Kurzrezension: „Annie Besant: Weisheit und Wissenschaft“ (Muriel Pécastaing-Boissière)

Muriel Pécastaing-Boissières Annie-Besant-Biographie ist prinzipiell sehr lesenswert. Leider gilt das für die deutsche Ausgabe nur eingeschränkt.

Positives: Kurz, knackig und schlüssig

Zunächst zum Positiven: Das Buch (englischer Titel: „Annie Besant. Struggles and Quest“) schließt, wenn man bislang vor allem einzelne Articles gelesen hat, einige Lücken. So war mir z.B. trotz vieler Lektüren nicht klar,

  • dass Besant Gandhi schon in den 1890er Jahren getroffen hatte,
  • wie ihre Karriere bei der Secular Society verlief und
  • wie stark die verschiedenen „Befreiungskämpfe“ zusammenhingen.

Anhand dieser „Struggles and Quest“ (Original: „la lutte et la quête“, also Kampf und Suche) ist das Buch auch strukturiert. Kapitel 2, 3, 4 und 6 befassen sich mit ihrem kämpferischen Einsatz für säkulare, feministische, soziale bzw. sozialistische und indische antikoloniale Belange. Kapitel 1 und 5 sind eher „persönlich“: Sie behandeln ihren frühen Werdegang von der mystisch-pietistischen Christin zur Freidenkerin bzw. ihren Übergang zur Theosophie.

Verdienstvoll ist auch, dass die Autorin dabei auf die Kontinuitäten abzielt, die Besants Biographie umrahmen; bis in die 1990er Jahre wurden eher die scheinbaren „Brüche“ thematisiert: Christentum, Atheismus, Sozialismus, Theosophie. Aktueller Trend ist eher die Betonung des Gemeinsamen (auch in meiner Hausarbeit). Und schließlich muss positiv erwähnt werden: Dieses Buch ist relativ kompakt, 300 Seiten in der deutschen Ausgabe. Man liest es an einem freien Montag weg.

Auch meine Frage, wovon Annie Besant lebte, wurde weitgehend beantwortet: Sie erhielt nach der Trennung von ihrem gewalttätigen anglikanischen Pastor vor allem als Autorin und Rednerin Honorare, später verdiente sie als Publizistin Geld. In Phasen, in denen sie sich politisch engagierte (etwa im London School Board), wurde für sie gesammelt; später lebte sie vor allem von Spesen der Theosophischen Gesellschaft.

Fehlendes, Ungeklärtes und Mysteriöses

Leider wird nicht alles aufgeklärt. So spielen Besants Kinder und die Beziehung zum Bruder nur am Anfang des Buches eine Rolle; die Umstände der Zusammenarbeit mit der Tochter Mabel und was aus dem Sohn Arthur wurde bleiben ungeklärt.

Richtig viel findet man über die Autorin selbst übrigens nicht. Sie arbeitet an der Sorbonne. Aus der Google-Translation ihres dortigen CV:

Her current area of ​​research focuses on the connections between feminism, socialism, and the spiritual revival of the late Victorian and Edwardian era. […] Her biography Annie Besant: The Struggle and the Quest was published by Adyar in June 2015, translated into German by Aquamarin Verlag in May 2017, and into English, in a revised and expanded version, in October 2017.

Dem widerspricht die Titelei der deutschen Ausgabe; die widerspricht sich aber auch selbst. Der Schmutztitel sagt „Aus dem Französischen übersetzt von Dr. Edith Zorn“, das Impressum behauptet „Übersetzung aus dem Englischen“. Ja, was denn nun? Und leider geht das so weiter.

Deutsche Ausgabe: Fehlerchen …

Warum habe ich überhaupt die Übersetzung bemüht? Weil ich nicht schon wieder ein PDF am Rechner lesen und mir auch keine PDF-zu-EPUB-Konvertierung antun wollte. Die Besant-Hausarbeit ist ja schon seit drei Wochen abgegeben, daher wollte ich einfach ein bisschen schmökern. Also bestellte ich mir die deutsche Ausgabe aus dem „Aquamarin“-Verlag, deren esoterisch anmutender Untertitel „Weisheit und Wissenschaft“ mich vielleicht hätte warnen sollen …

Der Aquamarin-Verlag verlegt ansonsten anthroposophische, theosophische, Geistheilungs- und Lebenshilfe-Bücher; auf jeden Fall keine „akademische“ Literatur. Die englischsprachige Ausgabe erschien beim Theosophical Publishing House, das Original bei Adyar/Paris, also auch bei „konfessionellen“ Publishern, aber dort beherrscht man anscheinend die Veröffentlichung von wissenschaftlichen Büchern. Bei Aquamarin leider nicht. Aus den Fußnoten wurden nach Kapitelzählung sortierte Endnoten, was die Nachvollziehbarkeit deutlich erschwert; und es entfielen auch einige kontextgebende Noten (bspw. zur heutigen NSS). Die deutsche Ausgabe enthält auch nur 19 (s/w) Abbildungen, die englische 34 (teils farbig).

Außerdem mangelt es leider an den Grundlagen der Typographie. So werden prinzipiell doppelte Anführungszeichen in Zitaten verwendet, die bereits mit doppelten Anführungszeichen gerahmt sind; das führt dann auch oft zu Interpunktionsfehlern, von der mangelnden Lesbarkeit ganz zu schweigen.

„Wenn ich innerhalb ‚doppelter Anführungszeichen‘ zitiere, dann nur mit einfachen.“

Leider merkt man der Übersetzung immer wieder ein paar Schwächen an; einige Sätze wirken ungelenk. Auch hat die Übersetzerin (1940 geboren, Apothekerin, Quelle) offenbar selbst Worte hinzugefügt: Wo es in der englischen Ausgabe heißt, „what Mark Bevir defined as“, wird daraus im Deutschen „was der Akademiker Mark Bevir als […] bezeichnete“. Man fragt sich, wieso hier „der Akademiker“ hinzugefügt wurde, und ob „der Besant-Experte“ oder „der Historiker“ nicht passender gewesen wäre. Derartige Details trüben den Lesefluss.

… und grobe sachliche Fehler

Ich habe das Buch nicht „studiert“, eher mittelaufmerksam gelesen. Aber schon dabei fielen mir eiige Ungereimtheiten auf. Lässlich ist es, wenn sich die Übersetzerin verrechnet und aus der 62-Jährigen, die Autofahren lernt, die 72-Jährige macht (S. 239). Aber auf Seite 84 heißt es:

1891 definierte [G. J. Holyoake] ein neues Konzept, den „Säkularismus“: […]

Das ergibt keinerlei Sinn, wenn das ganze Kapitel davon handelt, dass Annie Besant seit den 70er Jahren „Säkularistin“ war. Und diese Jahreszahl stimmt auch ganz einfach nicht; die englische Ausgabe konstatiert korrekt: „He therefore defined a new concept, secularism, in 1851[.]“

Schlimmer noch ist es, wo die Übersetzung offenbar einfach Zahlen und Fakten erfindet. Auf Seite 129 geht auch wieder eine Rechnung nicht auf, hier heißt es:

Zur Feier des fünfzigsten Jahrestages der 1827 gegründeten [Malthusian League], unter Vorsitz des Ökonomen John Maynard Keynes, lud man Sie als Ehrengast zu einem Essen ein.

Das ergibt wieder keinen Sinn — als Besant-Interessierter weiß man ja, dass der Knowlton-Prozess Anlass für die Gründung der Malthusianischen Liga war. Und nachdem Annie Besant Initiatorin dieses Prozesses war, kann das nicht 20 Jahre vor ihrer Geburt gewesen sein. In der englischen Ausgabe heißt es denn auch korrekt:

She was the guest of honour of the Malthusian League at the dinner organized to celebrate the League’s fiftieth anniversary in July 1927, presided over by John Maynard Keynes. (Englische Ausgabe S. 107)

„Dinner“ wäre vielleicht auch passender als „Feierlichkeit“ statt als „Essenseinladung“ übersetzt wirden, aber naja. Das kann man nun alles als Flüchtigkeitsfehler werten — zitierfähig ist diese deutsche Ausgabe leider nicht wirklich, man müsste alles nochmal nachprüfen. Zumal ich ja gar nicht nach Fehlern gesucht hatte — diese Beispiele konnten einem einfach nicht entgehen, was das Vertrauen in die Ausgabe deutlich schmälert. Offenbar gab es kein (gutes) Lektorat.

Fazit

Das Buch ist sehr lesenswert, deutlich kürzer und aktueller als die Biographie von Nethercot. Und es ist erfreulich, dass zu Annie Besants spannendem Lebensweg weiter geforscht wird und neues Material entsteht. Ich würde aber dringend zur englischsprachigen Ausgabe raten — die deutsche Fassung ist leider ungenügend.


Bonus: Theosophie, Crowley und der „Hermetic Order of the Golden Dawn“

Ich hatte ja ursprünglich angefangen, mich mit Theosophie zu befassen, weil ich die Verschränkung von Esoterik/Okkultismus und Gegenkultur/Subversion spannend fand. Das ging zuletzt ein bisschen unter. Aber ich bin über zwei spannende Datenpunkte gestolpert, die ich hier einfach aufnehme — denn zum Themenkreis Theosophie kommt vermutlich so schnell nichts mehr. Die Lektüre der Besant-Biographie schließt dieses Subprojekt meines Studiums quasi ab.

Crowley stand der Theosophie offenbar wohlwollend gegenüber:

As an interesting sideline here, Crowley was born in 1875, the same year the Theosophical Society was founded. He considered this to be highly significant, since he believed that he, and H. P. Blavatsky had, in certain respects, similar missions.
(David Reigle: Theosophy and the Golden Dawn)

Nicht aber Annie Besant:

Crowley, as a secret servant of the crown, despised Besant. He damned her as a “shameless, nauseating fraud” and worse, a member of the evil Black Brotherhood.
(Quelle „Wondrium“. Mit Vorsicht zu genießen; die Angaben in der FAQ-Sektion sind falsch: Annie Besant wurde erst 1907 Präsidentin der TS, vorher lebte ja Olcott noch. Blavatksy war nie Präsidentin.)

Vielleicht gehe ich diesen Verbindungslinien irgendwann nochmal genauer nach. Dann wäre auch Besants Einfluss auf die moderne Kunst oder die von Pécastaing-Boissière untersuchte Florence Farr interessant. Die war

  • Feministin,
  • Golden-Dawn-Führerin,
  • Yeats-/Pound-/Wilde-Freundin und
  • „bohemian of bohemians“.

Einfach eine verrückt-spannende Zeit.

2 Gedanken zu „Kurzrezension: „Annie Besant: Weisheit und Wissenschaft“ (Muriel Pécastaing-Boissière)“

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