Beklagenswert bleibt, daß die Theorien, mit denen diese neuen sozialen Bewegungen sich selbst begründen, oft so billig und unzulänglich ausfallen. Man denke nur an die Naivität der Kritik »des Kapitals« oder »der Herrschaft«. Ich weigere mich zu glauben, daß ein starkes Engagement sich durch Dürftigkeit des Denkens ausweisen muß. (Luhmann, „Protest“, S. 63)
Es ist natürlich ziemlich schwer, ein komplettes Studium in einem Blogartikel zu rezensieren. Aber ich will es trotzdem versuchen. Vielleicht ist es dafür eigentlich auch noch zu früh, immerhin habe ich meine Master-Arbeit noch gar nicht abgegeben. Aber wenn ich mit der MA fertig bin, habe ich vermutlich bereits weniger Zeit … Außerdem habe ich seit der ersten Studienwoche zig Notizen zu den folgenden Fragen angelegt, sodass ich mich mal langsam dran machen will, alles zu ordnen. Entsprechend lang wird das Folgende. Aber ich hoffe, als FAQ-Form ist es übersichtlich sortiert.
Falls sich an der Einschätzung fundamental etwas ändert, überarbeite ich diesen Artikel einfach nochmal. Oder schreibe einen neuen hinterher. Dafür ist ein Blog-Lerntagebuch ja da.
[Alle Rückblicke finden sich hier.]
Contents
- 1 Was habe ich eigentlich studiert?
- 2 Was habe ich belegt?
- 3 Wer studiert das?
- 4 Wie „kritisch“ ist diese Theorie?
- 5 Bin ich noch Hartmut-Rosa-Fanboy?
- 6 Kann man das alles verstehen oder ist GT hermetische Sonderwissenschaft? Wie anstrengend ist das Studium?
- 7 Wie ist die Uni-Infrastruktur? Oder ist eh alles remote inzwischen?
- 8 Wie unterscheidet sich das von meinem Studium 2007–2011?
- 9 Was würde ich am Studiengang, der Uni und einzelnen Veranstaltungen ändern?
- 10 Was nervt am meisten?
- 11 Was davon könnte man einfach selber machen – und was nicht?
- 12 Was habe ich gelernt — außer Studieninhalten?
- 13 Finde ich es schade, dass es vorbei ist?
- 14 Würde ich das nochmal studieren?
Was habe ich eigentlich studiert?
Ich habe den Master-Studiengang „Gesellschaftstheorie“ (GT) an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSU) studiert. Das ist ein Misch-Studiengang aus Soziologie, Politik, Philosophie (Ethik, praktische Philosophie), Sozialpsychologie und (Zeit-) Geschichte. Die Anteile kann man recht frei gewichten; ich würde sagen, ich hatte
- 50% Soziologie
- 30% Geschichte
- 15% Philosophie
- 5% Politik.
Man kann aber, wenn man es darauf anlegt, auch 80% Politik machen (politische Soziologie, Politikwissenschaft etc.).
Wie der Name schon sagt, ist das alles seeeeeeeehr theoretisch ausgerichtet. Aber man kann sich in Soziologie-Modulen sogar ein bisschen Empirie reinholen (wobei in Jena gefühlt ein sehr großer Quali-Schwerpunkt vorherrscht, quantitative Methoden habe ich nur im Seminar „Eigentum und Geschlecht“ am Rande erlebt).
Hier ein paar Links:
- Studiengangswebsite
- Studycheck (wenige Rezensionen, vielleicht schreibe ich auch eine)
- ZEIT Studiengänge
- Wer überlegt, das zu studieren, bekommt einen guten Einblick durch das UTB-Buch „Gesellschaftstheorie“ von Rosa, Oberthür et. al. Daraus wird auf jeden Fall die Stoßrichtung einer „kritischen“ Gesellschaftstheorie klar.
Was habe ich belegt?
Vor allem Seminare. Es gab auch eine Ringvorlesung GT, eine Ethik-VL und eine Politik-VL, aber ich würde sagen, 90% des Gelernten kommt aus Seminaren, Diskussionen und seminarbezogenen Lektüren. Insgesamt hätte ich auf die Vorlesungen verzichten können.
Wer studiert das?
Eine gute Frage. Wir waren ca. 35 Erstis. Wie viele davon noch da sind, kann ich nicht beurteilen. Viele Leute habe ich nur bei den Einführungsveranstaltungen, auf einer Klausurtagung im wunderschönen Thüringer Wald und sporadisch in Seminaren gesehen. Generell gibt es nicht sooooo viele „GT“-Veranstaltungen: Je nach Schwerpunkten besucht man vor allem VLs und Seminare anderer Institute. Ich hatte z.B. mehrere historische Seminare, wo jeweils nur eine andere GT-Person teilnahm. Wie stark der GT-Schwerpunkt in soziologischen Veranstaltungen ist, hängt an den Dozierenden; hier war ich teils auch der einzige GT-Mensch unter lauter Soziologys.
Die Leute aus der GT, mit denen ich näher zu tun hatte, hatten alle möglichen Hintergründe. Soziologie schien mir kein Schwerpunkt. Von Philosophie, Geschichte, Politikwissenschaft bis hin zu Theologie und Wirtschaft war so gut wie alles vertreten. Im Wesentlichen aber Geistes- und Sozialwissenschaften. Die große Klammer ist, dass die Leute politisch (sehr) links stehen und auch zu großen Teilen politisch aktiv sind. Dazu würde ich ca. 2/3 zählen (mich nur bedingt). Das verbliebene Drittel sind Theorie-Nerds und -Nerdinen.
Die meisten Leute, mit denen ich näher zu tun hatte, peilen übrigens eine akademische Karriere an. Das ist also auch noch eine Klammer der Studys. Im Einzelfall scheint mir das auch fast immer eine solide und passende Idee zu sein; schade ist, dass es wohl nur für einen kleinen Bruchteil feste Stellen geben wird.
Sehr verbreitet ist Veganismus. Nietzsche dazu:
Kennt man die moralischen Wirkungen der Nahrungsmittel? Giebt es eine Philosophie der Ernährung? (Der immer wieder losbrechende Lärm für und wider den Vegetarianismus beweist schon, dass es noch keine solche Philosophie giebt!)
(Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, 1. Buch, 7. Aphorismus)
Insgesamt fand ich viele Leute nett, aber da man sich selten gesehen hat und ich zudem die meisten Wochenenden in Nürnberg verbracht habe, entwickelten sich nur ein paar festere Kontakte. Für die bin ich aber sehr dankbar! Und: Vielleicht bin ich auch einfach schon ein bisschen zu alt (10–15 Jahre älter als meine Kommilitonys).
Wie „kritisch“ ist diese Theorie?
Sehr. Man versteht sich am soziologischen Institut als Nachfolge der kritischen Theorie, wahlweise eher auf Adorno oder auf Habermas & Co. bezogen, und Hartmut Rosa ist dafür genau der richtige Studiengangsleiter. An der kritischen Theorie kann man wiederum, je nach Ausprägung, einiges tendenziell kritisch sehen. Vor allem die intentionale Veränderung von Gesellschaft scheint mir schwer, und noch schwerer, diese ohne unintendierte Nebenfolgen zu bewerkstelligen.
Generell ist es mir in den drei intensiven Semestern des Studiums nicht gelungen, herauszufinden
- wie eine solche Veränderung (sagen wir: die Überwindung einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung) normativ begründet oder
- wie sie realistisch umgesetzt werden könnte.
- Und auch, woran wir erkennen würden, dass wir „den Kapitalismus überwunden“ haben, ist mir nicht klar.
Ich sehe also, gaaaaaaanz grob gesagt, sowohl eine theoretische als auch eine praktische Leerstelle. Das macht aber nichts: Die Auseinandersetzung damit war auf jeden Fall spannend, hat mein Denken (gerade auch im Widerspruch) geschärft und mich mit vielen soliden Analysen ausgestattet. Nur „überzeugt“ wurde ich nicht. Und bleibe bei Luhmann und dem Ziel, eine adäquate Beschreibung und „Erklärung“ (also explizit kein subjektbezogenes „deutendes Verstehen“) von Gesellschaft anzustreben.
Bin ich noch Hartmut-Rosa-Fanboy?
Naja. Die Lektüre des „Resonanz“-Buchs hatte mich ja ursprünglich für diesen Studiengang interessiert, und ich habe ja sogar ein paar Textchen geschrieben, die die Theorie anzuwenden versuchen.
Im Zuge der Fragestellungen, mit denen mich die Seminare konfrontierten, habe ich aber eigentlich selten in der Resonanztheorie oder in einer Theorie dynamischer Stabilisierung passable Antworten gefunden. Meistens war das Gewinnbringendste, sich neben die „kritischen“ Autorinnen und Autoren noch eine systemtheoretische Folie zu legen. Vor allem Luhmann, Dirk Baecker, Elena Esposito, Peter Fuchs; aber auch einige Ausgaben von „Soziale Systeme“ haben mich da weiter gebracht.
Hartmut Rosa ist persönlich überzeugend und sympathisch, aber ich habe es im Zuge des Studiums nicht geschafft, zum Vollblut-Resonanztheoretiker zu werden.
Kann man das alles verstehen oder ist GT hermetische Sonderwissenschaft? Wie anstrengend ist das Studium?
Ich müsste lügen, würde ich behaupten, dass ich alle Texte und Diskussionsbeiträge immer verstanden habe. Insbesondere mit Poststrukturalismus (Derrida!), manchen Philosophen (Hegel!), manchen Denkperspektiven tat ich mich schwer. Das ist aber ja auch die Herausforderung. Bzw. ist dann die Herausforderung, dennoch ein Thema für Hausarbeit oder mündliche Prüfung zu finden. Mit den historischen und wirklich „soziologischen“ (E&G, Eigenes Haus) Themen gab es eigentlich nie Verständnisprobleme, sodass hier auch die Diskussionen lebensnah und lebendig waren.
Die folgende Einschätzung eines Rezensentys auf Studycheck (s.o.) kann ich jedenfalls nicht ganz nachvollziehen:
Allerdings sind auch die Anforderungen sehr hoch und es geht vielen Leuten mit denen ich gesprochen habe so, dass sie große Selbstzweifel aufbauen, wie sie alles schaffen sollen und ob sie geeignet sind für das Studium.
Ich fand die Anforderungen tatsächlich genau so hoch, wie man sie sich selbst legt. Insbesondere das „alles schaffen“ schien mir kein Problem — ich habe das Kernstudium inkl. dem Großteil der Masterarbeit in 3 Semestern absolviert, und in den Semesterferien zudem noch meinen regulären 28h-Job, Hausarbeiten und Nebenprojekte untergebracht. Vielleicht hat das Studium aber auch einfach perfekt zu mir gepasst (trotz des kritischen Themenschwerpunkts). Ich hätte natürlich überall noch mehr tun können (und habe auch noch eine große Leseliste, der ich nach der Rückkehr ins normale Erwerbsleben frönen werde) — aber meine Sabbatical-Studienorga hat erzwungen, dass ich mich ein wenig ranhalte.
Auch Luhmann ist übrigens nicht immer ganz leicht verständlich. Eine hübsche Erklärung:
Vielleicht muss man in diesem Zusammenhang an eine sehr deutsche Besonderheit erinnern, […] nämlich daran, dass die soziologische Theorie von Leuten gemacht wird, die sich ihren Theoriebegriff an der philosophischen Überlieferung gebildet haben und nicht an den im engeren Sinne soziologischen Theorieversuchen. Der Hintergrund ist, dass die Soziologie lange nicht als Hauptfach studiert werden konnte, so dass selbst die professionellen Soziologen einen breiteren fachlichen Hintergrund hatten, der in vielen Fällen die Philosophie einschloss. Für Texte, die unter dieser Voraussetzung entstanden sind, gibt es unterdessen gar kein adäquates Publikum mehr, und die Texte von Luhmann sind ein gutes Beispiel dafür. (Soziopolis)
Wie ist die Uni-Infrastruktur? Oder ist eh alles remote inzwischen?
Zum Studienort Jena gibt es einen separaten Rückblick, aber man muss sagen: Es ist schon ein Nest, wenn auch ein hübsches. Immerhin sind dadurch im Zentrum alle Sachen leicht fußläufig erreichbar. Die zentrale Uni-Bib („Thulb“) hat Mo-Sa bis 22 Uhr auf, So nur bis 20 Uhr. Die Mensen bieten Mo-Fr Mittagessen; die Hauptmensa hat zudem „Zwischenversorgung“, meist mit Süßdingen, und Abendessen. Die Qualität schwankt, ist aber fast (!) immer okay. Die Preise sind super: Man bekommt eigentlich immer für 1,95 ein solides Essen.
Nachholbedarf gibt es bei der Versorgung am Wochenende und nach Mensaschluss. Weder in der Thulb (Hauptbibliothek) noch in der Uni gibt es einen Kaffeeautomaten — das kann z.B. die Nürnberger WiSo besser. Jena hat nur eine (theoretisch) auch am Wochenende zugängliche Kaffeemaschine im UHG, wobei die Verfügbarkeit von Kaffee dort eher zufällig ist.
WLAN (Eduroam) funktioniert stabil. Die Räumlichkeiten des Hauptcampus, des Uni-Hauptgebäudes („UHG“) und anderer Locations schienen mir teils merklich in die Jahre gekommen. Was es nach meiner Wahrnehmung nirgends gab: Hybrid- und Remote-Technik. Vielleicht müssten sich Dozierende dafür irgendwo eine Polybar ausleihen, aber bis auf „G&R“ im ersten Semester (rein remote) und ein paar wenige einzelne Sitzungen fand sowieso alles in Präsenz statt. Das fand ich, gerade mit meinem Pendel-Doppelleben, sehr schade. Mehr Hybrides wäre nicht nur einfach zeitgemäß, sondern hätte mir auch mein Leben erleichtert … Andererseits war die Seminarbeteiligung oft Glückssache — wer weiß, ob Remote-Teilnahme das besser oder schlechter gemacht hätte.
Abschließend noch eine kleine Architektur-Rezension:
- Thulb: Genial.
- UHG: Gemischt.
- Campus/CZS: Außen(bereich) hui, innen naja.
- Hauptmensa: Irgendwie ungemütlich.
- Philomensa: Ich war da gerne, aber es wirkt wie ein 70er-Jahre-Betreuungsheim.
Wie unterscheidet sich das von meinem Studium 2007–2011?
Ehrlich gesagt: Eigentlich nicht sooooo sehr. Vielleicht gibt es eine Tendenz dazu, dass man „Stundengestaltungen“ statt „Referaten“ als Studienleistung einfordert. Und was früher Papier-Reader waren, die man im Rucksack durch die Gegend schleppen musste, sind heute PDFs in Moodle — sehr praktisch für die Pendelei.
Mitschriften passieren inzwischen überwiegend digital, fast jede und jeder hat einen Laptop dabei oder ersatzweise ein Tablet. (Teils aber unerquicklich veraltete Hardware; was wieder den Vorteil hat, dass da dann ein VGA-Anschluss verfügbar ist, denn HDMI ist nur in sehr großen Veranstaltungsräumen standardmäßig vorhanden.) Die beliebteste Software scheint OneNote zu sein.
Qualität und Unterhaltungsfaktor von Seminarsitzungen und Vorlesungen hängen aber weiterhin an Dozierenden und Teilnehmys, und da merke ich keinen großen Unterschied — zumindest keinen, den ich auf die 10–15 Jahre Zeitabstand, auf Kohorten oder Jahrgänge schieben würde. Vielleicht eher einen fachlichen: In der BuWi, wo ich deutlich mehr Zeit verbrachte als in der Soziologie, waren einfach andere Leute unterwegs als in der GT.
Was würde ich am Studiengang, der Uni und einzelnen Veranstaltungen ändern?
Ganz generell würde ich jede Veranstaltung zwingend als Hybrid- oder gleich Remoteveranstaltung machen. Für reine Präsenzveranstaltungen sollte es einen wichtigen Grund geben müssen. Das wäre zeitlich und räumlich für alle besser, und es gibt m.E. keinen ausreichenden Grund dagegen. Nichtbeteiligung ist noch schlimmer, wenn alle im gleichen Raum sitzen.
An der GT würde ich nur eines ändern: Politikwissenschaft sollte keine Pflichtveranstaltung sein. Auch da sollte man eine Wahlmöglichkeit haben — ich fand das Modul insgesamt nicht gewinnbringend. Die kritische Perspektive, an der man sich dann ggf. wiederum kritisch abarbeiten kann, sollte beibehalten werden; man weiß ja auch, dass man sich darauf einlässt.
Gesamtgesellschaftlich-strukturell fände ich es zudem schön, wenn „lebenslanges Lernen“ allgemein ernster genommen würde; das Modell, nach einigen Jahren Berufserfahrung einen ganz normalen MA zu machen (und nicht so einen Karrieristenschein wie einen MBA), ist m.E. relativ sinnvoll. Es ist nur leider noch immer die absolute Ausnahme. Das muss verbreiteter werden!
Für Studien- und Prüfungsleistungen würde ich verpflichtende Kooperationen abschaffen, die nervten meist (und die kannte ich aus dem früheren Studium so auch nicht) … ich hätte jeweils gerne einfach meinen eigenen Seminarbeitrag geleistet, ohne, auf andere Leute angewiesen zu sein. Der Koordinationsaufwand war teils hoch und frustrierend, und die Abhängigkeit von Co-Referentys ist doof. Andererseits: Das bereitet einen auf „Teamarbeit“ in der Berufswelt vor …
Kleinkram:
- Prüfungs-Portal: Warum kriegt man keine Mail von „Friedolin“, wenn etwas passiert ist (etwa: neue Noten wurden verbucht)? Und das, obwohl man eine eine „Nutzungsobliegenheit“ hat, das laufend zu überprüfen! Da könnte einem die Software echt helfen … Aber das ist wohl nicht gewollt.
- Die Veranstaltungszulassung am Tag vor Vorlesungsbeginn ist etwas arg spät.
Was nervt am meisten?
Abgesehen vom mangelnden Hybrid-Angebot fand ich die Versorgung mit Literatur am schwierigsten.
- Die Thulb hat sehr vieles nicht lizenziert — ich war jedes Mal kurz freudig überrascht, wenn SpringerLink mir einfach einen Downloadbutton anbot oder sogar direkt aus der Google-SERP den PDF-Download anstieß. Printbücher habe ich nur sehr, sehr selten bemüht, und dann (in der Thulb kostenpflichtig, aber komfortabel) gescannt. Manches habe ich mir auch einfach gekauft.
- Einiges ist zwar lizenziert, aber sehr umständlich erreichbar. (Manche) UTB-Reihen kann man sich etwa nur per VPN kapitelweise runterladen — und muss das dann erst in ein PDF zusammensetzen. Danach müsste man sich das Bookmark-TOC händisch basteln. Nervig. Und gar nicht reden brauchen wir von Portalen wie „WISO“ der „GBI-Genios Deutsche Wirtschaftsdatenbank GmbH“. Das Design wirkt nach 90ern und auch dort kriegt man nur Kapitel-PDFs, keine ganze Ausgabe von „Soziale Systeme“. Nutzerfreundlichkeit insgesamt unterirdisch. (Und ich finde es faszinierend, wie viele solcher Portale es gibt!)
- Kurz: Manchmal war der „kurze Dienstweg“ auch zu wichtigeren Publikationen der einzig mögliche. Daher dichtete ich ja bereits im Mai 2023: „Was die Thulb nicht hat, das kann man prima rippen/was die Thulb nicht führt, das findet sich auf LibGen.“
Weiterhin etwas irritierend fand ich, wie sehr man vom Wohlwollen der Dozierenden und bürokratischen Administrationen abhängig ist. Als Arbeitnehmer fühle ich mich jedenfalls „unabhängiger“ von meinen Vorgesetzten als als Student. Ein komisches Gefühl.
Und schließlich muss ich zugeben, dass bestimmte Einrichtungen und Erwartungen nicht mehr ganz zu meinen „erwachsenen Ansprüchen“ passen. Da fallen mir etwa die Unterbringung in Mehrbettzimmern auf Studienfahrten oder der Zustand von Sanitäreinrichtungen an der Uni ein. Mir ist das ja peinlich, aber ich bin (inzwischen?) halt doch mehr der Hotel-Einzelzimmer-Typ …
Was davon könnte man einfach selber machen – und was nicht?
Ich habe Universität mehrfach als „kuratierte Leseliste mit optionalem Diskussionsangebot“ umschrieben, und irgendwie stimmt das auch. Man könnte sich viele dieser Inhalte auch im Selbststudium aneignen. Wofür braucht man dann die Uni?
Einen Abschluss kann man sich natürlich nicht selber geben, aber gerade Gesellschaftstheorie ist vermutlich nichts, was man wegen der Karrierechancen durch den Abschluss studiert. (Außer, man spekuliert auf eine der ca. 3 unbefristeten akademischen Stellen, die europaweit bis 2040 für Gesellschaftstheoretys geschaffen werden.) Aber die Uni leistet schon noch mehr.
Denn: Klar kann man auch allein für sich entsprechende Texte lesen, aber es ist schwer, sich selber so zu überraschen, wie es die Seminarauswahlen tun. Außerdem wird es schwer, Leute zu finden, die bei dieser Diskussionsdichte mitmachen. Und vieles versteht man eben erst, wenn man es durchdiskutiert. Und: Mir fällt es auch eher schwer, Texte „für nichts“ und ohne Auftrag zu schreiben — eine Hausarbeit als Seminarleistung macht es zumindest wahrscheinlich, dass eine Person den Aufsatz lesen wird, und dass man „etwas“ dafür bekommt (auch wenn’s nur eine Note ist).
Was habe ich gelernt — außer Studieninhalten?
- Eine Abwechslung vom Berufsalltag ist möglich und reizvoll.
- Studieren macht Spaß.
- Ich habe meine LaTeX-Kenntnisse und den Umgang mit zahlloser Software aufgefrischt (JabRef, Obsidian, PDF-Editoren, …).
- Kleine Erkenntnis 1: Ich fand in der Tendenz die Prüfungsleistungen bei Professorinnen und Professoren angenehmer und erfolgreicher als bei promovierten Dozentys und bei denen wiederum besser als bei „Hobby-Dozierenden“ („Religion und Sozialismus“) oder Promovierenden („Gastlichkeit“). Ich wurde den Eindruck nicht los, dass die Leute umso härter bewerteten, je niedriger sie auf der akademischen Sprossenleiter standen. Über die Motive könnte ich nur spekulieren.
- Kleine Erkenntnis 2: Das Denken wird durchs Studium breiter, aber oft auch flacher — man liest eben synchron und diachron enorm viel Unteschiedliches. Zum Glück hat man dann durch Hausarbeiten und die Abschlussarbeit die Gelegenheit zur Tiefe.
- Kleine Erkenntnis 3: Eine gute Studiengangsbetreuungsperson ist Gold wert, ohne hätte das alles nicht geklappt.
Finde ich es schade, dass es vorbei ist?
Ja und nein. Die Dosis hat gereicht! Auf noch drei weitere Semester „Studieren“ hätte ich keine Lust (und vor allem will und muss ich jetzt mal wieder mehr Geld verdienen …). Aber natürlich hat es viel Spaß gemacht und ich habe viele Seminare direkt nach der letzten Sitzung vermisst.
Würde ich das nochmal studieren?
Jupp. Es war genau das Richtige und sehr abwechslungsreich. Problemchen hin oder her.
Beitragsbild: Der Regalmeter „Kapitalismuskritik“ im örtlichen Thalia.
Freut mich sehr, dass du ein (vorläufiges) positives Fazit ziehst! Und danke fürs regelmäßige Teilen deiner Erfahrungen – vielleicht inspirierst du ja auch das ein oder andere Lesy, mal vom Standard-Lebensweg abzuweichen und bereits vorm Rentenalter nochmal zu studieren.
Das hoffe ich auch, und es freut mich, wenn die Doku des Projekts gefallen hat