Grundideen der soziologischen Systemtheorie

Mit der Systemtheorie geht es mir wie mit konkreter Kunst: Alles ist schön geordnet, logisch, konstruiert,
aber in den Details ahnt man, dass da Sprengkraft steckt.

(Sabine L. aus N.)

Da ich dazu immer wieder gefragt werde, dachte ich mir, ich schreibe es mal als Artikel auf. (Eigentlich habe ich nur verschiedene Versatzstücke aus Chatverläufen zusammenkopiert, mea culpa.)

Was folgt ist ein kurzer, allgemeiner Abriss der Grundideen der soziologischen Systemtheorie nach Luhmann aus meiner persönlichen Warte. D.h., im systemtheoretischen Jargon: Es ist kontingent-selektiv; es ist eine Auswahl eines Beobachters (nämlich meine), und diese Auswahl könnte auch völlig anders aussehen.

Aber in medias res:

Was sind die Grundideen einer systemtheoretischen Perspektive auf Gesellschaft?

  • „Das Soziale“ („Gesellschaft“) ist nicht aus Biologie oder Psyche erklärbar, sondern emergent.
    • Daher funktioniert es nach eigenen „Regeln“, denen der Kommunikation.
  • Das scheinbar Wahrscheinliche ist eigentlich unwahrscheinlich, daher erklärungsbedürftig und interessant.
    • Kommunikation ist an sich unwahrscheinlich; ihre allgegenwärtige Verbreitung muss daher erklärt werden.
  • Kommunikation stabilisiert sich (d.h.: macht weitere Kommunikationsanschlüsse wahrscheinlich) durch Struktur und Semantik.
    • Die berühmten „sozialen Systeme“ fallen in den Strukturbereich: Zur Sicherstellung dauerhafter Anschlüsse bilden sich (!) abgeschlossene Systeme mit spezifischen Funktionsweisen heraus (heute etwa: Interaktionen, Liebesbeziehungen, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Organisationen, …).
    • Diese Struktur ist stetem Wandel unterworfen (Stichwort: Differenzierung).
    • Im Semantikbereich setzen sich bestimmte Selbst- und Fremddeutungen (Beobachtungen) im Laufe der Zeit durch; andere (die meisten) nicht. Jede Stabilisierung ist erklärungsbedürftig.
    • Struktur und Semantik bedingen sich gegenseitig: Sie ko-evolvieren.
  • Generell ist die ganze Theorie als Evolutionstheorie zu verorten, aber nicht biologistisch (siehe „emergent“ oben).
  • Die soziologische Systemtheorie
    • … ist keine der Gesellschaft externe Beobachtungsweise, sondern eine interne: Sie ist auch ihr eigener Gegenstand. (Etwa als ein Programm eines Funktionssystems, nämlich der Wissenschaft.)
    • … dient in Bezug auf alle ihre Gegenstände auch immer als Verfremdungsbrille.

Was kommt sonst noch vor?

Wie man sieht: Es geht in den Grundlagen m.E. gar nicht so sehr um „Systeme“ und deren „Autopoiesis“, um „Code“ und „Programme“. Das sind eher die catchy Schlussfolgerungen. D.h. aber auch, dass eine Menge in dieser Liste fehlt, was Gesellschaft zu erklären erlaubt. Hier nur als Stichpunkte:

  • doppelte Kontingenz — Ich weiß, dass du weißt, dass wir nicht wissen können, was die/der je andere denkt. Das Grundproblem, dessen Lösung die Emergenz sozialer Systeme erzwingt.
  • Komplexität: das Soziale ist komplex, weil es immer Möglichkeiten mitführt, die nicht realisiert werden, und das die Grundlage aller selektiven (Selbst- und Fremd-) Beobachtungen ist
  • Funktion — wenn etwas erklärungsbedürftig ist, klopft man es am besten auf seine Funktion hin ab.
  • operative Schließung, kognitive Offenheit („Autopoiesis“ und „Resonanz“/“Interpenetration“/“strukturelle Kopplung“)
  • Selektion, Selektvität
  • Kommunikation = Synthese aus Information/Mitteilung/Verstehen
  • Form/Medium (siehe hier)
  • bestimmte Medien (Sprache, Schrift, Erfolgsmedien) als Antworten auf das Problem der Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation
  • Code/Programm
  • Beobachtung = Unterscheidung/Bezeichnung, u.a. als Selbst- und Fremdbeobachtung und als Beobachtung erster und zweiter (und höherer) Ordnung

Lektüren

Wer jetzt noch nicht abgeschreckt ist, kann hier weiterlesen:

  • Baraldi/Corsi/Esposito: „GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme“ bzw. „Unlocking Luhmann“. Das Buch bietet ein Glossar sowie verschiedene Vorschläge für Lektürepfade durchs Buch.
  • Nassehi: „Wie weiter mit Niklas Luhmann?“. Knappe 50 Seiten für schmales Geld.
  • Luhmann: „Einführung in die Systemtheorie“.

Das von mir sehr geschätzte, leider vergriffene „Luhmann-Lexikon“ von Detlef Krause empfehle ich an dieser Stelle noch nicht. Das ist m.E. für einen Einstieg zu kompliziert, auch wenn ich es prinzipiell das bessere Glossar finde als Esposito et. al. und es mit einem knackigen Einführungskapitel kommt.


Beitragsbild: Stable Diffusion, cubist, „Niklas Luhmann sitting by his Zettelkasten“

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