Die dritte Woche: Kulturticket, Räume und Systemtheorie

Was mir beim Erstentwurf zu diesem Artikel auffiel: Es fühlt sich gar nicht nach der dritten Woche an. Einerseits ist alles noch so neu, dass es auch die erste oder zweite sein könnte; andererseits sind manche Wege, Orte und Ereignisse schon „Gewohnheit“, sodass ich auch „Woche Fünf“ glauben würde. Das nur als Anmerkung zur „Zeitwahrnehmung“ aus dem letzten Artikel.

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10 Tage in Thüringen und eine Stellwerkstörung

Nun war ich volle 10 Tage in meiner neuen Wahlheimat, inklusive Erkundungen in Jena und zweier Städtetrips. Ich habe ja ein bisschen Pendelerfahrung: Als ich 2013-15 bei Egmont in Köln gearbeitet habe, war ich dort immer Mo-Do, an den Wochenenden meist „daheim“ in München.

Zehntägige bzw. zweiwöchige Abwesenheiten kamen während der knapp 2 Jahre Pendelei damals aber kaum vor. Insofern ist das jetzt schon etwas ungewohnt und mir fehlen einige Menschen und auch Dinge, aber ein richtiges „Heimweh“ konnte ich nicht feststellen. (An echtes Heimweh erinnere ich mich eigentlich nur aus dem Schullandheim der fünften Klasse und die ersten Wochen in München 2012.) Vermutlich liegt das daran, dass hier doch recht viel los ist und war.

Stellwerkstörung …

Auf der Rückfahrt in die Heimat kam mir und anderen dann eine Stellwerkstörung (Fürth!!) in die Quere. Wir wurden eine halbe Stunde in Forchheim abgestellt, dann ging es weiter. Aber erstmal nur bis Erlangen. Insgesamt kam ich etwa 65 Minuten zu spät in Nürnberg an. Trotzdem alles immer noch besser als die planmäßig fünfstündige Pendelei 2013-15.

Donnerstags habe ich zum Glück immer ein frisches Lektürepensum, und mit einem systemtheoretischen Text über Social Interfaces (danke, Vince!) ging die Zeit recht gut rum. Zumal mich dann mit systemtheoretischer Brille das Meiste erheiterte:

  • die Frage nach den Anschlüssen, sowohl von Zugverbindungen als auch von Informationen über ebendiese und natürlich der Kommunikationen Mitreisender;
  • die Irritation der psychischen und sozialen Systeme durch die körperliche Welt;
  • das hilflose Lamento wider die Überkomplexität (erstmal im Sinne von „Nicht-Steuerbarkeit“);
  • und natürlich der verzweifelte Versuch, dieser Irritation mittels Kommunikation ‚Sinn‘ zu geben.

Ein bisschen ironisch ist es natürlich, dass ich es auch in meinem zweiten Studium trotz Ortswechsel nicht vermeiden kann, in Erlangen in einem Zug zu sitzen, der nicht losfährt …

… und Fahrgastrechte

Was ich zugeben muss: Der Prozess, eine Erstattung zu beantragen, ist deutlich einfacher geworden. Dank 65 Minuten Verspätung steht mir ja eine Erstattung zu (auch wenn ich keine Ahnung habe, in welcher Höhe – das Ticket hat ja eh nur um 20 Euro gekostet). Und inzwischen muss man dafür einfach nur das Ticket im Buchungssystem aufrufen und ein paar Daten eintragen. (Wobei hier mehr vorausgefüllt sein könnte: sowohl meine Bankverbindung als auch die Verspätung meines Zuges kennen die ja …)

Update 8.11.22: Die Erstattung belief sich auf 9 Euro und damit auf ein Viertel des Kaufpreises von 35,90. (Der lag deshalb so hoch, weil ich viel zu spät gebucht hatte, nämlich 6 Tage vor der Fahrt. Planungsschwierigkeiten am Anfang – künftige Fahrten sollten per se nur bei unter 15 Euro liegen.)

Lektüren & Veranstaltungen

Innerhalb meiner 10 Tage in Thüringen las und diskutierte ich Adorno, Kant, Derrida, Benjamin – das ist mir gerade fast ein bisschen zu philosophisch … Zum Glück gab es mit Texten zur Geschichte des Pietismus und mit Norbert Elias auch Abwechslung.

  • Elias fand ich überraschend lesbar und eingängig.
  • Bei Kant sind wir nun übrigens bei der ersten Formulierung des kategorischen Imperativs angekommen: „Ich soll niemals anders verfahren als so, dass ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“.
  • Weitere Zeugnisse aus dem 19. Jahrhundert zu Geschlechterrollen (lies: zur Rolle der Frau) stehen auf dem Plan, diesmal: die frühen Diakonien und ihre Diakonissen. Meiner generellen Vor-Verurteilung der Religion als
    • a) Herrschaftsinstrument zur Legitimation und Festigung bestehender ungerechter Verhältnisse (normativ-herrschaftskritisch formuliert) bzw.
    • b) gesellschaftliches System mit der Wirkung der Stabilisierung besagter Verhältnisse (neutral-funktionalistisch formuliert)
  • steht bislang leider noch nicht wirklich viel Material entgegen; ich hoffe ja noch darauf, ein unumwunden positives, dauerhaft emanzipatives Element in der Religionsgeschichte zu finden.
  • Zum Körper als Träger von Habitus (plural?) lesen wir diese Woche Bourdieu, darauf freue ich mich schon!
  • Außerdem kann ich, wenn ich denn Lust habe, Agnolis „Subversive Theorie“ sowie Derridas „Einsprachigkeit des Anderen“ weiterlesen, aber die Deadline hierfür ist erst in 2 resp. 4 Wochen.

Systemtheorie

Außerdem weiche ich schon von meinem eigentlichen Pensum ab, wie schon mehrfach angedeutet: Zurück in Nürnberg ging mein erster Griff ins Regal erstmal zu Dirk Baeckers „Form und Formen der Kommunikation“, um die systemtheoretische Lektüre zum Thema Körper fortzusetzen. Ich glaube, Systemtheorie steht in Jena nicht besonders oft auf dem Plan, also muss man sich da selbst helfen.

Generell kann ich dieses Buch sowohl gar nicht als auch sehr empfehlen: Ich lese es seit etwa 15 Jahren immer und immer wieder, entdecke laufend Neues und bin fern davon, die Denkweise durchdrungen zu haben. Das ist auch gut so, denn ich lasse mich einfach immer wieder gerne mit einer hochformalen, fast hermetischen systemtheoretischen Perspektive irritieren.

Räume finden ist nicht immer trivial.

Immer diese physische Welt, in der man den Körper von A nach B wuchten muss: Mittwochmorgen stolperte ich über das Klinikgelände an der Bachstraße auf der Suche nach dem neuen, größeren Raum meiner Ethik-Vorlesung. Irgendwie geriet ich dann zwischen (zu 100% maskierte) Medizinstudierende und wäre fast in den falschen Hörsaal gespült worden. Ich konnte mich aber aus der falschen Herde befreien und fand letztlich auf dem weitläufigen Hauptplatz meine eigene. Die Ortsbeschreibung „Der Raum befindet sich auf dem Klinik-Gelände im Gebäude gegenüber der Frauenklinik“ ist allerdings auch nur bedingt hilfreich, denn da sind diverse „gegenüberliegende“ Gebäude …

Nicht ans Fenster setzen!

Mark my words: Die neue Mehrklassengesellschaft wird sich ausdifferenzieren anhand der Sitzweite vom nächsten offenen Fenster. Es wird kalt. Mentale Notiz: Nicht ans Fenster setzen! Und am besten nur dann in die 8. Reihe setzen, wenn man die Brille dabei hat. Auch so etwas lernt man im Studium.

Kulturticket

Das Kulturticket ist toll: (Fast) alle Konzerte der Philharmoniker und (fast) alle Vorstellungen am Theater sind für Studierende kostenlos. Dafür muss man allerdings auch was tun: Man kann nämlich nicht einfach online buchen, sondern muss sich Karten an der Touri-Info am Markt holen – oder an der Abendkasse (wenn man darauf vertraut, dass die Vorstellung nicht zu stark nachgefragt sein wird).

Nachdem ich in zwei Wochen wieder übers Wochenende in Jena sein werde, dachte ich mir, ich probiere das mal aus. Momentan versuche ich in den begrenzten sozialen Räumen, die mir in Jena offen stehen, ein paar weitere Leute für „Leaving Carthago“ zu begeistern. Und prinzipiell finde ich auch das chorsinfonische Konzert interessant: Bach und Duruflé.

Der Zettelkasten

Die Obsidian-Lösung gefällt mir für den Uni-Betrieb weiterhin gut. Durch Einbettung von Abschnitten anderer Notizen sind die einzelnen Bereiche (Lektürezettel, Projektzettel, eigentliche Zettel) gut separierbar und es bleibt dennoch für den Praxisgebrauch übersichtlich. Allerdings vermisse ich nach wie vor die integration meiner 1200 Zettel in Daniel Lüdeckes zkn3 und habe fast immer auch den „alten“ Zettelkasten offen. Lösung pending.


Beitragsbild: Der Thüringer Kuschelkloß hat das mit der Außenseite der Form etwas zu wörtlich genommen.

8 Gedanken zu „Die dritte Woche: Kulturticket, Räume und Systemtheorie“

  1. Finde ich ja bemerkenswert, dass du in den ersten Wochen in München Heimweh hattest. Knuddel!

    Tja, das Bahnfahren hat so seine Tücken, mögest du weitgehend davon verschont bleiben!

    Antworten
  2. Mich fasziniert immer wieder deine Fähigkeit, Texte über die Jahre wiederholt aus dem Regal zu holen und intensiv zu lesen.

    Danke übrigens für den Obsidian-Tip – ich finde die Software sehr praktisch!

    Antworten
    • Das mit der Wiederlektüre passiert eigentlich nur mit Henscheid und Baecker 😀 Und wahrscheinlich zeichnet das Texte aus, zu denen man eine Resonanzbeziehung hat. (Bei Baecker spielt dabei definitiv die Unverfügbarkeit eine größere Rolle als bei Henscheid.)

      Viel Spaß mit Obsidian!

      Antworten

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