The Sinking City (TSC) ist ein cthuloides Open-World-Ermittlungsspiel in einer überfluteten Stadt. Der Titel befindet sich schon seit vielen Monaten in meiner Steam-Library, aber ich hatte zu viel anderes um die Ohren. Zum Glück, denn gerade wird das Spiel wohl umfassend gepatcht — und die bisherigen Spielstände sind nur noch einige Monate nutzbar:
We are happy to announce that the latest version of the Sinking City is out now on Steam, free for all existing owners. Please keep in mind that your old saves aren’t compatible with this version, but you can keep playing the old one until Feb 28, 2024.
Das ist an sich natürlich ein Unding und macht mal wieder klar, dass man Medieninhalte heute nicht mehr kauft, sondern nur lizenziert, und dass einem all die schönen Spielsachen mit einem DRM-Streich jederzeit wieder genommen werden können. Für mich generell ein Grund, keine Inhalte zum vollen Preis zu erwerben, sondern stets auf einen 90%-Deal zu warten …
Außerdem gab es rund um das Spiel erhebliche Differenzen zwischen Entwickler und Vertrieb; die Gamestar (gibt’s noch!) hat das nachgezeichnet. Irgendwie auch unglaublich, dass in den 2020ern so ein Business-Streit auf dem Rücken der Spielerinnen ausgetragen wird. So, Rant beendet.
Contents
Hintergrund
Der Protagonist reist nach Oakmont, Mass., um seinen seit dem Krieg immer schlimmer werdenden Halluzinationen beizukommen — Laudanum reicht nicht mehr, wie das Nachtkästchen seines Hotelzimmers beweist. Oakmont ist überflutet und von der Außenwelt abgeschnitten, und hier schwelen endlose Konflikte: vor allem zwischen
- den seit „Ewigkeiten“ Angestammten (also Nachfahren europäischer Einwanderer, inklusive Affenmenschen, religiöser Kulte und einem KKK-Ableger),
- den vor einiger Zeit nach dem „Raid“ des FBI auf Innsmouth angesiedelten „Innsmouthers“ (klassische Hybride in verschiedenen Stadien),
- „Newcomern“ (wie uns) und
- Übernatürlichem, am häufigsten präsent als „Wylebeasts“, teils humanoide Half-Life-Monster.
Die Stadt hat auch einen eigenen Dialekt: „kay“ ist Gott, „ve’ra“ bedeutet so viel wie „sicherlich, okay“, „droch“ ist „drek“ oder Mist, „mair“ ist das Meer usw. Der Dialekt beschränkt sich aber auf wenige Begriffe, die man auch aus dem Kontext erschließen kann — ich hatte den Eindruck, hier wäre mehr drin gewesen.
Atmosphäre
Ich würde die Atmosphäre mit der von „Stygian“ vergleichen, nur nicht ganz so post-apokalyptisch. Es existiert noch so etwas wie Gesellschaft, aber echte „Zivilisation“ ist nahezu unerreichbar weit weg. Geld ist nichts mehr wert, man tauscht Naturalien (v.a. Alkohol und Patronen). Auch der herrschenden Klasse geht es nicht gut, aber deutlich besser als den Fischern, Bettlern und Kultisten von nebenan. Das ergibt eine von natürlichen und übernatürlichen Gefahren geprägte Wild-West-Stimmung, und das unterscheidet schon die ersten Spielminuten von „Call of Cthulhu“ (2018) und den „Darkness Within“-Teilen. Dort ist alles (zunächst) deutlich zivilisierter. (Weitere Parallele: Darkness Within lässt einen genau wie TSC regelmäßig im eigenen Hotelzimmer aufwachen …)
So richtig nach „Open World“ fühlt sich das Spiel im Übrigen nicht an, dazu ist alles etwas zu klar und linear. Man kann Side-Quests folgen und die Stadt angucken, aber „erkunden“ ist fast zu viel gesagt. Denn die meisten Häuser sind nur Kulisse. Das liegt vielleicht an der Technik:
As the scope of this made handcrafting the entire town unfeasible, Frogwares turned to Unreal Engine 4 and followed the example of city generation techniques pioneered in Assassin’s Creed to create entire blocks of Oakmont at once through procedural generation. (Wikipedia)
Gameplay
Das Ermittlungs-System funktioniert ein bisschen wie in „Darkness Within“, nur dass es hier funktioniert: Man kombiniert in einem separaten Menü (Case-Book und Mind Palace) Hinweise, zieht Schlüsse und kommt dann zu Ergebnissen, die einen auf neue Orte hinweisen. Manchmal muss man Ote besuchen oder in verschiedenen Archiven stöbern, um ein weiteres „Mind Palace“-Schnipselchen zu bekommen. Ich fand das weitgehend überzeugend gelöst; ich habe aber auch auf einem niedrigen Schwierigkeitsgrad gespielt, weil es mir mehr um Atmosphäre und die Geschichte geht als um eine Gaming-Herausforderung.
Die Mechanik (Hinweis finden, passendes Archiv aufsuchen, Ermitteln, nächsten Hinweis jagen) nutzt sich ein bisschen ab. Aber dafür entschädigen die teils skurrilen, teils spannenden Fälle.
Sanity baut sich nach einiger Zeit wieder auf, Gesundheit (die man durch Stürze, aber vor allem durch Kampf verliert) nicht — dafür braucht man First Aid Kits. Den meisten Kämpfen kann man allerdings aus dem Weg gehen oder notfalls entfliehen. Denn alle Monster, auch die schwächsten, bleiben eine gewisse Bedrohung. Das passt sehr gut zur Atmosphäre, auch wenn es ein bisschen mehr Varianz hätte sein dürfen.
Die Skills sind eher Nice-To-Haves; vor allem dienen sie dazu, dass man mehr Material und Munition herumschleppen kann, manches auch erhöhtem Schaden. Aber ich habe oft schlicht vergessen, „Knowledge Points“ auszugeben, was das System etwas sinnlos macht. Meine Reihenfolge:
- beide XP-Booster (Mind-Tree)
- Schaufel-Booster (Vigor)
- alle Crafting-Booster (Mind)
- einige Munitions-Upgrades (Vigor)
- Waffen-Upgrades (Combat)
Reisen und Speichern
Es gibt mehrere Wege, zu reisen. Das meiste erledigt man per pedes. Dabei fällt auf, dass die Animationen irgendwie nicht fertig geworden sind; z.B. kann man dabei mehrere Gewehre und Pistolen, eine Schaufel und Materialien fürs Craften herumtragen, obwohl man nur Hemd und Hose trägt. Das ist genauso unrealistisch dargestellt wie die Taschenlampe, die einfach die Umgebung erhellt, ohne, dass man sie jemals in der Hand hat. Naja.
Da die Stadt überflutet ist, muss man ab und an von den Füßen auf Boote umsteigen — diese Wasserreisen machen Spaß, zumal man dabei ein permanentes Gefühl der Verwundbarkeit hat, aber einem objektiv im Boot nichts etwas tut. Viele Ziele liegen an Mini-Häfen mitten in überfluteten Straßen. Das erhöht das Gefühl, ausgeliefert zu sein.
In jedem Stadtteil kann man zudem Telefonzellen entdecken, die als „Fast Travel“-Spots dienen; von jeder anderen Telefonzelle kommt man auf einen Sprung dorthin direkt zurück. Praktisch, ohne, dass man das Gefühl hat, dadurch Sightseeing-Value einzubüßen. Wichtig ist auch, dass man sich selber Marker auf der Karte setzt — etwa blockierte Durchgänge, interessante Häuser, für deren gefährliche Erkundung gerade keine Zeit ist etc.
Savegames sind etwas tricky: Man landet beim Laden nicht genau da, wo man gespeichert hat … sondern an einem passenden Wegpunkt in der Nähe. Eventuelle Ermittlungsergebnisse werden aber gespeichert … wenn man also einen Bösewicht stellt und zum Kampf fordert, dann aber im Kampf gegen ihn stirbt, landet man an der nächsten Telefonzelle. Betritt man seinen Unterschlupf wieder, bricht der Kampf erneut aus. Man kann sich dann nicht mehr entscheiden, einen „friedlicheren“ Weg zu suchen, die Situation zu lösen. Das ist insgesamt etwas hakelig (und ich glaube, auch buggy). Seid gewarnt!
Umgang mit Gleichheit, Rassismus, Moral
Ein Teil des HPL-Horrors entstammt ja auch der repressiven Vorstellungen der damaligen (oder jeweiligen) Zeit. Wenn in AHLCG oder einem Spiel wie TSC dann plötzlich Race, Gender, sexuelle Orientierung, Atheismus kein Problem mehr sind, sondern auch (zumindest die guten) NSCs positiv darauf reagieren, ist das nicht nur a-historisch und anachronistisch, sondern verspielt auch einen Teil des Schreckens. Andererseits verstehe ich gut, dass man seine Freizeit nicht in einem homophoben, misogynen, christlich-frömmelnden, autoritären Universum verbringen will … ein Balanceakt.
TSC baut gerade im Konflikt mit den „Innsmouthers“, aber auch z.B. mit Suffragetten-Postern diese Themenkomplexe ein, aber eher am Rande. Dadurch wird das nie störend, aber auch nicht besonders effektiv. Im Spiel tauchen wenige Frauen auf, die wesentliche Geschichte ist Männersache. Es gibt eine Reporterin, Passantinnen, Bibliothekarin, eine Geisel, eine Untote … und natürlich ist der Protagonist männlich. Naja.
Kurz: Der Umgang mit Gleichheitsthemen wirkte eher als Ausschmückung, genauso wie viele der moralischen Entscheidungen, die man trifft. An manchen Stellen hat man auch gar keine Wahl, ein rassistischer Hard-Ass zu sein. Mit dem KKK kann man nicht verhandeln. Ist aber vermutlich auch gut so.
Fazit
Coole Stories, wenn auch mythosseitig etwas überladen (Yellow King, Innsmouthers, Dagon, Shub-Niggurath, Hirnzylinder, H. West, …). Viele Entscheidungen fühlen sich nicht sonderlich wichtig an, man muss das eher ein bisschen wie einen narrativen Walking-Simulator sehen. Die Entscheidungen im Spiel trifft man für sich, und man kann tatsächlich mit einem Savegame alle 3 möglichen Enden angucken (muss dann aber jeweils die Credits ertragen).
Mechanisch ist das Spiel etwas redundant, aber für die Dauer des Spiels (knapp 25h mit einigen Nebenquests) kann man damit leben. Die Atmosphäre ist Geschmackssache, hat mir aber gut gefallen. Für Mythos-Fans auf jeden Fall einen Versuch wert, aber bitte nicht zum Vollpreis. Wer eine lebendige Welt erkunden will, greife nach wie vor einfach zu Morrowind.
4/5 Tentakeln.
Links
- Da ich das Spiel nur ein Mal durchspielen wollte, habe ich mir die Alternativen in diesem exzellenten Guide durchgelesen. An einer Stelle musste ich tatsächlich auch nachgucken, wo ich einen letzten Hinweis an einem Ort finden könnte. Ein mustergültiger Walkthrough!
- FAZ-Rezension „Wüstes Trommeln in finsterfeuchter Welt“ von Axel Weidemann
- Irgendwann hatte ich mal über cthuloide und Lovecraft-inspirierte Spiele gebloggt, aber inzwischen gibt es da ja jede Menge.
Easter Egg
In anderen Spielen sucht man die kleine Cthulhu-Statue, mit der sich das Team vor Lovecraft verneigt; hier verneigt man sich vor einer Badeente des Grauens:
Alle Bilder: Screenshots aus dem Spiel.
2 Gedanken zu „Rezension: The Sinking City (Videospiel)“