Was heißt eigentlich „Spiel“ und „Spielen“?

Mal wieder so ein Zwischengedanke, den ich für mich festhalten will (Lerntagebuch!) und der vielleicht auch jemand anderen interessiert. Ob es diese Woche noch mehr Studiencontent gibt, kann ich noch nicht sagen — das wird zwischen den Semestern sowieso alles etwas weniger werden … Also, in medias res: Wovon reden wir eigentlich, wenn wir vom „Spielen“ reden?

Alles in einen Topf

Anlass ist wieder die Gendered Gaming-Ausstellung, die ich am Sonntag ein zweites Mal und zur Kuratorinnenführung besuchte. Vorher surfte ich ein bisschen (per Uni-VPN mit Vollzugang) auf Statista herum. Und dabei fiel mir auf, dass alles in einem Topf landet (s.a. die Statistik-Zusammenfassungen unten):

  • Eltern spielen Brettspiele mit ihren Kindern. („Eltern“ werden dabei übrigens als „Lebensphase Familie“ verstanden, die auf die Lebensphasen „Singles“ und „Paare“ quasi zwangsläufig folgen. Heteronormative Beziehungsrolltreppe, ick hör dir trappsen …)
  • Menschen spielen Handygames im Bus oder im Büro.
  • Gamer spielen 16 Stunden WoW am Tag. (Sorry, ich weiß nicht, was aktuell wirklich gespielt wird, an WoW erinnere ich mich halt noch.)
  • Kinder spielen
  • Eine bayerische Familie mit Kindern Anfang 20 spielt Schafkopf.
  • Großeltern kaufen Spielzeug als Geschenk. (Das ist natürlich kein „spielen“ im engen Sinne.)
  • Ich spiele mit meiner Frau die nächste Arkham-Horror-Kampagne.
  • Freunde zocken am Kellertisch DnD.
  • Jemand fährt auf ein Magic-Turnier, um sich für die Pro Tour zu qualifizieren. (Gibt’s die PT noch?)
  • Vier Freundinnen befreien sich aus einem Escape-Room.
  • Jemand verdient den Lebensunterhalt durch Online-Poker.
  • Auf einer Geburtstagsfeier wird „Die Siedler von Catan“ gespielt.

Spielen und Märkte

Es gibt also eine ganze Reihe von „Märkten“: Geschenke, Kinderunterhaltung, Erwachsenenunterhaltung, Unterhaltung mit Freunden, kompetitive Märkte, App-Märkte, Spielwarenmärkte etc. Die durchdringen sich gegenseitig, haben aber ggf. sehr wenig miteinander zu tun. (Auch in den älteren Generation wird zwar vermehrt auf Smartphones gezockt, aber die Überschneidung von „Großeltern spielen Schafkopf“ und „16 Stunden WoW“ dürfte gering sein.) N.B.: Damit sind wir noch nicht bei „allgemeinen“ Spielbegriffen wie bei Huizinga angelangt, sondern befinden uns nach wie vor im kommodifizierten Konsum-Bereich „Spielen“ in der Freizeitsphäre. Wir haben auch noch nicht zwischen „Play“ und „Game“ unterschieden.

Dass es so viel um Konsum geht, liegt a) an der Konstitution kapitalistischer Gesellschaften und b) daran, dass Sozialempirie halt meistens Marktforschung ist, professionelle Beobachter also vor allem diesen Bereich beobachten; ein Bias, den man im Kopf behalten sollte.

Auch die bewusste Nürnberger Ausstellung vermengt vom Kinderspiel mit Puppen bis zur spezifischen Ästhetik von Dungeons-and-Dragons-„Expertyspiel“-Games alles mögliche. Und wenn das alles im selben Topf landet, ist es kein Wunder, dass quasi „jede und jeder spielt“. Man braucht ein bisschen mehr Präzision. Wie? Erste Intuition: Wir gucken auf …

… funktionale Äquivalente

Spielen basiert in vermutlich nahezu jeder Definition auf einer Idee von Freiheit. Spielen ist ein Gegenteil von Zwang, oder anders: Dass man spielt ist weder notwendig so noch unmöglich. Also sind wir in einem Bereich der Kontingenz. Und das heißt, wir können uns funktionale Äquivalente angucken. Wer spielt, könnte stattdessen auch anderes tun, um … ja: Wozu spielen wir eigentlich?

Ich wage mal die These: Jeweils geht es um das Füllen von Zeit, meistens von Freizeit. Damit müssen wir noch nicht unterstellen, dass es immer um Langeweile, also das Leiden an unstrukturierter Zeit geht (auch wenn Spielen sicherlich eine der besten Anti-Langeweile-Strategien ist und das für die Konsumförderung auch ausgenutzt wird).

Was also sind funktionale Äquivalente, durch die man in den obigen Beispielen „Spielen“ ersetzen könnte? Mir fallen ein …

  • andere Geschenke (Bücher, Strickzeug)
  • andere Unterhaltung im Bus (Bücher, Stricken)
  • Arbeiten oder Kaffeetrinken (im Büro)
  • Reden (auf einer Party)
  • Krypto-Zocken (statt Online-Poker)
  • Kinder basteln (statt ein Spiel zu spielen)
  • einen Ausflug machen (statt mit den Kindern Brettspiele spielen)
  • in der Mall abhängen (statt WoW zocken)
  • Netflix bingen (statt WoW zocken)
  • Fernsehen oder ein Buch vorlesen (statt die nächste Arkham-Horror-Kampagne spielen)
  • … und last but not least andere Spiele (PC-Games statt P&P-Rollenspiel, Brettspiele statt Escape Room)

Sieht man vom Online-Poker und vielleicht auch der Magic-Pro-Tour ab, geht es hier jedenfalls nahezu immer um Unterhaltung. Soweit, so trivial. Aber wie lässt sich das unterteilen?

Kategorien der Anschauung

Spielen ist (wie reden, lesen und fernsehen) vermutlich eine Kommunikations-Form. Formen beruhen ja immer auf wiederholten Unterscheidungen (die Theorie erspare ich euch, geht den Gedanken mal kurz mit). Welche Unterscheidungen kommen hier zum Tragen? Ich würde sagen:

  • Spielt man zusammen/allein?
  • Geht es um das Bekämpfen von Langeweile/das Befriedigen einer Neugier?
  • Geht es um das Bekämpfen von Langeweile/die Verbesserung von Skills?
  • Ist es produktiv-kreativ/passiv-komsumtiv?
  • Ist das Spielen Selbstzweck/nutzenorientiert?

Diese Unterscheidungen müssen nicht immer trennscharf sein, es gibt komsumtive Kreativität und vielleicht ist Neugier oft eine Folge von Langeweile (Emotionen!). „Selbstzweck“ ist schwierig: Was ist, wenn man spielt, weil die andern spielen? Oder um sich in einer Gruppe zu behaupten?

Gemeinsames

Es muss nun zwischen den Formen auch Gemeinsamkeiten geben, schließlich hätten wir sonst nicht diesen gemeinsamen Begriff und könnten sagen, dass „mehr gespielt“ wird als früher. Zwei Gemeinsamkeiten hatten wir schon:

  • Es geht um Freiheit/Freiwilligkeit.
  • Es geht sehr häufig um Konsum.

Zusätzlich würde ich festhalten:

  • Es gibt eine soziale Bewertung der Kommunikationsform „Spielen“, und die hat sich gewandelt.

Auch bei Erwachsenen ist Spielen in der kulturellen Semantik nicht mehr negativ besetzt, sondern im Gegenteil positiv: als Selbstausdruck, als Ausdruck von „Lockersein“ etc. Das mag an der Kommodifizierung und entsprechenden Anreizen der Industrie liegen, das Spielen zu befördern, oder an unserem Authentizitäts- und Emotionalitätsregime oder der Gesellschaft der Singularitäten, die freie Vergemeinschaftungsmodi braucht, oder, oder, oder — auf jeden Fall ist es so.

Darüber dürfen wir nicht vergessen, dass es weiterhin Unterschiede gibt, etwa zwischen den Generationen oder auch vergeschlechtlichte Unterschiede; Spielen hat also z.B. mit „doing gender“ und „doing ageing“ usw. zu tun, insbesondere, wenn man beginnt, zwischen verschiedenen Sub-Formen von Spielen zu unterscheiden.

Offene Fragen

Was mir so an weiteren Fragen einfällt:

  • Nähern sich analoge Spiele und Games an? (Arkham Horror ist so komplex, das wäre früher eher ein Computerspiel gewesen, und manchmal wünsche ich mir eine algorithmische Unterstützung, um nichts zu übersehen.) Und falls ja: Gibt es auch eine Gegentendenz, z.B. in der Ästhetik?
  • RPGs sind sowohl digital als auch analog prädestiniert für Untersuchungen zu Geschlechterrollen. (Nach Caillois sind das ja „Mimikry“-Spiele mit kleinem Alea-Anteil, siehe „Man Play and Games“.) Aber steht das im Widerspruch zu ihrer Verbreitung (gerade im analogen Bereich)? Kann es, wenn schon nicht zu repräsentativen, zumindest zu exemplarischen Erkenntnissen führen (gerade für eine Tendenz zu weniger Heteronormativität)?
  • Wie geht man mit dem Problem um, dass man durch Forschung zu Genderfragen diese gleichsam a) dokumentiert, b) reproduziert und c) kritisiert, und keine Funktion ohne die anderen haben kann?
  • Ist „Casual“ selber eine problematisch Kategorie, weil abwertend und tendenziell vergeschlechtlicht? (Siehe auch meine eigenen Vorurteile unten.)

6 Gedanken zu „Was heißt eigentlich „Spiel“ und „Spielen“?“

  1. Spannende Ausführungen, macht auf jeden Fall Spaß deinen Beitrag zu lesen. Ich muss mir den nochmal in Ruhe und mit etwas mehr Zeit ansehen.

    Deine Fragen finde ich sehr spannend.

    Zwei Aspekte sehe ich immer bei dem Begriff Spielen:
    -die soziale Komponente, ein Spiel ist auch einen soziale Interaktion und Kommunikation mit anderen Menschen (Ausnahme Solo-Games)
    -eine Herausforderung/Aufgabe, die es gilt zu bewältigen, die sich jedoch nicht wie Arbeit anfühlt/ anfühlen sollte (letzteres kann jedoch bei Spielesucht auftreten); damit zusammenhängend auch das Ziel der Belohnung/ Belohnungsgefühl als Faktor
    Gerade zweiter Punkt taucht in anderen Bereichen als Stichwort Gamification auf.

    Soweit meine lösen Gedanken fürs Erste.

    Antworten
    • Danke für deinen Input . Ich stimme beidem voll zu! Ich würde Spielen sogar als „Kommunikationsform“ bezeichnen – und Solo-Spiele sind dann Kommunikationen von Abwesenden (die Rätsel stellen oder eine Geschichte erzählen etc.)

      Antworten

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