Abschlusswarterei, Agota Kristóf und Musikindustrielles

Wir müssen uns beständig anhören, was alles getan wird, um die Krisen zu bewältigen, und dass die Talsohle längst durchschritten ist, dass es wieder aufwärts geht und dass man alles im Griff hat. Und die phantastische Literatur hält diesen Zweifel wach, dass alle diese Versprechungen wahrscheinlich nicht wahr sind. Und die zunehmenden ökologischen Sorgen, die Tatsache, dass es so etwas wie Bürgerkriege auf der ganzen Welt gibt, der Verbrauch natürlicher Ressourcen usw. usf.: Das alles zeigt, dass es keine gute Zeit für Utopien ist. Mit anderen Worten: Es ist die Stunde der Phantastik.
(Hans Richard Brittnacher im DF-Feature „Das Grauen der fantastischen Literatur“

Nun arbeite ich also seit über zwei Wochen wieder und konnte sogar noch einen Feiertag mitnehmen. Außerdem erfreue ich mich an klaren Feierabenden, Wochenenden und Co. Die Zeit vergeht schnell und ich bin wieder etwas orientierter in der Wochenstruktur.

Aber ein bisschen fehlt mir das Studieren schon, vor allem das zielgerichtete Lesen und Exzerpieren auf einen Text hin. Andererseits würde ich auch gerne mal abschließen; der Löwenanteil der Arbeit an meiner Masterarbeit und den letzten Semesterarbeiten liegt ja nun schon 4 Monate zurück. Aber Uni heißt halt nun mal oft: warten.

Wann ist das Studium (endlich) vorbei?

Leider gibt es bezüglich der Masterarbeit noch nichts Neues. Wenn ich die verstreuten Informationen zum Thema richtig deute, warte ich nun auf eine Mail des Prüfungsamtes mit dem Gutachten (und der Note und den Prüfungsfragen). Dieses Gutachten müsste eigentlich spätestens Ende letzter Woche, also mit dem 31. Mai, dort eingegangen sein.

Aus einer Präsentation zum MA-Verfahren in meinem Studiengang

Die Angabe von „4 Wochen“ scheint sich mir rechnerisch zu ergeben, denn es heißt:

Das Bewertungsverfahren soll spätestens sechs Wochen nach Abgabe der Master-Arbeit abgeschlossen sein. (Prüfungsordnung)

Und:

Die Bearbeitungszeit der Master-Arbeit beträgt 4,5 Monate. Nach Begutachtung der MA-Arbeit erfolgt ihre mündliche Verteidigung. Die Studierenden haben ab Bekanntgabe der Master-Arbeitsnote und der Gutachten der Master-Arbeit mindestens zwei Wochen Zeit, sich auf ihre mündliche Verteidigung vorzubereiten. (Modulkatalog)

Bei einer Gesamtbearbeitungszeit von 6 Monaten ist da also nicht mehr viel Spielraum. Insgesamt könnte die Informationslage etwas besser sein, aber ¯\_(ツ)_/¯. Ich frage Ende der Woche mal beim ASPA nach.

Update: Offenbar hängt der Prozess noch bei einer der begutachtenden Personen. Naja, da will man natürlich nicht drängen, man ist ja doch ein Stück weit abhängig …

Agota Kristóf

Ich hatte ja schon gesagt, dass mich die „Heft“-Trilogie in ihren Bann gezogen hat; das hat sich mit den Bänden 2 und 3 nicht geändert. Ich lese mich nun auch durch den Rest des epischen Werks von Kristóf — schmale Piper-Taschenbücher, die man eher wie Gedichte lesen sollte; Abschnitt für Abschnitt, mit Denkpausen. Was einen erwartet: Eine eng verwobene Welt aus Erinnerungen, Motiven, Träumen und Archetypen; aus realen, fiktiven, fiktionalisierten, „allegorisierten“ Ereignissen, ganz postmodern ohne jede Grenze; Verunsicherung auf Schritt und Tritt.

Wer weiterlesen will:

Mich hat der Bezug zu Sprache sehr an Etel Adnan und Jacques Derrida erinnert, also an das Thema meiner Hausarbeit im Gastlichkeits-Seminar: „Ich habe nur eine Sprache, und die ist nicht die meinige“. Hier ist, anders als bei Derrida und Adnan, das Französische aber nicht die Sprache der Kolonisation, sondern des Ziels einer Flucht. Das macht sein „Anverwandlung“ aber nicht leichter.

Und dann gibt es noch einen etwas merkwürdigen Komplex, der nur selten durchscheint:

  • „Getting Over Our Father: On the childhood trauma of Attila and Ágota Kristóf“ (Lepold Andrea): Dieser Aufsatz (dessen Quellen ich mangels ungarischer Sprachkenntnisse nicht gesichtet habe) beleuchtet Ágotas Kindheit. Diesem Text zufolge kam der Vater nicht etwa wegen politischer oder militärischer Vergehen in Haft, wie Kristófs Romane und Interviews suggerieren — sondern wegen Missbrauchs mehrerer Schülerinnen. Ich weiß nicht, wie viel an der These dran ist, dass die Notizbuch-Trilogie möglichen eigenen Missbrauch Kristófs verarbeitet, aber der Text enthält viele Details zu den beteiligten Biographien. Allerdings verwundert mich, dass ich das allermeiste nirgendwo sonst gelesen habe — das gibt es wohl nur im ungarischen Internet. Wieder eine bemerkenswerte Sprachbarriere. Auch zu ihrem Bruder Attila, Journalist und Schriftsteller, findet sich nur ein ungarischer Wikipedia-Eintrag.
  • „Profane Wallfahrten: Auf den Spuren der Romane von Agota Kristof“. ZEIT-Recherche mit dem treffenden Satz: „Geheimnisvollere Bücher hat der Journalist [Roland Kolberg] nie gelesen.“ Leider hinter Paywall. Auch hierin: „Der Vater sei ins Gefängnis gekommen, weil er seine Schülerinnen sexuell mißbraucht habe. Die Kristof-Kinder hätten sich danach nicht mehr auf die Straße getraut und seien geächtet gewesen. Die Kristof-Mutter sei fortgezogen.“
  • A conversation with Ágota Kristóf“ (Interview mit Riccardo Benedettini). Die Aussage, dass „Gestern“ vollständig autobiographisch ist, müsste man mal neben die Trauma-These legen — der Protagonist ist der uneheliche Sohne eines Lehrers mit einer sehr jungen Prostituierten und damit Halbbruder derjenigen Person, mit der sich Kristóf laut diesem Interview identifiziert. Aber auch hier wird die Haft des Vaters mit Politischem in Verbindung gebracht.

Bei mir bleibt die Frage: Lauschen wir hier auch der Konstruktion einer Biographie? Lauert hinter den lakonisch geschilderten offenen Schrecken noch ein größerer oder kleinerer, privaterer, ungeschilderter Schrecken? Und ist das wichtig oder unnötiges Psychologisieren?

Musikindustrie: Hyperpseudonyme und Creator-Fan-Interaktionen

Ich frage mich seit Langem, wie man „Popkultur“ am besten fasst. Vermutlich irgendwo zwischen der Unterhaltungsseite des massenmedialen Systems und dem Kunstsystem, mit Schwerpunkt auf Ersterem. Der Code wäre dann vermutlich „populär/unpopulär“. Und auch hier scheinen die Veränderungen in der Differenzierungsform unserer Gesellschaft, also wie sich die Systeme zueinander verhalten, ihren Niederschlag zu finden.

Das bleibt dem Popkultur-System selbst nicht verborgen, es ist ja selbstbeobachtend. Und mit dieser Studie haben wir einen Beitrag zur Selbstbeobachtung, sozusagen ein „Programm“, das sehr eng an der Wirtschaftlichkeit von Populärem (hier: Musik) geführt wird — und zwar weniger an Organisationen, als an Einzelpersonen entlang: Die generelle soziale Interaktion von „Creators“ mit ihren „Customers“ spaltet sich ab von der Spezialinteraktion „Streaming“.  Die Diagnose:

social is still largely seen as a driver for streaming

— das aber wird problematisiert, denn Künstlerinnen und Künstler sollten sich auf beide Bereiche separat einstellen. Direktinteraktion (sagen wir: per Social Media) wird quasi zum Selbstzweck. Dieser Fokus ist aber immer noch sehr „Genie“-orientiert: Die Fans wollen mit „ihrem“ Künstler oder „ihrer“ Content-Creatorin interagieren. Vielleicht hat aber im Gegenteil Ted Gioia recht, der hier analysiert, wie es dazu kam, dass ein unbekannter Komponist mit hunderten unbekannten Pseudonymen zum Streaming-Champion wurde.

Mich erinnert das sehr an die Dynamiken des Buch-Selfpublishing. Eine solide Strategie war es, mehrere Reihen durchschnittlicher (nicht: schlechter!) Bücher zu veröffentlichen, die dann jeweils ein bisschen, aber nicht zu viel einfuhren. Die einzelnen Pseudonyme hatten dann ggf. einige Fans, aber nicht zu viele. Die Wahl der Distribution (quasi der Empfehlungsalgorithmen) war dann wichtiger als die „Autorenmarke“. Ich weiß nicht, ob das heute noch so ist.

Streaming platforms have many reasons to prefer unknown musicians like Johan Röhr. In a world of anonymous tracks, superstars and record labels have little negotiating leverage with streamers—whose brand gets stronger as musicians lose visibility.

Dazu passend von der re:publica: „Dirty Little Secrets – Musikindustrie“ über das gleiche Phänomen millionenfach via Playlists gespielter, an sich aber eher anspruchsloser Kompositionen/Produktionen von hyperpseudonymen „Creators“.

„The Music of Erich Zann“ von Half Deaf Clatch

Und noch ein musikalisches Fundstück. Mich interessieren ja immer alle möglichen Lovecraft-Vertonungen. Daher ein aktueller Tipp: eine Blues-Adaption der „Musik of Erich Zann“ (meine Analyse der Musikelemente der Story findet sich hier).

Instrumente: „acoustic guitar, electric cello, pipe organ, percussion and atmospheric soundscapes; any ‚otherworldly‘ effects were created with instruments put through octavers and auto filters.“

Wer sich nun fragt, warum es hier keine Viola da Gamba zu hören gibt, kann erfahren:

In the original story Lovecraft says that Eric Zann plays a ‚viol‘, it is widely accepted that he meant a viol da gamba, a Baroque era instrument which closely resembles the cello, but has five to seven strings, and frets. Since these are rare and very expensive, I obviously decided to use my electric cello for this EP, as buying a viol da gamba seemed an unnecessary extravagance.

(via tentaclii)


Beitragsbild: „tumbleweed symbolizing boredom, moving, rolling down a street, hyperrealistic“ mit Dreamshaper XL Lightning. Ich war überrascht, dass ich es auch durch diverse Prompt-Veränderungen nicht hinbekam, tatsächlich einen sich bewegenden Tumbleweed zu generieren. Er blieb, mit hübschem Schattenwurf, statisch. Passt ja vielleicht auch ganz gut.

2 Gedanken zu „Abschlusswarterei, Agota Kristóf und Musikindustrielles“

  1. Das mit dem Masterabschluss zieht sich wirklich sehr hin! Da kann man nur viel Geduld wünschen – denk an deinen post neulich auf signal!

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