WS24/W07: Konsumpflicht, Falschgeld und Covid

Da die Macht von den verschwendenden (= verausgabenden, Anm. DS) Klassen ausgeübt wird, ist, damit diese Vorrangigkeit erhalten bleibt, das Elend von jeder gesellschaftlichen Tätigkeit ausgeschlossen worden, und die Elenden haben keine andere Möglichkeit, in den Kreis der Macht zurückzukehren, als die revolutionäre Vernichtung der Klassen, die sie besitzen, das heißt: eine blutige und grenzenlose Verausgabung.
(Bataille, „Die Aufhebung der Ökonomie“, S. 16, H. v. DS)

Letzte Woche war ausgesprochen voll zwischen Projekten, einem weiteren digital-danach-Vortrag, Geburtstagen und regulärer Uni. Die Vorstellung meines MA-Themas im Kolloquium entfiel (warn-)streikbedingt und findet nächste Woche statt. Und dann wurde ich durch Covid zwangsentschleunigt. Jawohl: Nach dreieinhalb Jahren habe ich es auch geschafft, mich anzustecken, keine Ahnung, wo. Bislang eher mild. Laut RKI-Grippeweb liegen die Inzidenzen für allerlei Atemwegiges gerade aber auch sehr hoch. Naja.

Der Infektion fielen mehrere Parties und ein Rollenspielabend zum Opfer. Kein schönes Timing.

Für ein Projekt (danke, Sabrina!) darf ich mich gerade auch mit Kryptographie und PGP befassen und habe erstaunt festgestellt, dass Thunderbird gar kein Enigmail mehr braucht. Ich korrespondiere so wenig „Relevantes“ per Mail, dass ich schon lange keinen Bedarf mehr an PGP-Mails hatte … So richtig komfortabel ist verschlüsseltes Mailen natürlich immer noch nicht. Ich vermute, das wird auch einfach nichts mehr — und so bleibt man doch lieber bei Signal und Co.

Discounter, Mittelstadtrauschen und Trivialisierung

In other news: Es gibt eine neue „Die Discounter“-Staffel. Die ist nicht so gut wie die zweite und bei weitem nicht so gut wie die erste, aber immer noch recht unterhaltsam. Außerdem bot Covid nun viel Zeit für Lektüre: Sabine und ich lasen „Mittelstadtrauschen“ von Margarita Kinstner, ein Portrait des alltäglichen (Un-)Glücks in der „Mittelstadt“ Wien — anhand einer um- und abwegigen Vernetzung zahlloser Personen. Kurzweilig und lesenswert.

Und ein älteres Fundstück habe ich noch: Einen Aufsatz über die „unvermeidliche Trivialisierung“ systemtheoretischer Begriffe und „Modelle“ in der beratenden Praxis. Vermutlich liegt ein Teil der Attraktivität, also Anschlussfähigkeit, darin, bestimmte Theoriebegriffe dann doch nicht theorieintern klar definiert zu gebrauchen, sondern in einem schwammigen Alltags-Sinn — und dann kann man alles damit erzählen und begründen.

Verkehr: Bundesrat gegen Bürger

Pünktliche Züge gibt es quasi nicht mehr. Immerhin ist nichts entgleist, im Gegensatz zu München und München. (Was ist da los bei denen?) Es ist auch kein Telekom-Sendemast auf die Gleise gepurzelt wie zwischen Hamburg und Hannover. Die Verspätungen sind eher natürliche Latenz. Und nun kommt wohl auch ein weiterer GDL-Streik. Hm. Naja, diese Woche hüte ich eh erstmal das Bett.

Ansonsten und in größerem Rahmen geht auch alles recht stockend: Es ist offenbar nicht möglich, Gesetze in Richtung „Alternativen zum Individual-PKW“ zu erlassen, wie der Bundesrat gerade vorführte. Um das mal zu paraphrasieren: Die Bundesländer (unionsparteien) haben dagegen gestimmt, dass Gemeinden die Gesundheit und Sicherheit ihrer Bürgys auch nur berücksichtigen dürfen. Allmählich fällt mir auch nur noch Auswandern oder Revolution ein …

Konsumpflicht

Im 17 und 18. Jahrhundert war es die Pflicht der Untertanen, für die Gesundheit des Souveräns zu beten und den richtigen Glauben zu haben. Im 19. Jahrhundert war es Pflicht der Untertanen, gehorsam zu sein und alle Gesetze zu befolgen. Im 20. Jahrhundert wiederum ist die Pflicht der Untertanen, gute Demokraten zu sein, also wählen zu gehen und sich zu engagieren. Aber seit den 1950er-Jahren ist auch ein Teil unserer Pflichten, Dinge zu kaufen und die Wirtschaft in Schwung zu halten. Man soll also ein braver Staatsbürger sein, das Klima schonen, aber auch ordentlich konsumieren. Und das ist natürlich eine paradoxe Anrufung – man wird diese Pflichten nie vollständig erfüllen können.

Das sagt Historiker Valentin Groebner im Tagesschau-Interview. Der ganze Text ist lesenswert. Und man kann ja als frugaler Teilzeit-Arbeitnehmer auch einfach mal den ganzen Leuten dankbar sein, die stumpf vor sich hin konsumieren und „die Wirtschaft am laufen halten“. (Aber wenig ist so emotional-moralisch aufgeladen wie das Verhalten anderer Leute zur wirtschaftlichen Bedüfnisbefriedigung, gell?)

Horror und Symbiosen

Und wenn wir schon bei Systemen (Wirtschaft), Medien (Geld), Symbiosen (Bedürfnisse) und Gefühlen sind: Ich habe am langen Covid-Wochenende zwei Horror-Features des Deutschlandfunkkultur gehört (Das Grauen der fantastischen Literatur, eine Stunde, und Die prickelnde Angst vor dem Unerklärlichen, zweeinhalb Stunden). Und dabei kam mir eine Idee: Hängt der moderne Grusel oft daran, dass wir im Horror dabei zusehen, wie menschliche und übermenschliche Monster sich eher auf Ebene der Symbiosen als der Medien „selbstbefriedigen“ (vgl. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft I, S. 381f)?

Der Vampir hebt auf die Sexualität ab, nicht auf die Liebe, und kommt dabei auch noch den Resten ständischer Ordnung in die Quere; der Zombie frisst direkt, ohne den Umweg übers Geld, und dabei auch noch (andere) Menschen; der wahnsinnige Wissenschaftler umgeht sowohl das Medium der anerkannten Wahrheit als auch dessen Zweitcodierung, akademisches Renommee, und verlässt sich auf seine gestörte Wahrnehmung; das Gespenst hintergeht den Tod als letzte Symbiose des Religionssystems.

Uni

Was? Uni? Ach ja. Per Zoom kam es zur letzten Referatsbesprechung für die nächstwöchige Fußball-Sitzung. Und ich habe alles zusammengesucht, was ich für die Anmeldung meiner Master-Arbeit brauchen werde.

Ansonsten sichte ich, sofern das Hirn virenvernebelt mitspielt, fleißig vor allem Sprachtheoretisches. Das Schöne ist, dass ich eine lange, spannende Literaturliste habe, die ich auch im stillen Kämmerlein der heimischen Abgeschiedenheit durchforsten kann.

S&G: Butler, Performativität

Das habe ich leider verpasst.

Nächste Woche geht es dann um das Thema „Sprache und soziale Herkunft“: Basil Bernstein mit der bekannten Unterscheidung elaborierter/restringierter Code, und deren Reproduktion. Die läuft auch über Familienstrukturen: In der Unterschicht entlang der Achsen „Vater als Gegenspieler der Mutter-Kinder-Gruppe“, „desinteressierter Vater“, „Mutter desinteressiert an der kognitiven Vermittlung und Bewältigung von Aufgaben“, „Mutter als normengeleitet und autoritätshörig“. Ich glaube aber nicht, dass diese Reproduktion noch so „fest gekoppelt“ verläuft wie früher (falls sie denn je so fest waren); auch diese Codes sind vermutlich auf mehrere Weisen durchlässiger geworden.

Fußball: Resonanz

Das habe ich leider verpasst. Aber das Referat ist quasi fertig: Welche Rolle spiel(t)en Medien bei der Globalisierung des Fußballs?

K&Ü: Derridas „Falschgeld“ und Baudelaires „La fausse monnaie“

Das habe ich leider verpasst. Aber nächste Woche steht der zweite Teil von „Falschgeld“ auf dem Programm. Ich glaube, Derrida hat Mauss einfach absichtlich falsch verstanden, um eine Vorlesung über die Widersprüche zwischen seinem und Mauss‘ Verständnis der Gabe halten zu können. In den Rezensionen kam das Buch damals teils ganz gut (e.g.: taz) weg; teils ganz schlecht (e.g.: Walter Reese-Schäfer in Comparativ 3/93):

Der Textinterpret Derrida wirkt in diesen langen und hilflosen Passagen wie jemand, der mit aller Gewalt eine Pointe erklären will und sie durch immer neue Wendungen doch nur zu Tode reitet.

Schön ist aber die im Zentrum stehende Mikro-Geschichte Baudelaires: „Das falsche Geldstück“ (La fausse monnaie). (Sie scheint nirgends einfach online rumzustehen, kann aber z. B. durch Googlen nach dem Eingangssatz „Während wir uns von dem Tabakladen entfernten, begann mein Freund“ gefunden werden.) Offenbar auch dank Derrida ist dieses „Prosagedicht“ recht breit rezipiert worden; eine kleine Exegese-Geschichte für ein kleines Gleichnis. Wem die Geschichte selbst zu kurz ist, kann sich hier mit ein paar Anmerkungen im Kontext der Derrida-Interpretation versorgen und bei Soziopolis mit Hintergründen, auch zu Geld als Thema der Literatur im 19. Jhd.:

Die Romane von Honoré de Balzac, Gustave Flaubert oder Émile Zola durchleuchten die Sprache des Geldes, die Technik des Pfandbriefes und den Aktienhandel; sie typisieren die Figur des Wucherers, des Spekulanten und Bankiers, sie erfassen aber auch das Komplement der Reichen, den Bettler und den Lumpensammler, den chiffonnier, in Paris. Den zeitgenössischen Leser schockierend und für den heutigen Leser faszinierend, drang der Stoff des Geldes unerbittlich in die Erzählplots der realistischen Literatur und in die Lyrik Baudelaires ein.

Und auch Baudelaires eigener, katastrophaler Umgang mit Geld wird thematisiert:

In ständiger Suche nach Geld, in der Obsession, angehäufte Schulden begleichen zu müssen, der Pein der Verfolgung durch Gläubiger ausgesetzt, wechselte Baudelaire in Paris ständig seine Wohnungen oder lebte unstet über lange Jahre in einem Hotel[.]

 


Beitragsbild: Selbsterklärend.

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