Einige gute Soziologie entsteht ja, wenn man bei sich selber anfängt. Hartmut Rosa hat das mehrfach in Interviews als Ausgangspunkt seiner Analysen konstatiert, nicht zuletzt in Anbetracht von Beschleunigungsphänomenen und Resonanzbeziehungen. Also gehe ich mal von etwas aus, was mir passiert ist, und versuche mich an einer Einordnung.
Man erwarte bitte keine Großtheorie, aber in Momenten der Verunsicherung dient Theorie ja besonders sinnfällig der Selbstbeschreibung von Kommunikation und damit auch der Selbstdeutung. Außerdem hat mich das so beschäftigt, dass es schade wäre, daraus nicht auch theoretisches Kapital zu schlagen.
Aber erstmal zur Empirie:
Contents
Was ist passiert?
Ich war in einem Comicladen* und wollte ein Arkham-Horror-Produkt kaufen. Es war kurz nach Ladenöffnung und ich war quasi mit dem Personal alleine. Im Untergeschoss waren nur drei Angestellte an und hinter der Kasse. Während ich mich noch ein bisschen umguckte, setzte an der Kasse ein längeres, markiges Gespräch mit der immer wieder wiederholten Aussage „alles Fotzen außer Mutti“, „die sind alle so“ und ein paar gewalttätigen Zwischenbemerkungen ein. Als eine Kundin ins Stockwerk kam, wurden die Stimmen gesenkt. (Anscheinend hielten sie das mir gegenüber als „Bro“ nicht für nötig.)
Ich habe das Produkt dann zurückgestellt und bin gegangen. Auf dem Rausweg habe ich noch eine arme Angestellte im Erdgeschoss gefragt, ob die Jungs da unten immer solche misogyne Scheiße von sich geben.
Was hat das mit mir gemacht?
Es hat mich entsetzt und wütend gemacht, und auch ziemlich traurig. Insgesamt habe ich mich den halben Montagmittag darüber aufgeregt.
Habe ich das falsch interpretiert?
Die erste intellektuelle Bearbeitung des Problems warf die Frage auf: Habe ich das falsch interpretiert? Haben sie über irgendwelche fiktionalen Produkte geredet?
Jetzt erst wird es soziologisch-systemtheoretisch – sorry für den empirischen Vor-Abschnitt. Jedes Verstehen ist die Selektion einer Information aus einer Mitteilung**. Und wie oft ich auch auf die Mitteilung zurückkomme, es ist mir unmöglich, eine andere als eine frauenfeindliche Aussage daraus zu verstehen. Gleichzeitig ist das Informative an einer Information weniger der „Gehalt“. Der ist bei „Alles Fotzen außer Mutti“ (im Folgenden: AFaM) ja auch eher gering.
Interessant ist, worauf man (berechtigt, unberechtigt) durch das Vorliegen der Information noch schließen kann. Baecker gibt hier das Beispiel der Besteckschublade: In einer geordneten Küche gibt die Position der Messer eben nicht nur und nicht wesentlich die Position der Messer an, sondern erlaubt den Rückschluss, wo sich das ganze Besteck, und wo sich daher anderes befinden muss.
Und ob der Rückschluss nun berechtigt ist oder nicht, er legt sich nahe: Ich befinde mich in diesem Laden offenbar auf Terrain, in dem sich mehrminütige Gespräche um die pauschale Herabsetzung der Hälfte unserer Mitmenschen drehen. Natürlich habe ich keinen Einblick in das Denken und sonstige Kommunizieren der betreffenden Person, ich habe nur diese eine Information und kann nur anhand dieser etwas schließen. Ich kann aber vor allem auch nicht nichts daraus schließen – dafür war die Kommunikation AFaM zu „erfolgreich“, also anschlussfähig.
[N.B.: Die Aussage „AFaM“ war im Kontext nicht als Zitat oder kritisch distanziert zu verstehen; und selbst, wenn die Angestellten dort ein Theaterstück aufgeführt und einen fremd verfassten Text wiedergegeben hätten, wäre das der Situation und Rahmung (s.u.) nicht angemessen gewesen, weil nichts darauf hindeutete.]
Wie interpretieren das andere?
Nun kann es ja noch sein, dass andere das eben anders „verstehen“, einen anderen Rahmen wählen, anders interpretieren. Ich habe mich daher unter dem Eindruck dieser missglückten Kommunikationssituation dann kommunikativ an andere gewandt. Das Unbestimmte, aber Bestimmbare der Kommunikation AFaM – das kontingente Bezeichnete der Information des Satzes AFaM – kann ja eben auch anders bestimmt werden.
Und siehe da: Es gibt tatsächlich andere, aus meiner Perspektive normativ aber nicht überlegene Lesarten, die darauf hinauslaufen, dass man sich an die Normalität von Menschenverachtung (ob rassistisch, sexistisch, …) irgendwie gewöhnt hat, auch wenn man sie nicht teilt und/oder richtig findet. Die Frage ist also:
Warum hat mich das aufgeregt?
Ich habe ja nicht damit begonnen, den AFaM-Dialog zu hören, mir dann Gedanken gemacht und schließlich entschieden, dass ich das aus moralischen Gründen nicht akzeptabel finde. Meine Reaktion war ja eine unmittelbare, emotional-affektive, und zunächst auch lähmende – ich habe die Angestellten nicht konfrontiert, sondern bin gegangen.
Oder anders gefasst: Zum Kommunikationsanlass wurde mir weniger die soziale Situation im Laden, sondern eher die Situation, zu der mich meine Emotionen (Unglauben, Wut) gemacht haben (vgl. FuF, S. 97). Ab hier würde es sich auch anbieten, eine resonanztheoretische Lesart einzuschlagen und vielleicht ein repulsives Element einzuführen, aber ich will vorerst beim kommunikationstheoretischen Ansatz bleiben.
Und tatsächlich stellt sich ja die Frage: Warum sehe ich mich im Comicladen genötigt, dazu Stellung zu beziehen und mich zu ver-halten – wenn ich in der Tram oder auf der Straße ein menschenverachtendes Gespräch überhöre, aber nicht? Warum gehe ich hier im Comicladen nicht auch einfach vorbei?
Erwartungen und Gefühle
Ich vermute, es liegt an Erwartungen. Erwartungen sind ja die Struktur schlechthin, mittels derer wir Komplexität in sozialen Situationen reduzieren. Gleichzeitig operieren und evoluieren Erwartungen immer vor dem Horizont ihrer Enttäuschung. Und hier kommen Gefühle ins Spiel: Einerseits sind sie „Konstruktionen, die aus der Amplifikation von Erwartungen zu Ansprüchen entstehen“ (FuF, S. 96).
Der Anspruch, den ich an besagten Laden hatte, war, ein Ort von und für meinesgleichen zu sein, verbunden mit einem (starken) positiven Gefühl. Das AFaM-Erlebnis brach in wenigen Minuten mit diesem durch „Erfüllungsgefühle“ der Erwartung gefestigten Anspruch – wahrlich „desorientierend“, wie eine Freundin bemerkte. Und was resultierte, war ein erhebliches „Enttäuschungsgefühl“ und dem Schwebezustand, ob die zugrundeliegende Erwartung fallen gelassen werden müsse oder nicht.
Das Ganze ging aber natürlich noch ein Stück weit über den Rahmen des Comicladens hinaus. Denn der Unsicherheit, was denn andere in der eigenen Gesellschaft so denken, und der erwarteten Unsicherheit dieser anderen, was man selber denkt (die berühmte „Doppelte Kontingenz“) begegnet man ja sehr häufig durch eine fragile, prekäre Ignoranz: durch die kontrafaktische (aber notwendige!) Annahme, dass schon niemand so denken wird. Und auch diese generelle, generalisierend auf die ganze Gesellschaft bezogene Erwartung wurde gebrochen.
Rahmen, Rahmung, Raum …
Anders als in der Tram oder auf der Straße, wo ich mich von Urhebern (Maskulinum intendiert) solcher AFaM-Sprüche einfach distanzieren kann, indem ich sie z.B. reflexiv verachte, geht das hier nicht: Denn hier im Comicladen muss ich annehmen, dass ich mit allem gemeint bin. Ich kann die Menschen hier nicht verachten, denn sie „stehen mir nahe“ und ich käme in paradoxe Entscheidungs- und Erklärungsnöte, würde ich sie plötzlich in eine verachtenswerte Schublade stecken.
Genau gegen die verachtende Kategorisierung von Nerds, Geeks, Rollenspielern wegen unterstellter Menschenverachtung (v.a. Misogynie, Incel-Tendenzen etc.) argumentiere ich aber seit Jahren. (Und ich bin trotz der AFaM-Enttäuschung noch nicht bereit, die Erwartung und den Anspruch fallen zu lassen).
Der Laden versteht sich zudem implizit und wohl auch explizit als liberal, divers, offen, tolerant, sodass die geradezu organisational formalisierte Erwartung an den Laden ebenfalls gebrochen wurde: Ich hatte ihn immer als das aufgefasst, was heute vielleicht etwas verkürzt „safe space“ genannt wird. (Verkürzt, weil natürlich kein Raum jemals „safe“ sein kann, und man das ja auch gar nicht erwartet; man erwartet nur die Erwartbarkeit des Unerwarteten, die Konditionierung der Freiheitsgrade der Zumutung.) Die Information verwies darauf, dass auch hier ein strukturelles Problem wie Misogynie nicht fern ist.
Und weitere Erwartungen wurden gebrochen, etwa die an die Rolle von Angestellten in der Öffentlichkeit ihres Arbeitsplatzes. Hier ist das Wort „Fotze“ schon ein indiskutables Tabu, egal, wie die Rahmung der Position aussieht, und sogar in Milieus, wo man das Wort erwartet, ist es höchst prekär und riskant. Der Satz AFaM ist schließlich gar nicht mehr satisfaktionsfähig.
… und „eingehegte Öffentlichkeit“
Vielleicht ergibt sich der von mir so empfundene Skandalcharakter daraus, dass hier sowohl gegen die Erwartungen an die Öffentlichkeit eines Ladens und Arbeitsplatzes sowie an die Geschlossenheit eines Ortes meiner geliebten Rollenspiel-Subkultur verstoßen wurde.
Ich möchte hier den Terminus der „eingehegten Öffentlichkeit“ einführen: Ein Ort, der in bestimmten Aspekten öffentlich ist (jede und jeder kann diesen Laden aufsuchen); in anderen Aspekten aber privat (vor allem darin, dass man hier eher unter seines- bzw. ihresgleichen ist). Und diese eingehegte Öffentlichkeit ist empfindlicher gegenüber Erwartungsbrüchen/Irritationen als sowohl die generelle Öffentlichkeit (die ja in sehr großen Schranken alles erwartbar hält) als auch als die Privatheit (wo man sich meistens z.B. über Medien wie Emotionen behilft, um Erwartungen zu managen).
Zusammengefasst, und mit den Worten einer Verlegerin, für die ich mal gearbeitet habe: „Das war sowas von jenseits.“
Gemeintsein und Handlungsoptionen
Ein weiterer Unterschied zur Straßenbahn: Dadurch, dass ich mich hier als einziger Zeuge nicht entziehen konnte und dass ich das hier Geschehende qua empfundener Zugehörigkeit zur Subkultur nur auf mich beziehen konnte, war ich unmittelbar gemeint. (Ein Gedanke übrigens, der sich mit vielen klassischen Sender-Empfänger-Modellen der Kommunikation eher schwer ausdrücken ließe.)
Außerdem gab mir die eingehegte Öffentlichkeit, etwa die Identifizierbarkeit des Personals und die Adressierbarkeit der Geschäftsführung, ein diffuses Gefühl von „Aktionsspielraum“. Und dieses habe ich genutzt:
Beschwerde und Reaktion des Ladens
Die erste kleine Beschwerde habe ich ja, noch recht aufgebracht, im Laden angemeldet. Das war mir dann aber nicht genug, und so tippte ich warenlos auf dem Heimweg eine Beschwerdemail. (Ich hätte lieber in einem neuen Buch geblättert.) Diese schickte ich keine Stunde nach dem Vorfall ab.
Hier lohnt es sich kurz, inne zu halten. Welche Erwartung kann man an diese erneute (und erst die zweite öffentliche, sogar die erste direkte!) Kommunikation knüpfen? Welche Strukturen und Erwartungsschemata stehen zur Verfügung?
- Einerseits die Erwartung an „zivilisierte Mitmenschen“, derartiges Verhalten gemeinsam abzulehnen – eine Solidaritätserwartung?
- Die Erwartung an ein Handels- und damit Wirtschaftsunternehmen, eventuellen Image-Schaden abzuwenden, indem es irgendwelche Maßnahmen ergreift?
- Vielleicht eine Erwartung, die nur enttäuscht werden kann – die Erwartung einer Rückversicherung, dass in Wirklichkeit alles in Ordnung ist?
Nach etwa 2 Stunden und einigen Gesprächen (s.o.) telefonierte ich der Mail nach und erreichte einen der Geschäftsführer, der schon informiert war. Er hatte bereits mit den Betreffenden gesprochen und sie zurechtgewiesen, mehr könne er nicht tun; was vermutlich ja auch stimmt: Es gibt nichts, was ich fordern kann, was mich versöhnen würde. Ich halte nichts von externen Forderungen nach arbeitsrechtlichen Sanktionen oder gar nach einer Gewissensprüfung – fast alle gebrochenen Erwartungen meinerseits beziehen sich ja darauf, dass ich eben vor allem kein Verhalten beobachten möchte, das mich in meinen Annahmen und Ansprüchen verletzt. Insofern hat er das einzige getan, was er tun konnte, und mir zugehört. Von einem der Beteiligten bekam ich auch eine Entschuldigungs-Mail.
[Positiv möchte ich anmerken, dass der Laden nicht versuchte, mich zu bestechen o.ä. Einer Organisation, die primär im Wirtschaftssystem operiert, wäre ja auch der Versuch zuzutrauen, das Problem umzucodieren und daraus ein wirtschaftliches zu machen. Allen Beteiligten schien aber implizit klar gewesen zu sein, dass es sich eben gerade nicht um eine Kommunikation innerhalb dieses Systems handelte, sondern um eine übergreifende (die ich der Einfachheit halber im übergeordneten System Gesellschaft verankern würde, obwohl ich vermute, dass ihre Position eigentlich einfach schwebend und unbestimmt ist).]
Was tun? Was nun?
Schwierig. Ich habe den Artikel dann wie gesagt nicht gekauft und inzwischen einfach bei Amazon bestellt. Solche Sprüche gibt es im dortigen Lager vermutlich auch, aber da muss ich mir das wenigstens nicht anhören. Vielleicht ist das aber auch schon wieder Verdrängung. Es ist schwierig.
Insgesamt bleibt ein Gefühl (!), dass das nicht hätte passieren dürfen. Die Normerwartung, der Anspruch, bleibt – wenn auch erschüttert. Aber es wurde hier ein Freiheitsgrad der Kommunikation eingeführt – menschenverachtende Kommunikationen in meinem Lieblingsladen –, der bislang für mich nicht einzufangen ist.
* Um welchen Laden es sich handelt, tut eigentlich nichts zur Sache. Den Bezug zur Comicwelt konnte ich ob der unter (offenbar zumindest partiell berechtigtem) Verdacht stehenden Nerd-Kultur aber schlecht weglassen.
** Ich beziehe mich hier lose v.a. auf das schon (gleichzeitig warnend und empfehlend) erwähnte Buch „Form und Formen der Kommunikation“ von Dirk Baecker. Aus diesem Buch stammt auch das Beitragsbild, S. 282.
3 Gedanken zu „Misogynie im Comicladen: Eine Soziologie der Emotionen“