Bürokratien, veraltete Systeme und Entfremdung (Rant)

Du erwartest ein stressfreies Studium? Ich glaube, das ist romantische Verklärung und viel Verdrängung. Studieren war schon immer Stress. Nicht wegen Seminaren und Klausuren, sondern wegen dem ständigen Hinterherrennen nach Noten oder sonstigen Eintragungen in irgendwelche veralteten, schlecht verwalteten Systeme. (Eine Kollegin)

Die ersten Hürden auf dem Weg zum Studium habe ich ja schon dokumentiert: schlechte Bewerbungsportale. Natürlich ging es genau so weiter: Merkwürdige und widersprüchliche Immatrikulationshinweise; Fristen, die über 2 Systeme und verschiedene Dokumente verstreut nachzusehen sind; Vorlesungsverzeichnisse, die nicht aktuell sind, weil das alte System nicht mehr genutzt werden soll, das neue aber leider doch noch nicht funktioniert; usw.

Mein persönlicher Höhepunkt war, dass ich in einem Formular der FAU, an der ich Buchwissenschaft studiert habe, meine Studienlaufbahn dokumentieren sollte. Unter den wählbaren Studiengängen waren zwar „Edelsteindesign“, „Bundeswehrverwaltung“ und „Wehrtechnik“, nicht aber Buchwissenschaft.

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Per aspera …

Aber selbst, wenn die Systeme technisch gesehen soliden Dienst tun, ist der Weg zur Immatrikulation ein steiniger. Alleine, was man da alles braucht:

  • Beglaubigte Kopien von Abi- und Uni-Abschluss – sogar für die Immatrikulation an der Uni, wo man den Abschluss erworben hat, und sogar, wenn der Hochschulabschluss ohne Abi gar nicht möglich gewesen wäre
  • Zusätzlich eine Exmatrikulationsbescheinigung (von der ich nicht wusste, dass ich sie habe; sie lag in einem anderen Objekt, von dem ich nicht wusste, dass ich es habe, einem sogenannten „Studienbuch“)
  • Eine elektronisch von der Krankenkasse an die Uni zu übermittelnde Versicherungs-Statusmeldung „M10“ (Das downloadbare Formular der Krankenkasse für diesen Zweck genügt nicht)
  • Zahllose lange Formulare, teilweise vorausgefüllt mit den Daten der Bewerbung, teils nicht
  • Kopien vom Perso
  • Eine Kopie des Zulassungsbescheids, den einem besagte Uni gerade zugemailt oder zugeschickt hat
  • Und und und

Ich kann mir vorstellen, dass an dieser Stelle einige Menschen aufgeben und doch einfach arbeiten gehen. Job suchen, finden, antreten und machen geht deutlich unbürokratischer. Aber ich wollte ja mal wieder eine Herausforderung 🙂

Warum ist das so?

Bei einigen Dingen verstehe ich, dass sie formalisiert erhoben werden; bei anderen scheint es mir eine Mischung aus „das war immer so“ und „das ist der erste Intelligenz- und Engagement-Test vor dem Studium“. Quasi: Verkrustete Strukturen treffen auf kaputte Technik und eine klare Machtstruktur, in der man den Bewerbenden vorgeben kann, was sie zu tun haben. Hier kann man aussieben, exkludieren und natürlich auch symbolische Macht ausüben.

Ich kann mir auch vorstellen, dass es bei anderen Studiengängen als soziologischen durchaus sinnvoll ist, doppelt und dreifach abzusichern, dass dort nur reinkommt, wer reingehört; sagen wir: Juristerei und Medizin. Andererseits ist es wie so oft mit Sicherheitsvorkehrungen: Sie bestrafen eigentlich nur die ehrlichen, denn Kriminelle kommen eh rein. Aber immerhin können die Verantwortlichen sagen, dass sie alles getan haben. Das ist quasi das Virenscanner-Schlangenöl der Bürokratie.

Nicht zuletzt sollten wir auch an Pierre Bourdieu denken. Man erwirbt im Zuge eines Studiums ja kulturelles Kapital, und am Ende vor allem symbolisches: einen Titel oder Grad. Und solches Kapital will beschützt werden. Zumal man dann unter Akademikerinnen auf alle Ewigkeit mit Lamenti über Hochschulstrukturen anschlussfähig ist.

Side note: Wohnungssuche

„Hi, ich ziehe demnächst für mein Studium von Berlin nach Jena. Ich dachte verglichen zu Berlin wird das bestimmt total easy…da lag ich wohl falsch 😱. Wäre es sinnvoller bis zb Januar zu warten und dann was zu suchen oder macht das nicht so einen großen Unterschied? Danke für Eure Tipps und Kommentare 🧐“

„Ja, im Januar könnt’s ein bisschen besser aussehen als jetzt zum Semesterbeginn. Dennoch sind Wohnung hier momentan absolute Mangelware und man muss echt Glück haben oder jemanden kennen.“

Eine Konversation in /r/jena

Ich fühle mich ein bisschen in die Zeiten vor genau 10 Jahren zurückversetzt, als ich binnen 2 Wochen eine Bleibe in München finden musste – für ein Volontariat mit etwa 1000 Euro Bruttolohn. Es lief dann aber schnell auf eine sehr nette 2er-WG in Pasing hinaus – nach einer einzigen Besichtigung.

So viel Glück ist mir diesmal nicht beschieden. Seit Anfang August klappern wir eBay Kleinanzeigen, wg-gesucht.de, Immowelt, Immoscout und Co. ab. Allerdings eher ohne Erfolg, denn unabhängig davon, wie schnell man anfragt, kriegt man meistens keine Antwort; mit Glück ein „Ist erstmal reserviert“ (was man dann gedanklich mit „… für jemand anderen“ ergänzen darf). Besichtigungstermine (remote? Fehlanzeige) sind keine Vereinbarungssache, sondern diktierte Vorschläge, was die Suche aus der Ferne natürlich sehr erschwert.

Das ist alles nicht katastrophal. Wie schon im ersten Artikel zum Thema erwähnt, wäre auch Plan B Erlangen inzwischen vollkommen okay für mich (und hat definitiv seine eigenen Vorteile, nicht nur Zeit-, Mühe- und Geldersparnis). Aber wenn man verzweifelt in diesem Spiel mitspielen muss, dürfte das sehr frustrierend sein.

Mieterplus und kompetitive Spiele

Randnotiz in der Randnotiz: Immoscout hat ein Angebot mit dem Namen „MieterPlus“, wo man Geld dafür bezahlen soll, „exklusive Anzeigen“ zu sehen, eine „Bewerbermappe“ zu erstellen und im (Immoscout-) Postfach von Vermietenden ganz oben zu landen. Dazu kriegt man eine „Mieterengel“-Clubmitgliedschaft und irgendwas mit einem Schlüsseldient „gratis“. Kostenpunkt: ca. 60 Euro für zwei, ca. 120 Euro für sechs oder ca. 156 Euro für zwölf Monate. Als ebenfalls Vermietendes kann ich das Prinzip, durch das Erfolgsmedium Geld den Zugang zu Angeboten zu steuern, grundsätzlich nachvollziehen, aber alleine der Claim „Mit der MieterPlus-Mitgliedschaft der Konkurrenz immer einen Schritt voraus!“ stößt mich ab.

Vielleicht muss man etwas kompetitiver eingestellt sein als ich, aber mir persönlich macht harter Wettbewerb einfach keinen Spaß. Ich glaube gar nicht, dass das daran liegt, dass ich schlecht im Mietwohnungs-Game bin (ordentlicher track record in München und Köln). Aber ich stelle mir unter „Spaß“ etwas anderes vor, als es „der Konkurrenz gezeigt“ zu haben (zumal durch den Einsatz schnöden Mammons). Ich spiele ja inzwischen auch lieber Arkham Horror als Magic. Nicht, dass es mir bei AH nicht auch ums Gewinnen und ums „gute Leistung bringen“ geht; ein gutes (d.h. vor allem auch mächtiges) Deck macht mehr Spaß als ein random pile of cards. Aber mir gefallen Situationen mit (von mir aus Markt-) Kooperation deutlich besser als mit reinem Konkurrenzdenken.

Bin ich das einfach nicht mehr gewohnt?

Ich lebe allgemein ein recht komfortables Leben – ich habe genug „fuck you“-Money, also Geld, das mich zumindest temporär vom Zwang befreien kann, nach jemandes Pfeife zu tanzen, wenn mir das zu weit geht. Daher bin ich es eigentlich nicht mehr gewohnt, mich von Systemen in die Verzweiflung gängeln zu lassen.

Es gibt wenige Dinge, die ich so dringend will oder brauche, dass ich bereit bin, dafür große Mengen Ungemach auf mich zu nehmen. (Und alleine der Zwang zur Abgabe macht die Steuererklärung jedes Jahr zu einem höchstens masochistischen Vergnügen.) Dieser Studienplan gehört definitiv zu den Dingen, die mich a) immer wieder den Kopf schütteln lassen („Das ist echt noch das gleiche schlechte System wie 2007!?“) und b) mir einiges an Ungemach verursacht, aber als Experiment ist es auch ausgesprochen spannend.

Im außerbürokratischen Alltag ist ja so gut wie alles irgendwie kommunikativ und komfortabel zu lösen. Wenn ich partout mit niemandem telefonieren will, geht fast alle Korrespondenz auch per Mail. Wenn etwas jetzt nicht geht, geht es halt später, wenn die Zeit reif ist. Im Extremfall: Wenn es mir nicht mehr gefällt, suche ich mir was neues.

Das heißt auch: Ich bin verwöhnt … und vielleicht dient sowohl ein Studium (man beachte die Etymologie!) im Allgemeinen als auch mein Studienplan dazu, Frustrationstoleranz zu schulen. Das ist jedenfalls jetzt schon eine interessante Erfahrung (wenn auch keine immer so angenehme, siehe nächster Abschnitt).

Was ist die Folge?

Letztlich ist das hier also schon der erste empirische Studieninhalt, denn mein anhaltendes Interesse an der Soziologie ist ja vor allem darin begründet, dass mich die Frage nicht loslässt, wieso Kollektive Dinge so schlecht lösen – und welche Konsequenzen das im Hinblick auf „das gute Leben“ hat.

Eine kleine Entfremdung

Ich habe mich oben an einer Einordnung versucht, *warum* die Dinge so sind, wie sie sind – also nach der Feststellung, was der Fall ist, herauszukriegen, was dahinter steckt (um nochmal Luhmann zu zitieren). Da darf man natürlich nicht stehen bleiben, zumal, wenn man im Geiste der kritischen Theorie studieren will. Denn klar ist auch, dass die Dinge, die der Fall sind, a) Auswirkungen haben und b) kontingent sind; also zwar mit Grund so sind, wie sie sind, aber auch anders sein könnten.

Was also sind die Auswirkungen der merkwürdigen Hürden auf dem Weg zum Studium? Zunächst mal das Gefühl, einem partiell blinden und dummen, abstrakten System ausgeliefert zu sein. Weder auf dem Wohnungsmarkt noch in der Interaktion mit Formularen und Checklisten der Uni gibt es eine echte Kommunikation. (Im Fall der Uni kann man zumindest den Helpdesk-Mitarbeitenden in den Ohren liegen.) Oder resonanztheoretisch ausgedrückt: Diese Formulare haben mir nichts zu sagen, und sie hören mich nicht an; ich bin nicht wirksam (und werde schon gar nicht affiziert).

Die Folgen kann man unter dem schönen Begriff „Entfremdung“ ganz gut versammeln: Man fühlt sich fremd in diesem ganzen Prozess, der offenbar nicht für Menschen gemacht ist, sondern für Aktenzeichen.

Kritische Potenziale

Und wie ginge das nun besser, also: Was wäre ein dem „guten Leben“ adäquateres funktionales Äquivalent? In der Wohnungsfrage müsste man den Markt entspannen, also z. B. mehr Wohnraum schaffen – einerseits trivial und in einer Tallage wie in Jena schwer zu realisieren, aber andererseits auch nicht unmöglich. Im Zweifelsfall müsste man die Kapazitäten von Wohnheimen aufstocken, also Immobilien aus dem Privatbesitz in den öffentlichen Besitz überführen (da klingeln die Enteignungs-Warnglocken …). Oder man reduziert die Zahl der Nachfragenden – wahlweise durch weniger Studienplätze (woran der Uni in einem Wettbewerbsumfeld natürlich nicht gelegen sein kann), weniger Präsenz (nur 4 Blockseminare vor Ort pro Semester? Dann nehme ich ein Hotel) oder deutlich engere Anbindung umliegender Orte (U-Bahn nach Erfurt?).

Wie auch immer: Erst, wenn es wieder einen „Dialog auf Augenhöhe“ zwischen Mietinteressierten und Vermietenden gibt, also weniger Stress, kann das zu einem angenehmeren Erlebnis werden.

Für die Bürokratie bietet sich an: selbige abbauen. Es ist ja wirklich unverständlich, wieso man neben einem Studienabschluss, für den das Abi Voraussetzung war, noch das Abiturzeugnis in beglaubigter Kopie vorlegen soll. Den Studienabschluss könnte man auch einfach per Datenabgleich mit der Bachelor-Uni nachweisen – vollautomatisch. Der ganze Prozess könnte online laufen, und zum Studienstart unterschreibt man etwas in einem Büro, das sich dafür dann z. B. hochtrabend „Kanzlei“ nennen darf. Da kann man auch seinen Perso vorlegen. Mehr Arbeit als jetzt kann das fürs Uni-Personal auch nicht bedeuten – denn die leiden unter den Verhältnissen ja genauso.

Ich weiß, diese Lösungsansätze hinken der Kritik hinterher, aber das hier war ja auch ein Rant.


Alle Artikel zum Thema Sabbatical gibt’s hier.

Photo by the blowup on Unsplash

4 Gedanken zu „Bürokratien, veraltete Systeme und Entfremdung (Rant)“

  1. Traurig, aber analytisch gut von dir getroffen. Das alles erinnert ja auf eine erschreckende Weise an Kafka und seine absurden Machtapparate. Vielleicht löst eine existenzialistische Perspektive à la Camus wenigstens das Problem der Entfremdung für dich: Du musst den Stein rollen und rollen… aber es ist nunmal DEIN Stein. Grüße von einem mitfühlenden Kollegen

    Antworten
    • Ich denke, kritische Ansätze wie Orwell/Kafka/Foucaults Panoptikum werden halt nie als Warnung verstanden. Sondern als Anleitung.

      Ich werde mal bei Camus nachlesen, wie man mit sowas umgeht. „Der Fremde“ geht doch gut aus, oder …? Oder?

      Antworten

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