Nietzsche spricht von „Strafe als Abzahlung des Schadens an den Geschädigten, in irgend einer Form (auch in der einer Affekt-Compensation)“ (Genealogie der Moral, II.13) – also: Wir strafen, weil Strafen Lust macht. Was man gut auch daran sehen kann, wie angefüllt die Massenmedien mit Schuld und Strafe sind.
Das ist eine mediale, keine wissenschaftliche Debatte
Massenmedien arbeiten im Modus der Skandalisierung und der Moralisierung; da passt die (verkürzte) Frage, ob man Handeln individuell überhaupt moralisch zurechnen kann, natürlich wunderbar rein. Die scheinbaren Konsequenzen erregen zusätzlich: Dann kann ich den Mörder vielleicht nicht mehr aburteilen!
Dass sich dennoch Wissenschaftstreibende, vor allem aus den Naturwissenschaften, in die Debatte einmischen, liegt vielleicht an deren Großmachtsfantasien, zu glauben, die Sozialwissenschaften überholen und obsolet machen zu können; wahrscheinlicher aber daran, dass sie halt auch ihre 15 Minuten Ruhm wollen. Und den geben ihnen die Medien (Buchverkäufe inklusive).
Das Problem, einen diffusen und komplexen Begriff wie „Freiheit“ bis zur Messbarkeit zu operationalisieren, muss ja sowieso scheitern. Aber gerade diffuse Begriffe, das hatten wir schon beim Thema Ethik, lassen stets endlose Kommunikationsanschlüsse zu. Es ist also sehr folgerichtig, dass sich (populäre und populärwissenschaftliche) Medien darauf stürzen, eben auch „Sternstunde Philosophie“ mit Harari (Youtube – ab Minute 22) – der Anlass der letztwöchigen Tutoriums-Diskussion.
Auch Psychologie und Soziologie gehen von determinierenden Faktoren der Denk-, Willens- und Handlungsfreiheit aus
Das ist ja gerade das Spannende an der Denkweise des 20. Jahrhunderts: Wir sind viel weniger „Herr (oder Herrin) im eigenen Haus“, als wir uns das (vermutlich historisch eher kurzzeitig) vorstellten. Freud und seine Nachfolgys sehen sich an, wie „unbewusste“ Trieb- und sonstige Kräfte Wollen, Begehren, Entscheiden, Handeln prägen. Emotionen sind konstruiert.
Die Soziologie untersucht u.a., welche sozialen Faktoren Einstellungen und damit „Willen“ beeinflussen. Bourdieus Habitus umfasst auch die Entscheidungsgrundlagen wie Geschmack und Emotionen. Foucault analysiert verschiedene Stadien der Prägung durch Diskurse, Internalisierungen von Disziplin und Kontrolle. Emotionen sind konstruiert.
Trotzdem würden beide Disziplinen nie auf die Idee kommen, den sozialen (nicht naturwissenschaftlichen, nicht psychischen) Akt der Zurechnung von Handlungen und Verantwortung auf Personen aufzugeben. Das ist sogar in den sozialpädagogischen Kontexten relevant, die ich (rein subjektiv über Freundinnen und Freunde) mitbekommen habe – unabhängig davon, wie sehr man die Klientel durch Verweis auf Prägungen und Erfahrungen in Schutz nimmt.
Weder von der sozialen Zurechnung noch von der direkten Wahrnehmung können wir eine Form der Handlungsfreiheit ausklammern; ob dahinter ein „unbedingt freier Wille steckt“, können wir natürlich nicht entscheiden; diese Beobachtung wäre nur einem Gott möglich (weshalb wir ihn uns dann vielleicht auch konstruieren).
Die Debatte bleibt wohl …
Ich mache mir keine Illusionen, dass die Debatte weggeht, würde sie nur gerne jeweils mit einem Link auf diesen Artikelabschnitt von mir fernhalten wollen. Ich bin allerdings (soziologisch) gespannt, wann diese Debatte wieder Konjunktur erlebt. Das kann ich gerade gar nicht behaupten, vielleicht war die mehrfache Konfrontation ja nur Zufall. Man könnte aber z.B. beobachten, ob die Debatte tendenziell ein Krisenanzeichen (nach 9/11, nach Pandemiebeginn, nach dem Ukraine-Kriegsausbruch?) ist, oder andersrum ein Wohlstandsphänomen.
Featured Image: Schnappschuss aus der Erfurter Kunsthalle zur Ausstellung „Family Affairs“.
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