SS23/W06: Schule, Geschlecht, Verhütung und Vermögen

Was die Thulb nicht hat, das kann man prima rippen/was die Thulb nicht führt, das findet sich auf LibGen
(anonymer Poet des 21. Jhds.)

Zwei fun facts über die schule: a) schola kommt vom Begriff für Freizeit, σχολή. b) Es heißt bei Seneca nicht „Non scholae, sed vitae discimus“ sondern „Non vitae, sed scholae discimus“, also: Wir lernen für die Schule, nichts fürs Leben. q.e.d. Allerdings: Wenn man das weiß, hat man was fürs Leben gelernt … hm …

Nächste Woche werde ich nicht in Jena sein: Donnerstag ist Feiertag, Dienstag entfällt ein Seminar und das Seminar am Mittwoch wird remote durchgeführt. Daher verpasse ich nur „Eigenes Haus“ und die Emotionsgeschichte; schade, aber da ich in Nürnberg ein paar Termine habe, passt das recht gut. Und Bahnstreik ist ja auch noch … (Übrigens: Auf r/de, der repräsentativen Quelle zu Deutschland, ist man generell eher Pro-Streik und gewerkschaftsfreundlich eingestellt.)

Ölkäfer, die zweite

Der Ölkäfer (wir berichteten) geistert durch die Medien (danke an Emmi für den Hinweis auf eine leider nicht online verfügbare NN-Glosse). Und danke an Katja für den Hinweis auf diesen ehrenrettenden Artikel. Highlights:

  • „Der Ölkäfer ist vor allem wegen seines äußerst komplizierten Lebenszyklus und seiner Fortpflanzung in Gefahr.“
  • Vergiftungen sind unwahrscheinlich: „Man müsste einige Käfer essen, was eher nicht zufällig passiert.“
  • „Im ägyptischen Papyrus Ebers (um 1550 v. Chr.) wird das wahrscheinlich älteste Ölkäferpflaster beschrieben.“
  • „In Honig zubereitet, gehörten die Tiere in früheren Jahrhunderten zu den bekanntesten ‚Liebestränken‘ zur Steigerung der sexuellen Potenz. [Nebenwirkungen:] Kopfschmerz, beschleunigter Puls, Atemnot, Schwindel oder Dauererektionen.“
  • Fazit: „Bewundern und in Ruhe lassen!“

Uni

Es trudeln gerade laufend E-Mails ein, dass „Gremienwahlen“ anstehen und noch Kandidatys gesucht werden. Ich habe das noch nicht ganz durchblickt, aber offenbar fehlen den StuRas (Study-Räten) Leute, die für einen der Sitze kandidieren. Laut dieser vorläufigen Statistik gibt es z.B. nur einen Vorschlag für sechs Sitze der Philfak. Ich habe ja die Vermutung, dafür gibt es einen Grund … im Akrützel liest man selten etwas Positives über den Stura, vermutlich ist das keine winning position …

Was lief diese Woche so? Einiges:

Eigenes Haus: Immobilienboom

Die dieswöchige Sitzung wurde vor allem mit einigen qualitativen Interviewschnipseln bestritten, aus denen wir diverse Formen „subjektiv gemeinten Sinns“ extrahierten. Insgesamt nicht überraschend: Menschen halten die Entscheidung für Wohneigentum für sinnvoll, auch wenn Lebensqualität oder Geldbeutel darunter leiden; kulturelles Kapital ist wichtig (technisches Kapital in Form von handwerklichen Fähigkeiten, aber auch Wissen um Förderungen und Formalien); aber soziales Kapital kann sowohl ökonomisches als auch technisches ersetzen.

Im Text ging es diese Woche um den Immobilienboom, bei dem Deutschland ja bekanntermaßen spät dran war. Wir diskutierten, wie sich die ungleiche Verteilung von Wohneigentum und der daraus folgenden Ungleichheit in den Profiten aus Boomzeiten vielleicht beheben ließe … leider konnten wir das Problem heute nicht mehr lösen.

Nächste Woche geht es (ohne mich) dann um die Frage, warum und wie sich Menschen in dörflichen/suburbanen/urbanen Gegenden ihren Lebensweg zur und mit Immobilie vorstellen – und woher dieser Geschmack kommt. (Spoiler: u.a. von den Eltern und aus der Kindheit.) Momentan besprechen wir übrigens meist Texte, die auf qualitativen Befragungen recht homogener Gruppen beruhen; ich finde das etwas eingeengt, weil man bei der Befragung von Bausparenden natürlich keine Stimmen hören wird, die Mietswohnungen besser finden …

Und in zwei Wochen darf ich mein Thesenpapier vorstellen – mehr dazu dann auf diesem Kanal.

Emotionsgeschichte: Rechtsgefühl

Etwas merkwürdig war die Referatsatmosphäre. Auf der einen Seite war es kein klassisches Referat, es dauerte nämlich die ganze Sitzung; gleichzeitig war es auch keine klassische Stundengestaltung, weil (auch) die Professorin (mit)moderierte. Es war ein – auch affektiv ungewohntes – Zwischending, aber nicht unangenehm, weil die Seminardiskussion eigentlich immer recht lebendig funktioniert. Zu den Inhalten:

Im ersten Text ging es um Völkerrecht und Gefühle. Staaten werden als Rechtssubjekte gedacht, die beleidigt werden können (bis heute, siehe §90ff StGB), analog zu natürlichen Personen – und etwa im Gegensatz zu juristischen, die höchstens zivilrechtlich gegen Wettbewerbsschädigungen etc. vorgehen können. Dieses Rechtssubjekt kommt als Fortführung der Person des Monarchen zu Stande … und wird zu unterschiedlichen Zeiten für die Gefühlsdiskussion um Werte und die Wertediskussion um Gefühle in Anspruch genommen. (Genau, gleich zwei schwammige Konzepte, deren Schwammigkeit ein Feature und kein Bug ist!)

Der zweite Text: Die juristische Bourgeoisie diskutierte zur Jahrhundertwende das Konzept des „Rechtsgefühls“, eines kultivierten Gefühls, das wahlweise das Recht begründet oder ihm Ausdruck verleiht (in der Rolle des Richters). Relevant ist, dass die emotionale Selbstkontrolle, das Management (und nicht das bloße Unterdrücken!) der eigenen Gefühle – wie bei Arlie Hochschild – zum emotionalen Kapital im Bürgertum wurde. Es handelt sich – wie bei der Ehre der Staaten – um eine Währung im sozialen Feld. Das müsste man sich mal mit Bourdieu angucken …

Ich konnte im Zuge der Seminardiskussion übrigens eine wichtige Frage klären: Die Autorin Sandra Schnädelbach ist nicht mit Herbert Schnädelbach verwandt.

Affektiver Kapitalismus: Privatisierung, Tertiärisierung

Noch 18 Leute, von ehemals über 40. Es ging um die Privatisierung der österreichischen Post aus Sicht der Beschäftigten – und um die Frage, wie sich Geschlechterverhältnisse in der Tertiärisierung fortschreiben. Fazit: Obwohl neue Handlungsspielräume für Frauen auch in führenden Positionen entstehen und traditionell „weibliche“ Eigenschaften (Empathie, Einfühlungsvermögen, eben affective labor) in der Dienstleistungsökonomie wichtig werden, entstehen (zumindest im Fall der österreichischen Post) wiederum hierarchische Verhältnisse. So wird einerseits das emotionale Kapital abgewertet (und Männer klagen über einen feminisierten Beruf). Andererseits entstehen neue interne Schichtungen, bei denen die spezialisierteren und prestigeträchtigeren Abteilungen wiederum männerdominiert sind, auch wenn sie nun partiell „weibliche“ Arbeit machen.

In zwei Wochen geht es dann um Gier bei Sighard Neckel.

E&G: Einkommen und Vermögen

Eine Doppelsitzung von 8–12 Uhr mit 5 respektive 7 Teilnehmys. Von 8–10 ging es um Einkommensverteilung innerhalb von Paaren, am Beispiel von „female bread winner“-Haushalten (FBW); von 10–12 dann um die paarinterne Vermögensverteilung. Zum FBW-Konzept ist zu sagen, dass es selten aus emanzipierten Selbstverständnissen rührt, sondern aus ökonomischer Notwendigkeit. Und dass sich selbst in Haushalten, wo die Frau den Löwinnenanteil des Einkommens erwirtschaftet, die Care-Arbeit zulasten der Frau verteilt. Warum? Offenbar u.a., weil es sehr stabile kulturelle Normen und Ideal-Lebenswege gibt, in denen ein „male bread winner“ die dominante Rolle spielt. Für Frauen scheint „Erfolg“ eher im Finden und Halten eines solchen Männchens zu bestehen, weshalb sie teilweise auch ihre eigene Arbeit abwerten („er kann das eh besser“) oder sich für Erwerbsarbeit durch zusätzliche Care-Arbeit „entschuldigen“. Weird, aber empirisch.

Die Vermögensdiskussion drehte sich dann v.a. um Fragen der Ehe, der Steuerklassen bzw. des Splittings, der Freibeträge, der alltäglichen Verfügung über Einkommen und Vermögen usw. Spannende Frage: Wie könnte man abseits heteronormativer Normalbiographien gemeinsames Wirtschaften ermöglichen – und welche Hürden gibt es? (Auch dieses Problem konnten wir nicht abschließend und für die Gesamtbevölkerung bindend lösen.)

So eine diskussionintensive Doppelstunde ist übrigens ganz schön anstrengend, aber die beiden Themen passten sehr gut zusammen und es blieb 3,5 Stunden lang spannend.

Ideengeschichte: Musik!

Es gab eine VL aus der Retorte über Korea und Japan. Empfehlung: Kurosawa-Filme OmU gucken. Vielleicht gönne ich mir mal die drei Stunden Kagemusha.

Ansonsten stehen diverse Lektüren zu China und Musik an: Der Dozent meinte auf meinen Essay-Vorschlag über Musik und konfuzianisches Denken hin, er sei schon gespannt wie eine Erhu.

LK: Verhütungsmittel!

Im Lektürekreis lesen wir Annie Ernaux‘ „Die Jahre“ hinsichtlich der Kategorie Geschlecht. Ich habe mich für eine Stelle zu Verhütungsmitteln entschieden (und meine Vorbereitung besteht quasi aus den folgenden Notizen, wodurch ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlage):

Das größte Verbot fiel, […] die Antibabypille wurde per Gesetz erlaubt. Man wagte nicht, den Arzt darum zu fragen […] Man ahnte, dass die Pille das Leben auf den Kopf stellen würde, man wäre nicht mehr hilflos ausgeliefert, man wäre frei, beängstigend frei, so frei wie ein Mann. (S. 94)

Ich habe versucht, das historisch zu bestimmen. Am wahrscheinlichsten bezieht sich das auf die Teilliberalisierung von Verhütungsmitteln 1967. Der Spiegel berichtete damals:

Die Pille wird zum Verkauf zugelassen, allerdings nur gegen ärztliches Rezept und nur in Apotheken.
Minderjährige unter 18 Jahren dürfen sie nur mit elterlicher Erlaubnis bekommen.
Pillen-Schwarzhandel wird mit Geldstrafen oder Gefängnis bis zu vier Jahren geahndet.

Das scheint aber nicht sofort auch prozessural funktioniert zu haben:

Allerdings wurde dieses Gesetz nur sehr langsam von der französischen Verwaltung implementiert, so dass es erst ab 1972 angewendet werden konnte. 1973 erlangten schließlich die ersten Pillen die authorisation de mise sur le marché und damit ihre offizielle Verkaufserlaubnis als Verhütungsmittel. [Lisa Malich, „Vom Mittel der Familienplanung zum differenzierenden Lifestyle-Präparat“]

Ernaux hat, auch in Ermangelung von Verhütung, 1964 bei einer „Engelmacherin“ abgetrieben und darüber 2000 geschrieben (verklausuliert schon 1974), was die NZZ hier nachzeichnet. Aktuell hat Frankreich Verhütungsmittel übrigens für Frauen unter 25 kostenlos gemacht. Ich glaube ja, dass wir die Bedeutung der Erfindung und Einführung von Verhütungsmitteln als Technologie der (ambivalenten!) Liberalisierung von Körpern irgendwie immer noch unterschätzen; jedenfalls geht es in unsren Seminaren zu Geschlecht eigentlich nie darum, und mir fällt erst jetzt auf, dass wir ein komplettes Semester Körpersoziologie betrieben haben, ohne die Pille zu erwähnen.

Im „Handbuch Familiensoziologie“ taucht das Thema nicht oft auf, und fast nur im Kontext sozialistischer Ost-Staaten und der USA. Warum …? Das hängt ja mit Sozialstruktur, weiblicher Erwerbsarbeit, Sexualpraktiken und Beziehungsnetzen, Verfügbarmachung und Resonanzhoffnungen gleichermaßen zusammen. Auch die Geschichte der Pille ist interessant, hier z.B. dargestellt von einer Soziologin in der taz. Eigentlich sollte ich darüber mal was schreiben …

Jedenfalls: Den Abschnitt stellt Ernaux – typisch für das Buch – etwas unvermittelt neben die verschiedensten politischen und kulturellen Bezüge, etwa die Hundert-Blumen-Bewegung Maos (1956/57), die Heimkehrer des Algerienkriegs (endet 1962), das Verbot des Films „Die Nonne“ (1966), die Proteste gegen den Vietnam-Krieg (in Frankreich wohl v.a. 1968), was den Zeitbezug irgendwie schwebend macht. Ich bin nicht ganz davon überzeugt, hier aus zehn, zwölf Jahren in vier Absätzen ein Stimmungsbild zu zeichnen, aber das passiert im Buch öfter, und irgendwie ist das Buch ja auch ein notiertes (kollektives?) Gedächtnis. Diese Technik fällt halt nicht auf, wenn man nicht vertraut ist mit der französischen Geschichte.


Beitragsbild: Wenn man um 8 in die Uni muss, kriegt man ggf. einen Sonnenaufgang mit.

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