SS23/W02: Pendelei und Liebesbriefe

»Die Autorität der Quelle mit all den erforderlichen sozialstrukturellen Absicherungen (Schichtung, Reputation) wird entbehrlich, ja durch Technik annulliert und ersetzt durch die Unbekanntheit der Quelle.« (Luhmann, GdG, S. 309)

Es war eine kurze Woche: Dienstagfrüh nach Jena für Emotionsgeschichte, affektiver Kapitalismus, eine Vorab-Sitzung von „Religion und Sozialismus“ und Geschlecht und Eigentum. Den Donnerstag verpasse ich, um die wirklich unfassbar lange Fahrt nach Tübingen mit einer Übernachtung in Nürnberg zu „verkürzen“.

N.B.: Eine Fahrt nach Tübingen zu buchen ist echt schwer. Eigentlich würde ich gerne „Jena nach Tübingen über Nürnberg, volle Flexibilität bzgl. der Züge und Weiterfahrzeiten“ buchen. Das geht aber nicht: Man kann nur konkrete Verbindungen buchen, wenn ich nicht fundamental etwas übersehen habe. Klar, mit dem „Flexpreis plus“ kann ich dann einen Tag vorher und bis zu zwei Tage später meine Verbindung nehmen, aber eben nur eine vergleichbare Verbindung; wenn ich Erfurt/Nbg. als ICE und nicht als Sprinter buche, darf ich vermutlich eigentlich gar nicht Sprinter fahren. Oder doch? Wegen der Reisekostenabrechnung hätte ich das eben gerne als ein Ticket … Nervig. Ich habe nun einfach irgendwas gebucht und es wird schon klappen.

Uni

Vielleicht teile ich die Berichte vom Unileben einfach nach Veranstaltungen auf? Mal probieren:

Emotionsgeschichte

Meine Hausaufgabe, ein emotionshistorisch relevantes und interessantes Dokument mitzubringen, erledige ich mit einem Brief meines Opas an meine Oma aus dem Jahr 1953. Kurz nach dem Krieg; mein Großvater (Bauingenieur) war gerade in Madrid bei seinem ausgewanderten Bruder, um sich dort nach Arbeit umzusehen; meine Großmutter saß in Berlin und war schwanger. Meine einordnenden Sätze:

Ich habe einen Liebesbrief meines Großvaters an meine Großmutter aus dem Jahr 1953 mitgebracht, einen von vielen Briefen, die die beiden wegen räumlicher Trennung austauschten. Ich habe ihn ausgewählt, weil ich den Stapel mit diesem und hunderten weiteren Briefen schon seit einigen Monaten durchsehen will; und diesen spezifischen Brief, weil er maschinengeschrieben und daher gut lesbar ist.

Relevant scheint er mir, weil er auf sehr gegenwärtige Weise von Liebe berichtet — er könnte von der Liebessemantik her (Ausschließlichkeit; Individualität vor dem Hintergrund von Liebes-Stereotypen; Schmerz des Getrenntseins; Aufladung des absolut Banalen als bedeutsam; Legitimation der eigenen Weltsicht durch den anderen) auch 2020 geschrieben sein, weist aber einige Spezifika der 50er auf (Kommunikationsmedium Brief, das auch thematisiert wird; wirtschaftliche Rahmenbedingungen). Das deutet auf eine Kontinuität der Liebeskommunikation im 20./21. Jhd.

Nachteil: Ich habe angefangen, diese ganzen Briefe zu lesen. Sehr spannend (egal, ob es um die wirtschaftliche, persönliche oder politische Umwelt des Paares geht). Aber ca. 250 Briefe aus 11 Monaten brauchen jede Menge Lektürezeit …

Die anderen (wir waren 14 Teilnehmys plus 2 Professorinnen) brachten ganz verschiedene Quellen und Themengebiete mit:

  • von Bildbänden über ihre Herkunftsorte und familiäre Artefakte (Verlobungsring einer inzwischen geschiedenen Ehe)
  • über Kunst (Guernica, Judith und Holofernes) und Literatur (Antigone)
  • bis hin zu Fotos von emotionsbesetzten historischen Ereignissen (Tschernobyl, Vietnam, der Sturm aufs Capitol).

Insgesamt könnte auch dieses Semester das historische Seminar wieder zu den spannendsten Veranstaltungen gehören.

Lektüren

„Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?“ war Ute Freverts Antrittsvorlesung. Sie spürt dem Wandel der Beschäftigung mit Emotionen in verschiedenen Disziplinen historisch nach. Einen spannenden Gedanken fand ich, dass sich Emotionen (was immer sie sind) durch hohe Komplexität auszeichnen, also auch nicht einfach in Schemata gepresst werden können. (Man lasse mal jemanden erzählen, der oder die wütend ist, und wird da noch viele andere Gefühle benennen können – und vermutlich andere als die Person selbst und unter anderen Namen! Trauer, Enttäuschung, Hass, Rache, … – falls das denn alles überhaupt Gefühle sind.)

Emotionen (oder Gefühle, das nutze ich hier mal synonym, und meine eigentlich vor allem Gefühlskommunikationen) sind also schwammig und unscharf – ein bisschen wie bei den Werten, die wir in „Was ist Ethik?“ diskutiert haben. Und das ist hier wie dort kein Bug, sondern ein Feature (das vermutlich am Ende doch wieder der Komplexitätsreduktion dient). So bleiben viele Anschlüsse offen, das Medium ist generalisiert. Daher mache ich jetzt mal die Arbeitshypothese für mich auf, dass man Gefühle als Erfolgsmedien (oder ein Erfolgsmedium?) betrachten kann. Dass es der Kommunikation mit starkem Verweis auf die Black Box psychisches System letztlich verwehrt bleibt, steigert nur die Wirkung.

Was wir beobachten können, sind Formen, die im Medium Gefühl gebildet werden. Wutkommunikation, Kommunikationsrückzug aus Angst, Freudentränen; und dafür gibt es je kulturelle Schemata, denen wir folgen. (Auf einer Hochzeit sollte man nicht aus Trauer, auf der Beerdigung nicht vor Freude heulen, und je nach Bezug zur verstorbenen Person verbieten sich Tränen vielleicht sogar als anmaßend oder peinlich.) Die Gefühllosigkeit der Depression geht auch mit Kommunikationsabbrüchen einher (und es wird schwierig, das kausal zu verknüpfen).

Vielleicht genügt dieser Ansatz auch schon, um das Gelingen unwahrscheinlicher Kommunikation (Wut und Selbstgefälligkeit ermöglichen den strafbewehrten Sturm aufs Capitol?) zu erklären …? Allerdings ist mir noch nicht ganz klar, in welchem Verhältnis dieses Medium zu Erwartungsstrukturen steht – wie ich in „Misogynie im Comicladen“ zu zeigen versucht habe, sind unmittelbare emotionale Reaktionen auf Ereignisse ja auch irgendwie „sensorisch“ mit Erwartungen verknüpft. Nur welche? Erwartungen an mich als Erlebendes? Enttäuschtes Vertrauen in andere? Ist das über die Formbildung, die ich oben angedeutet habe, abgefrühstückt? Sind Emotionen vielleicht bipolar (anziehend/abstoßend) und können daher Kommunikation ermöglichen oder verhindern?

AK

Emotional-affektiv geht’s weiter, und die obigen Ausführungen zu Emotionen beziehen sich auch ein Stück weit auf dieses Seminar. (N.B.: Kürzel werden im Glossar in der Seitenleiste erklärt.)

Das Seminar bleibt weiterhin sehr beliebt, es gibt eine relativ lange Warteliste. Mit 35 Leuten finde ich Diskussionen weniger zielführend als in kleiner Runde, aber eine gute Stundenstruktur macht hier viel wett.

E&G (entfiel)

Leider entfällt die Sitzung zu „Die soziale Konstruktion von Geschlecht“ spontan wegen Krankheit. Das ist etwas ungünstig, weil ich nächste Woche dort die Stunde („Eigentum und soziale Ungleichheit“) moderieren werde. Also muss die Absprache per Mail gehen …

In die Stundengestaltung wanderte einige Arbeit, u.a. ist eine Präsentation zu erstellen. Und ich muss die schon einmal gelesenen Texte noch einmal gründlich durchgehen, um dann fast alles zu verwerfen, damit ich mich dem „Kern der Sache“ annähere. Dabei fällt mir auf, dass es deutlich einfacher ist, ein Referat zu einem Thema zu erarbeiten, zu dem man noch keinen Bezug hat. Das ist bei Eigentum natürlich unwahrscheinlich, davon haben ja alle mehr oder weniger feste Vorstellungen. Besonders spannende Erkenntnisse:

  • Skandinavien ist zwar in Sachen Einkommen sehr „gleich“, aber in Sachen Vermögen sehr ungleich.
  • Daran schließt sich für mich die Frage an, ob nun eine sich gleich anfühlende Gesellschaft mit gutem sozialen Fallnetz nicht bereits die Versprechen einer „Gleichheit der Genüsse“ (eine Idee, die m.W. auf die Sansculotten zurückgeht) weitgehend einlöst?
  • Es gibt mehrere wichtige Eigentums-Abgrenzungen (Unterscheidungen): vom Besitz (rechtlich); vom Einkommen (Eigentum verstanden als Vermögen); vom Nichteigentum (etwa von einer Allmende); vom „Anverwandelten“ (auch wenn man sagt, dass man kulturelles oder soziales Kapital „besitzt“). Je nachdem, was man mit der jeweiligen Unterscheidung sieht, sieht man dann natürlich etwas anderes nicht.
  • In proletarischen Ehen hatte der Mann keinen Zugriff auf den Arbeitslohn seiner Ehefrau. Die Autoren des Familienrechts des BGB wollten sicherstellen, dass zumindest der Frauenlohn für den Familienunterhalt zur Verfügung stand.“ (Beer, „Sekundärpatriarchalismus“)

Insgesamt war es glaube ich eine ganz gute Entscheidung, die Moderation gleich am Anfang des Semesters zu übernehmen.

R&S

Leider waren hier nur 4 Teilnehmys für die konstituierende Sitzung dieses Blockseminars anwesend; man müsste ein Austauschprogramm mit „Affektiver Kapitalismus“ organisieren … Auch hier werden Referat und Hausarbeit fällig. Ich habe mich mal für das Thema „katholische Soziallehre“ entschieden – mal sehen, ob das spannend wird, der Fokus wird wohl auf theoretischen Reaktionen zur Enzyklika „rerum novarum“ (1891 von Papst Leo dem XIII.) liegen. Außerdem erarbeiten wir in Grüppchen die Begriffe „Religion“ und „Sozialismus“ – immerhin kann ich dann guten Gewissens mal in „Die Religion der Gesellschaft“ reinlesen.

Ideengeschichte (geschwänzt)

Die Vorlesung – auf dem Plan steht China und Konfuzius – verpasse ich, sie wird aber auf einer kommenden Zugfahrt nachgeholt, sobald die Aufzeichnung verfügbar ist.

Kneippen

Auf der Packung sind zwei Dinge relevant: „Badekristalle“ — und die Marke. Alles andere ist aufgefüllt: mit dem Titel „Rückenwohl“ und daraus redundant abgeleiteten Informationen („wohltuend, wärmend & entspannend“); mit einer Kräuterangabe „Teufelskralle“; mit dem Versprechen, „die Feuchtigkeit der Haut“ zu bewahren (und was ist, wenn man trockene Haut hat — was wird dann bewahrt?). Den Hinweis „NEUE Formulierung — bewährte Qualität“ könnte ich einmal auf einen Gedichtband oder vielleicht auch eine poetische Hausarbeit drucken …

Ein bisschen abstrus wird es dann allerdings mit dem Hinweis „3in1: wohltuend für Rücken, Nacken & Schulter“. Der Kalauer „Mit hohem Anteil Tiefensalz“ entspannt zusätzlich. Die erneute Verwendung des kaufmännischen Und sowie des Wortes „wohltuend“ scheint mir etwas lazy. (Über den Inhalt reden wir lieber nicht — ich fände es ja viel beeindruckender, wenn die wohltuende Wirkung an den Schultern Halt machen würde!) Ich fühlte mich auch angenehm an mein DuschDas-Duschgel erinnert, das zwar in der Ökotest-Kategorie „2in1-Produkte für Männer“ getestet wurde („gut“), selbst aber ein 3in1-Produkt ist: für Körper, Haare und Gesicht, was auch endgültig klärt, dass das Gesicht (jedenfalls bei Männern) weder zu den Haaren noch zum Körper gehört.

Nun zur Analyse. Es ist offenbar vollkommen egal, was auf dem Produkt steht, solange das Design nur sagt: „Erkenne mich als Badesalz, ich bin ein Produkt wie die anderen neben mir; aber ich bin nicht genau so wie die anderen neben mir.“ Vermutlich hat den Text auf der Packung auch noch niemand so genau durchgelesen wie ich. Die meisten Leute haben ja etwas zu tun. Und nun stellt sich mir die Frage: Nimmt die Person, die diesen (Werbe-)Text verfasst hat, den Text ernst?

Die mir persönlich bekannten Werbetextys (hallo, Klaus! hallo, DW!) gehen recht freimütig damit um, dass sie das nicht tun; sie zeigen kommunikativ immer eine erhebliche Distanz zu Produkt, Auftraggeby und Werk (vermischt aber mit heimlichem Stolz). Wer keine Werbetextys kennt, das aber nachvollziehen will, dem sei — Achtung, Werbeblock! — Fred Beigbeders „39,90“ empfohlen, in dem schonungslos und schamlos allen Lesys klar gemacht wird, dass die, die ihnen Produkte andrehen, *weder* sie *noch* die Produkte ernst nehmen. (An das Buch denke ich, weil ich es vor Längerem einem Kollegen ausgeliehen hatte, es vor Kurzem zurückbekommen und dann auch ein wenig darin gelesen habe.)

So, und nun die Erkenntnis: Dass uns die Werbetextys nicht ernst nehmen ist weder überraschend noch erschreckend, sondern eigentlich beruhigend. Propaganda ist viel leichter zu ertragen (und erfolgreicher!), wenn man davon ausgehen kann, dass auch deren Urhebys sie nicht glauben. Dann ist sie wirklich unangreifbar. (Dass Werbung und Design nicht als Bug, sondern als Feature bescheuert sind, hätte mir als Soziology ja eigentlich auch schon früher dämmern können, aber nein, es brauchte diese Badekristallpackung. Das Badeerlebnis war übrigens sehr gut, ich werde das Produkt wieder kaufen.)

Sonstige Lektüren

  • Christian Schuldt: „Systemtheorie: Theorie für die vernetzte Gesellschaft“. Gute Einführung in die Systemtheorie mit vielen Anschlüssen und Verweisen.
  • Luhmann: „Archimedes und Wir“, ein Interviewband von 1987.

Beitragsbild: Endlich Sonne! Hof der Cafeteria des UHG, im Hintergrund der Bismarckbrunnen.

5 Gedanken zu „SS23/W02: Pendelei und Liebesbriefe“

  1. „Den Hinweis ‚NEUE Formulierung — bewährte Qualität‘ könnte ich einmal auf einen Gedichtband oder vielleicht auch eine poetische Hausarbeit drucken …“ Ja! Unbedingt! 🙂 Das wäre ganz im Sinne der Eselskunst.

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